Lässt man vom Grazer Schlossberg aus den Blick schweifen, so fallen einem die dunkelroten Dächer in den Innenstadt-Bezirken sofort ins Auge. Doch nicht nur die Dächer in den einkaufsstarken Straßen sind dunkelrot gefärbt, auch die politische Landkarte hat am Sonntag in einem wahren Erdbeben ihre Couleur gewechselt. Mit 29 Prozent gelang der KPÖ in Österreichs zweitgrößter Stadt der Wahlerfolg.
Ihre besten Ergebnisse holten die Kommunisten just im Zentrum von Graz. Hier hatte Siegfried Nagl noch als Geschäftsführer des elterlichen Betriebes und später als Obmann der Grazer Innenstadt-Initiative mit einem Wechsel in die Politik geliebäugelt. 24 Jahre später hatte er an den Wahlkampfständen zwischen einer Swarovski-Filiale und dem Luxus-Uhren-Geschäft Weikhard immer wieder vor einer linken Mehrheit gewarnt, die seiner Ansicht nach dem Wirtschaftsstandort Graz massiv schaden würde. Nun wird voraussichtlich Elke Kahr gegenüber der Nobelgeschäfte im Grazer Rathaus im Bürgermeisterinnensessel Platz nehmen.
Kurswechsel in Richtung "ehrlicher Sozialpolitik"Ein besonderes Bild offenbarte sich am Wahlsonntag im Bezirk Gries, wo die KPÖ mit knapp 38 Prozent ihr bestes Wahlergebnis einfuhr. "Als ich aus dem Fenster sah, dachte ich zunächst an eine Hochzeit, dabei starteten ausgerechnet eine glückliche KPÖ und Grün-Wähler einen Hupkonvoi durch den Arbeiterbezirk", erzählt die Pädagogin Gerda Kainer. Auch sie hat Elke Kahr ihre Stimme gegeben, im Bund oder Land würde sie nie auf die Idee kommen, ihr Kreuz bei den Kommunisten zu machen. Graz ist aber anders: "Mit einer neuen Stadtregierung soll endlich ein verantwortungsvoller Umgang mit den Stadtfinanzen Einzug halten und eine neue Baupolitik geschaffen werden - Wohnraum muss auch in der Innenstadt wieder genutzt werden", sagt Kainer.
Schlendert man an den Nobelboutiquen in der Grazer Herrengasse vorbei und biegt auf die Sporgasse ab, so ist man schnell im dichten Gedränge einer bummelnden Masse. Hier hat ein Optiker seinen Standort. Im Geschäft sitzt Xaver Winkler. Er arbeitet neben seinem Studium in diesem Hipster-Brillen-Laden. Den überraschenden Wahlausgang verfolgte der 22-Jährige als Wahlbeisitzer: "Als die ersten Ergebnisse kamen, habe ich zuerst gezittert, dann geweint und dann bin ich im Minutentakt rauchen gegangen", erzählt Winkler nach wie vor euphorisch.
Mit dem voraussichtlichen Regierungswechsel ist für Winkler nun auch die Zeit gekommen, mehr soziale Gerechtigkeit an der Mur zu erreichen. "Ich erhoffe mir von einer neuen Bürgermeisterin ehrliche Sozialpolitik und ein Umdenken am Wohnungsmarkt - Stichwort: Mietendeckel und Leerstandsabgabe", so der Student. Für ihn wären die politischen Entwicklungen in Graz auch beispielgebend für einen Kurswechsel im Bund. "Ich würde mir eine starke SPÖ wünschen, die sich wieder auf soziale Werte statt innerparteilichen Streitigkeiten konzentriert - vielleicht dient die Grazer KPÖ hier als Vorbild."
Gegen die problematische Verkehrssituation der Stadt würde Winkler mit günstigeren Tickets für öffentliche Verkehrsmittel und einer Verkehrsberuhigung der Innenstadt vorgehen. Beides ist in den Wahlprogrammen von KPÖ, Grünen und SPÖ zu finden.
Die bürgerliche Hochburg wählte dunkelrotDie Sporgasse weiter rauf schlendernd, nach dem Paulustor ist man in Geidorf angekommen. Mit 30 Prozent hat die KPÖ in der einstigen bürgerlichen Hochburg der ÖVP Platz eins abgenommen. Neben dem Stadtpark und prunkvollen Villen, die teilweise aus dem 19. Jahrhundert stammen, beherbergt das Zentrum einstiger schwarzer Wahlerfolge auch die Karl-Franzens-Universität. Im Meerscheinschlössl der Hochschule hat Christian Promitzer sein Büro. Als der dunkelrote Balken am Sonntag in die Höhe schnellte, riss der Historiker seine Arme in die Luft. Seit 2006 ist Promitzer Mitglied des Bundesvorstands der Kommunisten, die Arbeit des ehemaligen Grazer Spitzenkandidaten Ernest Kaltenegger haben den Universitätsprofessor von den Grünen zur KPÖ überlaufen lassen.
Seine Erwartungen sind groß: "Mit Elke Kahr als Bürgermeisterin muss nun endlich das Problemfeld Wohnen weiter angegangen werden, eine Leerstandsabgabe muss her und Gemeindewohnungen müssen aufgestockt werden", so Promitzer. Eine solche Leerstandsabgabe wäre laut Kahr allerdings auf kommunaler Ebene nicht umsetzbar, sondern Landeskompetenz. Kahr hatte im Wahlkampf immer wieder Nagls ausufernde Baupolitik kritisiert. Nun will die KPÖ selbst bauen lassen, allerdings Gemeindewohnungen statt teurer Vorsorgewohnungen.
Derzeit sind besonders die ehemaligen Einkaufsstraßen am Glacis und die Annenstraße von leeren Geschäftslokalen mit sticken Staubschichten betroffen. Der wichtigste Wunsch des loyalen Wählers wäre, dass "die Stadt privaten Vermietern als Gegengewicht entgegenwirkt und das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen in der Stadt unter einem Dach vereint".
Wählerinnen und Wähler erwarten rasche ErgebnisseKoalitionspräferenzen hat Promitzer keine, viel lieber sehe er zunächst einen Budgetbeschluss über zwei Jahre, der sicherstellt, dass Graz sozialer wird. Das hatte die KPÖ bereits mit der ÖVP 2016/17 gewagt, ehe die Zusammenarbeit damals aufgrund des Baus des Murkraftwerks zerbrach. Die KPÖ hat es quer durch die Gesellschaft und quer durch die Bezirke geschafft, der Volkspartei den Rang abzulaufen.
Die Erwartungen sind nach dem Wahlerfolg nicht kleiner geworden, im Gegenteil: Elke Kahr muss als künftige Bürgermeisterin rasch liefern. Ihre Tür stand bisher immer allen offen. Nicht selten erhielten Notleidende, die um Hilfe baten, auch aus ihrer eigenen Tasche Geld. Die gewünschten Reformen am Wohnungsmarkt dürfte Kahr jedoch nicht mehr selbst finanzieren können. Auf dem Wahlergebnis ausruhen kann sie sich nicht. Kahr muss sich rasch vom bürgerlichen Schreckgespenst zur künftigen Bürgermeisterin aller Grazerinnen und Grazer mausern.