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Im Ernstfall vogelfrei

Richard Gutjahr, 46, war immer gerne freier Journalist. Er produzierte zunehmend Beiträge für seinen Blog und war so nicht mehr abhängig von Aufträgen der Redaktionen. Die "Zeit" und das Grimme Institut zeichneten seine Arbeit als wegweisend aus; das "Medium Magazin" ernannte ihn zum Journalisten des Jahres. Er gilt als Vordenker des digitalen Wandels im Journalismus.


In Nizza machte er 2016 am französischen Nationalfeiertag Urlaub mit seiner Frau und seinem Sohn und filmte das Feuerwerk. Als es beendet war, bemerkte er einen Lastwagen, der auf eine Menschenmenge zusteuerte. Gutjahr filmte den Terroranschlag. 86 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt, Tausende traumatisiert. Gutjahr berichtete 24 Stunden lang, im BR und in der ARD. Seine Bilder gingen um die Welt. Zurück in München war er eine Woche später in der Nähe des Olympia-Einkaufszentrums, als ihn seine Tochter anrief, die in der Umgebung wohnte, und von Schüssen erzählte. Wieder berichtete Gutjahr.


Verschwörungstheoretiker recherchierten, dass seine Frau Jüdin ist, dass sie in Israel ihren Militärdienst bei einer Geheimdienst-Einheit absolviert hat. Sie fanden seine Tochter im Internet - auch, weil sie sich zu Wort gemeldet hatte - und fortan beschimpften sie Gutjahr und seine Familie in bald mehr als tausend Videos als kriminellen Abschaum. Der Journalist stieg - wie er schreibt - vom "Mitwisser, zum Drahtzieher bis zum Mastermind" hinter diesen beiden Terroranschlägen auf. Sie warfen ihm wahlweise auch vor, die Anschläge seien nur inszenierter Staatsterror, von Gutjahr global verbreitet.


Die größte Enttäuschung: Intendant Wilhelm

Zunächst hielt er still, bis er merkte, dass die Angreifer keine Ruhe geben, dass ihre Hetze und ihre Morddrohungen nicht aufhören. Erst als er die Attacken öffentlich macht und ihre Wortführer juristisch angeht, wird es ruhiger. Gutjahr beschreibt, dass ihm der Intendant und seine Mitarbeiter wiederholt mitteilten, sie dürften ihn juristisch nicht unterstützen. Das sei für ihn die größte Enttäuschung der vergangenen Jahre gewesen, sagte er bei einem seiner Auftritte.


Armin Wolf, Moderator des ORF, kommentierte: Der offene Brief klinge "leider furchtbar ... Man würde hoffen, dass ein Sender mit fast 1 Mrd Budget einem seiner bekanntesten Mitarbeiter gegen Morddrohungen rechtlich beistehen kann." Claus Kleber, das Gesicht des ZDF-heutejournals, twitterte: "Wenn ein aufrechter und mutiger Journalist wie Gutjahr an seinem öff-rechtl Haus verzweifelt, ist das ein Alarmsignal, das keine Ruhe lässt. Er hat Solidarität i.S.d. Wortes verdient." Klaus Brinkbäumer, ehemaliger Chefredakteur des "Spiegel" beklagte, Wilhelm habe Gutjahr "fallengelassen. Geopfert. Den Löwen zum Fraß vorgeworfen."


Richard Gutjahr macht dem Intendanten schwere Vorwürfe: "Wie mir aus unterschiedlichen Quellen berichtet worden ist, haben Sie in den nicht-öffentlichen Sitzungen wiederholt die Unwahrheit gesagt bzw. das Kontrollgremium des Bayerischen Rundfunks in die Irre geführt. Man habe meine 'Prozesskosten beglichen', soll da behauptet worden sein (eine entsprechende Aussage ist auch im Sitzungs-Protokoll schriftlich festgehalten). Dass das in Wahrheit meine private Rechtsschutzversicherung getan hat, die mir nach einem Jahr kündigte, wurde verschwiegen." Entgegen einer angeblichen Behauptung habe sich Wilhelm nie bei ihm entschuldigt.


Trifft das zu? Der BR dementierte die Vorwürfe. Die Geschäftsleitung und der Vorsitzende des Rundfunkrates hätten sich "in den letzten drei Jahren mehrfach und intensiv mit allen Facetten des Falles beschäftigt", hieß es. Gutjahr habe finanzielle Hilfe erhalten. Die wiederkehrende öffentliche Kritik von Gutjahr enthalte "keine neuen Aspekte und ist im Kern nicht zutreffend". Insbesondere weise man den Vorwurf der Lüge und Täuschung durch den Intendanten strikt zurück. Wo Gutjahr ins Detail geht, bleibt die Stellungnahme oberflächlich.


Lorenz Wolf, Vorsitzender des BR-Rundfunkrates, stützt den Intendanten und betont gegenüber Kontext: "Der Intendant hat ausweislich der Protokolle nie behauptet, dass der BR alle Prozesskosten getragen habe, sondern nur, dass der BR Herrn Gutjahr u.a. auch finanziell unterstützt hat. Im Jahr 2018 wurde im Rundfunkrat einmal der Hinweis gegeben, dass der BR Prozesskosten beglichen habe, deren Übernahme die Rechtsschutzversicherung von Herrn Gutjahr abgelehnt habe." Der Rundfunkrat habe sich in seinen Ausschüssen und im Plenum im Rahmen seiner Aufsichtsfunktion mehrfach mit dem Fall beschäftigt, so Wolf. Wird er nun darauf dringen, dass die offenen Fragen aufgeklärt und öffentlich werden?


Wer wird noch kritisch über die AfD berichten?

Rechte Hetze und der Umgang der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender damit und mit angegriffenen Mitarbeitern bewegen seit der Empörung über das "Oma Umweltsau"-Lied plötzlich die Republik. Dabei ist das Oma-Lied ein Sturm im Wasserglas. Der eigentliche Skandal ist der Umgang des BR mit Richard Gutjahr, vor allem auch, weil er gefährliche Signale an die eigenen Mitarbeiter und an die Öffentlichkeit sendet. Welcher Mitarbeiter wird noch kritisch über die AfD und rechtsextreme Gewalt recherchieren, wenn der Sender ihn nicht gegen Angriffe verteidigen mag? Wer glaubt noch einem hochbezahlten Intendanten und dessen Anstalts-Verantwortlichen, wenn man eigene Mitarbeiter bei ernsten Drohungen grundlos im Stich lässt?

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