Venedig wird pro Jahr von 30 Millionen Touristen geflutet. Den Zauber der Stadt zu spüren, ist angesichts der Urlaubermassen kaum noch möglich. Doch es gibt einen Weg - unsere Autorin hat ihn getestet.
Tagtäglich strömen bis zu 130.000 Besucher durch Venedigs Gassen, gefühlt habe ich gestern jeden einzelnen getroffen. Deshalb versuche ich es heute mit antizyklischem Reiseverhalten: Ich stelle den Wecker auf 4.30 Uhr und verlasse mein Hotelzimmer gegen 5 Uhr morgens noch vor Sonnenaufgang.
Hoffentlich haben nicht so viele andere Venedig-Touristen dieselbe Idee und stehen schon jetzt am Markusturm Schlange, denke ich. Ich kann noch nicht so recht glauben, dass es venezianische Gassen ohne Touristenhorden gibt.
Der Schritt durch den Hotelausgang zeigt: Die Gasse ist komplett leer. Erleichtert gehe ich Richtung Rialtobrücke. Hier überholt mich ein Jogger, dort fährt ein Milchmann per Boot übers Wasser, reicht einem Café-Betreiber weiße Kanister.
Eine junge Frau kommt mir entgegen, sie trägt Jeans und Bluse, beides in Schwarz. Vielleicht ist sie Kellnerin oder arbeitet in einem Hotel. Ansonsten: Alles leer. Keine Reisegruppen, keine Rucksacktouristen, keine Taubenfutterverkäufer. Ich habe Venedig quasi für mich allein. Herrlich!
Um 5 Uhr morgens Gruselgeschichten an der RialtobrückeDie Leere und die frische Morgenluft entspannen mich. Weiterer Pluspunkt: Nerviges Schiffsmotorengeknatter gibt es nicht. „Rialtobrücke nach links" sagt der gelbe Wegweiser an einer Hauswand. Dort angekommen, ungefähr um 5.15 Uhr, begegne ich erstmals einer Handvoll Touristen.
Oh nein! Geht der Massentourismus wirklich schon so früh los? Mit Rollkoffern überqueren sie eilig die Steinstufen Richtung Bahnhof, sie reisen wohl gerade ab und stören also nicht weiter. Glück gehabt.
Die Souvenirläden sind noch geschlossen. Weit und breit keine Masken-Verkäufer. Nur die jetzt wieder leere Brücke. Und die Morgendämmerung. Ein gutes Gefühl. Die Audiotour-Stimme auf meinem Handy erzählt von Legenden der Stadt. Die Seele eines Kindes soll in der Rialtobrücke gehaust haben. Gruselig.
Richtig dunkel ist es inzwischen nicht mehr. Ein wenig unheimlich finde ich Venedig trotzdem. Was, wenn ich in den schummrigen Gassen die Orientierung verliere? Oder einem Kriminellen begegne? Ich schiebe den Gedanken beiseite und gehe am Wasser weiter.
„Einzigartig machen den Canal Grande vor allem die insgesamt 350 historischen Bauten, die ihn zu beiden Seiten umsäumen", erzählt der Audioguide. Ich bestaune ungestört Wohnhäuser mit bröckelnder Fassade und prunkvolle Paläste. Frisch lackierte Holztüren und dunkelrote Blumen, die von Balkongeländern hängen.
Von Zeit zu Zeit bleibe ich unvermittelt stehen, wenn ich etwas entdecke, und staune vor mich hin, ohne angerempelt zu werden. Ich weiß das in diesem Moment noch gar nicht richtig zu schätzen. Wenige Stunden später werde ich die Möglichkeit vermissen.
Auf dem Markusplatz eine Ahnung vom Zauber VenedigsDurch eine Gasse, an geschlossenen Läden vorbei, gehe ich in Richtung Ponte dell'Accademia. Um 5.46 Uhr überschreitet die Sonne den Horizont. Sie hüllt den Canal Grande in einen Goldschimmer, spiegelt sich in den Fenstern der Kirche Santa Maria della Salute. Ein typisches Postkartenmotiv.
War ja klar: Zwei Fotografen haben vor dem Gotteshaus Stative aufgebaut, um die schöne Szene einzufangen. Touristen sind zum Glück noch keine da, außer mir. Eine Möwe fliegt über die Brücke, ein Boot zieht Wellen im Wasser. Hier und jetzt verstehe ich, warum Menschen Venedig romantisch finden. Ich sehe den Zauber, den die Stadt verbreiten kann - zumindest als Momentaufnahme.
Die Audioguide-Route sieht als Nächstes den Markusplatz vor. Ein Fußweg von 13 Minuten. Erneut über leere Wege schlendern, hübsche Altbauten betrachten, mit Türklingeln mit Gauklerköpfen. Mich gruselt nun nicht mehr; das Spiel aus Licht und Schatten vertreibt den Spuk aus den Gassen.
Dann betrete ich den Markusplatz. Ein Dutzend andere sind bereits da, doch sie verlieren sich auf den gut 14.000 Quadratmetern. Zwei Brautpaare posieren vor dem Markusdom, zwei Fotografen lichten sie ab. Die Brautkleider, eines weiß, eines golden, fügen sich gut in die Kulisse. Eine Foto-Assistentin vertreibt mit großen Armbewegungen die allgegenwärtigen Tauben. Das andere Paar bleibt umgeben von einer Vogelschar.
Blick von der Seufzerbrücke auf das erste KreuzfahrtschiffIch gehe quer über den Platz. Ein Müllmann mit gelber Reflektorhose kreuzt meinen Weg. Er fegt den Boden, entfernt den Abfall, den die Touristen am Vortag zurückgelassen haben. „Nächster Stopp: Seufzerbrücke" sagt das Handy. Den Markusturm lasse ich rechts liegen, denn er ist noch geschlossen.
Es ist jetzt 6.40 Uhr. Noch steht dort niemand an. Aber je näher ich der Seufzerbrücke komme, desto mehr Touristen begegnen mir. Ich kann sie aber noch an zwei Händen abzählen. Ein Kreuzfahrtriese wird gerade in den Hafen geschleppt. Hunderte Menschen an Bord schauen neugierig auf Venedig. Sie freuen sich auf ihren Landgang.
Doch mit ihrer Reise gefährden sie die Stadt. Die von den Kolossen verursachten Wellen schaden der Bausubstanz. Und die Passagiere lassen kaum Geld in der Lagunenstadt - sie schlafen und essen ja an Bord.
Da die Unesco gedroht hat, Venedig den Weltkulturerbe-Titel abzuerkennen, sollen Kreuzfahrtschiffe bald nur noch am Festland anlegen dürfen. Gute Idee, finde ich.
Innerhalb weniger Minuten hat sich die Zahl der Menschen an der Seufzerbrücke verdoppelt. Etwa ein Dutzend Jogger, alle in grünen Trikots, sprintet vor mir die Aussichtsbrücke hinauf. Ein venezianisches Boot fährt darunter hindurch.
Der Gondoliere trägt ein weißes Shirt. Sein gestreiftes Oberteil liegt auf der Sitzbank. Fährt er zur Arbeit? Oder zum Einkauf? Samstagsmorgens besorgen Venezianer auf dem Rialtomarkt Gemüse und Fisch.
Wer früh wach ist, kann den Markt besuchen, sagt der Audioguide. Passt! Ich lasse mich dorthin navigieren. Finde etliche Stände, farbenfroh und einladend, direkt am Wasser. Venezianer sehe ich allerdings keine. Dafür mehr und mehr Touristen.
Um kurz vor acht ist es mit der Stille vorbei, ein dauerhaftes Gemurmel breitet sich in den Gassen aus. Ich fliehe in das nächstbeste Café. Bestelle Espresso und Cornetto. Außer mir sind hier nur Venezianer zu sehen.
Auf Schleichwegen geht es zurück zum HotelInzwischen ist es 8.15 Uhr. Ein letzter Punkt auf der Bucketlist bleibt: Venedig von oben. Um nicht lange anstehen zu müssen, habe ich ein „Skip the line"-Ticket gekauft, online und weit im Voraus. Kostet ein paar Euro, schont aber die Nerven.
Eine halbe Stunde später stehe ich oben auf dem Markusturm. Doch die Plattform ist zum Bersten voll - allein um an eines der Turmfenster zu gelangen, muss ich drei Minuten warten. Schnell ein Foto, kurz Dächer und Kirchtürme anschauen, schon schiebt die Touristenmasse hinter mir mich unerbittlich weiter.
Auf dem Markusplatz haben inzwischen die großen Souvenirstände aufgemacht, die Tische und Stühle der Cafés sind voll besetzt, und im Hafen legt gerade das zweite Kreuzfahrtschiff an. Es ist kurz vor 9 Uhr. Um wieder den Lift nach unten zu nehmen, stehe ich fast zehn Minuten an.
Auf Schleichwegen gehe ich zurück zum Hotel. Begegne ich Touristengruppen, biege ich ab. Sehe ich Geschäfte, biege ich ab. Das funktioniert: Abseits der touristischen Rennstrecken ist kaum etwas los.
Im Hotel checke ich aus, schlage mich im Zickzack zum Bahnhof durch, setze aufs Festland über - und kann jedem Venedig-Besucher nur raten, vor Sonnenaufgang aufzustehen. Nur ganz früh morgens ist die Stadt erträglich, nach neun Uhr verwandelt sie sich in einen überfüllten Freizeitpark.
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