Bei Wind und Wetter harrten sie auf ihren Türmen aus und hielten Ausschau nach Feinden und Bränden, machten Musik und gaben die Zeit an. Am Ende wurden sie, die „höchsten Beamten", eingespart. Heute tragen moderne Türmer ihre Fackel weiter und lassen ihre Signale in der Nacht hören.
Nach und nach stiegen die beiden Kuchenbleche in die Höhe. Unten stand der Bäcker, der sie kurz zuvor aus dem Ofen geholt hatte. „Wir zogen langsam und vorsichtig", erzählte Johann Münch seinem Zuhörer. „Die Kuchen waren schon über dem Dach der Vorhalle droben, da trieb sie der Wind hinüber zum Südturm." Die Vorrichtung aus Seilen hatte sich der Stadttürmer selbst ausgedacht, um wie alle anderen Bayreuther zum Erntedankfest seinen Zwetschgenkuchen essen zu können. Doch in etwa 25 Metern Höhe kippten die schwankenden Bleche. Das in die Stadtgeschichte eingegangene Zwetschgenkuchen-Drama von Bayreuth nahm seinen Lauf. Während Münch und seine Frau oben jammerten, balgte sich unten lachend die Stadtjugend um die Reste des Kuchens.
Johann Münch, der Türmer der Stadtkirche Heilige Dreifaltigkeit in der oberfränkischen Festspielstadt, erhielt für seinen Kuchen noch Wochen nach dem Unglück Ende September 1911 schriftliche Trauerbekundungen von nah und fern. „Aus München, Berlin, Prag, ja aus Amerika", so berichtete später der Heimatpfleger Professor Karl Meier-Gesees, „bezeugte man dem ‚höchsten' Beamten der Stadt Bayreuth das Beileid."
TürmerstubenbesucheMeier-Gesees war im November 1932 auf einen letzten Besuch beim alten Türmer. Einige Wochen später sollte Münch nach rund 25 Dienstjahren in den Ruhestand versetzt werden. Damit endete eine fast 500-jährige Tradition in der Stadt. Seit 2013 laden aber wieder Turmführer in die im Stile der 1930er Jahre eingerichtete Türmerstube im Nordturm der um 1370 gebauten spätgotischen Kirche.
Pfarrer Dr. Carsten Brall öffnet die schwere Holztür und führt auf den Wegen des alten Türmers die Treppe hoch durch den Nordturm zum Querbau. Von dort geht es zu einer Wendeltreppe im Südturm, vorbei an den Glocken und insgesamt 156 Stufen nach oben. Dann tritt man aus einer kleinen Tür nach draußen auf eine steinerne Brücke, die die 50 Meter hohen Türme verbindet.
„Das war hier der Arbeitsplatz der Familie Münch", erklärt Brall und deutet auf die Aussicht. „Da drüben das Fichtelgebirge und hier geht es hoch in die Fränkische Schweiz." Im unteren Teil der Türmerstube liegt die Schlafkammer, in der Münch, seine Frau und ihre beiden Kinder in Schichten schliefen. Denn die Türmerei war oft ein Familienbetrieb, alle mussten helfen. Trotzdem war das Gehalt des Türmers bescheiden. Deswegen findet sich oben ein Arbeitsraum, in dem sich früher „Esstisch, Kachelofen, Sofa, Regale, Kakteenständer und Werktisch" befanden, wie Meier-Gesees beschreibt. Münch war Schuster und Puppenmöbelbauer, Handwerke, die man gut auf engem Raum verrichten konnte.
Eine Toilette oder gar Badezimmer sucht man vergeblich. Der erste Türmer, der 1448 in den Kirchturm einzog, durfte diesen nur alle 14 Tage für ein Bad verlassen. Die Notdurft wurde in einem Eimer gesammelt und über die Seilwinde nach unten gelassen. Aus der oberpfälzischen Stadt Cham sind Beschwerden gegen einen Türmer bekannt, der der Einfachheit halber nachts vom Turm seinen „Leibstuhl auf öffentlichen Kirchenweg" schüttete.
„Man möchte nicht in einer frühneuzeitlichen Stadt gewohnt und geatmet haben", sagt Brall hoch über Bayreuth, „das muss ziemlich gestunken haben." Doch durch die frische Luft hier oben war der Turm „hygienisch gesehen kein schlechter Ort".
Wenn man an der Brüstung weitergeht und die Türmerstube umrundet, sieht man auf der anderen Seite die wohl bekannteste Erhebung Bayreuths, den Grünen Hügel, auf dem das Festspielhaus steht. Im alten Gästebuch, das Münch den Besuchern, die ihn auf- und vor allem den Ausblick suchten, finden sich einige weit angereiste Wagnerianer, etwa aus der Türkei und Japan.
Menschliche FeuermelderEntstanden ist der Berufszweig der Türmer in den Städten des Hochmittelalters. Weite Verbreitung fand er insbesondere in Mitteleuropa. Er unterscheidet sich von den militärischen Wachposten auf mittelalterlichen Wehranlagen vor allem dadurch, dass er in den Städten zu einem eigenständigen Ausbildungsberuf wurde. Die Hauptpflicht der Türmer galt dabei dem Brandschutz.
Da sich die Städte aufgrund der sie umgebenden Stadtmauern kaum weiter ausbreiten konnten, die Bevölkerung aber wuchs, verdichtete sich der Wohnraum. Die Brandgefahr in mittelalterlichen Städten war enorm hoch, vor allem aufgrund der vorwiegenden Holzbauweise und der Verwendung von offenem Feuer in Werkstätten, Küchen sowie zum Heizen. Dazu kam die mangelnde Löschvorsorge. In vielen Regionen waren die Bürger verpflichtet, einen Löscheimer in der Wohnung zu haben und bei Bränden zu helfen, sobald der Ruf ertönte. Türmer waren sozusagen menschliche Feuermelder.
Sie wachten oft auf Kirchtürmen, aber auch auf anderen erhöhten Gebäuden, wie etwa Schloss-, Rathaus- oder Stadttürmen. Der Blaue Turm in Bad Wimpfen und der Rote Turm in Kulmbach - beide von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD) gefördert - sind Beispiele für solche bewohnten Wehrtürme.
Die Türmer mussten durch Glockenschlag und ein Signalhorn auf Gefahren aufmerksam machen. Bei Feuer hängten sie tagsüber eine rote Fahne in die Richtung, in der das Feuer brannte, nachts taten sie dasselbe mit einer Laterne.
In vielen Stadtchroniken liest man von großen Bränden. In Bayreuth wurde 1605 und 1621 dabei zweimal die Stadtkirche zerstört. Spuren des Feuers wurden 400 Jahre später sichtbar. Denn die Hitze hatte zu Schäden am Sandstein geführt, wodurch seit 2006 eine Grundsanierung nötig wurde, bei der auch die DSD half.
Gefahren auf dem TurmDass die Türmer selbst von Bränden bedroht waren, zeigte sich 1918 in Bayreuth, als aus heute unbekannten Gründen die Orgel Feuer fing. Durch die verrauchten Türme musste sich die Familie Münch in Sicherheit bringen. Auch Blitzschlag war eine Gefahr. In ihrem Tagebuch berichtet Henriette Feuerbach, die Stiefmutter des bekannten Malers Anselm Feuerbach, dass 1843 ein Blitz in den Freiburger Münsterturm schlug und eine Steinrose zerschmetterte. „Der Türmer lag zwei Stunden ohnmächtig von dem furchtbaren Donnerschlag."
Das oft als „schönster Turm der Christenheit" beschriebene Münster war ein unwirtlicher Ort. Eine Fotoserie zeigt den Türmer Simon Baldinger (1825-1919) in dickem Schaffellmantel, Mütze und gefütterten Filzstiefeln in seiner Türmerstube. Hier tat er mit weiteren Türmern über ein halbes Jahrhundert Dienst. Zeitweise war der 116 Meter hohe Turm, der nach seiner Fertigstellung 1330 lange Zeit zu den höchsten Bauwerken der Welt gehörte, vom Einsturz bedroht. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz unterstützt seit 2003 kontinuierlich die Instandhaltung der gotischen Maßwerkkonstruktion.
Im Hintergrund eines der Fotos mit Baldinger sieht man das lange Blechsprachrohr, mit dem er und seine Kollegen bei Gefahr die Bürger der Schwarzwaldmetropole warnten und sich mit dem Nachtwächter auf dem Münsterplatz verständigten. Unten in den Straßen war dieser der Konterpart des Türmers. Beide galten mit ihren Rufen als nächtliche Ruhestörer. Der Türmer war außerdem ähnlich wie der Müller (siehe unsere Kulturgeschichte der Mühle) für die mittelalterliche Stadtgesellschaft eine obskure Figur: Beide lebten weit weg von den Mitmenschen. Der eine draußen beim Bach oder auf dem Hügel, der andere oben auf dem Turm. Zudem mussten sie oft nachts arbeiten, um zu wachen oder aufkommenden Wind zu nutzen.
Dabei verrichteten die Türmer außer der überlebensnotwendigen Brandwache noch viele weitere wichtige Arbeiten für die Gemeinde. Zu ihren Pflichten gehörten je nach Ort und Epoche: das Blasen des Horns sowie das Schlagen der Glocke als Zeit-, Warn- und Wachsignal; das Choralblasen vom Turm sowie das öffentliche Musizieren; das Richten der Kirchturmuhr nach der Sonnenuhr; das Treten des Orgelbalgs sowie viele weitere Hilfsarbeiten. Für die Erledigung seiner zahlreichen Aufgaben hatte der Türmermeister neben seiner Familie auch noch Gesellen und Lehrlinge, mit denen er sich den wenigen Wohnraum im Turm teilte.
Moderne TürmerUnter Fachleuten ist es umstritten, ob Türmer als städtische oder kirchliche Bedienstete im Mittelalter eigene Zünfte besaßen. Heute steht Johannes Thier als Zunftmeister den Europäischen Nachtwächtern und Türmern vor. „Wir listen 20 Türmerorte", erklärt Thier, „davon sind 15 in Deutschland." Nur einige wenige dieser Türmer wohnen auch an ihren Arbeitsstätten, und in ganz Deutschland kennt Thier nur noch eine einzige Türmerfamilie. Der ehemalige Bankkaufmann, der selbst als Nachtwächter und Touristenführer im niedersächsischen Bad Bentheim arbeitet, erklärt, dass moderne Türmer im Gegensatz zu Nachtwächtern kein besonderes „Dienstkleid tragen" müssen.
Die zünftigen Türmer im schwäbischen Nördlingen tragen Tracht vor allem zu Fototerminen. Sie lassen ihr „So G'sell so" auch in Räuberzivil vom Daniel, dem Turm der Sankt-Georgskirche, ertönen. Mit dem Ruf wurde früher das Schließen der Stadttore verkündet und kontrolliert, ob die Torwächter, die Niedertürmer, auf ihrem Posten waren. Thier betont, dass „Türmer aber nur der sein kann, der seine Tätigkeit auf einem Turm ausübt" und regelmäßig von dort Signale oder Choräle bläst.
Der Aspekt des Musikalischen ist tief verankert in der Türmerei. In manchen Städten wurden im Mittelalter fahrende Spielleute als Türmer angeworben. Das Musizieren war dabei auch eine Gelegenheit, sich ein Zubrot zu verdienen. So entwickelte sich der Türmer zum Stadtpfeifer und Stadtmusikanten. Heute blasen auf dem Hamburger Michel noch regelmäßig zwei Türmer Choräle.
Zwei der bekanntesten musikalischen Nachkommen von Türmern finden sich aber in der Oberpfalz. Dort auf dem Blasturm in Schwandorf wurde 1812 der Komponist der Bayernhymne geboren, Max Kunz. Einige Kilometer weiter südlich in Parkstein lebte die Großmutter von Richard Strauß als Tochter und Schwester eines Türmers. Musikalisch stark ist auch die Türmerin in Münster, Martje Thalmann, die seit 2014 halbstündlich zwischen 21 Uhr und Mitternacht vom Turm der Sankt-Lamberti-Kirche tutet. Wie sein Vorbild, das Freiburger Münster, wird auch dieser 90 Meter hohe neugotische Turm von der DSD gefördert.
Durch verbesserte Feueralarmsysteme, Straßenbeleuchtung, vermehrte Steinbauweise und die Einführung von Berufsfeuerwehren wurden die Türmer nach und nach eingespart. In Bayreuth bekam der Türmer noch 1885 das erste Telefon der Stadt, das Feuer-Telephon zur Brandwache, doch sollte auch Johann Münchs Stelle bald wegfallen. Er durfte nach seiner Pensionierung noch auf dem Turm bleiben, starb dort jedoch schon zwei Jahre später. Eine Gravur am Südturm erinnert heute an ihn, den letzten Türmer von Bayreuth.
Stephan Kroener