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Kein Halt, nirgends - Wie sich die Unsicherheit in unser Leben frisst

Der Markt schafft enormen Reichtum, aber keine Sicherheit. Und doch könnte diese Gewissheit dabei helfen, das globale Leben neu zu organisieren


Ende Juni hatte Österreichs Finanzminister Gernot Blümel etwas zu feiern: Seine Regierung lieh sich an den Finanzmärkten zwei Milliarden Euro für nicht einmal 0,9 Prozent Zinsen - rückzahlbar in 100 Jahren. Dass Anleger einem Land über ein Jahrhundert ihr Geld anvertrauen, spricht eigentlich dafür, dass sie sich in Sicherheit wiegen. Schließlich kann bis zum Jahr 2120 viel passieren - seit 1920 ist ja auch viel geschehen. Tatsächlich aber ist es umgekehrt: Da die Unsicherheit derzeit extrem groß ist, „ist der Appetit der Anleger auf sichere Erträge riesig", erklärt der österreichische Ökonom Philipp Heimberger. Dafür sind Sparer sogar bereit, sichere Verluste hinzunehmen. Denn der Zins von 0,9 Prozent dürfte unterhalb der Inflationsrate liegen. Sicherheit wird immer teurer.


Nicht nur an den Finanzmärkten, in der ganzen Wirtschaft ist sie Mangelware geworden. Laut Wikipedia bezeichnet Sicherheit einen Zustand des Nicht-bedroht-seins, sie bezieht sich auf die Zukunft und braucht Vorhersehbarkeit, Beherrschbarkeit. Darum aber ist es schlecht bestellt. Nicht erst seit Corona lösen sich vertraute Zustände langsam auf. Die Einkommen werden unsicher, ganz gleich, ob es sich um Löhne, Gewinne, Renten oder Finanzerträge handelt - oder um die Gesamtheit der Einkommen, das Bruttoinlandsprodukt.

Die Hälfte der Bürger befürchten einen Verlust ihres Ersparten

Das greift auf das Lebensgefühl über, und zwar über alle Generationen hinweg: Die Wochenzeitung „Die Zeit" sah schon vor zwei Jahren eine „Generation Spießer" heranwachsen, denn zwei Drittel der Uni- und FH-Studenten erwarteten von ihrem künftigen Job vor allem Sicherheit. In einer Umfrage des Personaldienstleisters Univativ war die Aussicht auf einen festen Job und ein geregeltes Gehalt für 58 Prozent der Befragten der entscheidende Faktor bei der Wahl des Studienfachs.


Die Elterngeneration auf der anderen Seite scheint die früher gängige Hoffnung aufgegeben zu haben, dass ihre Kinder es einmal besser haben werden. Nicht zu unrecht: Laut einer Studie des globalen Beratungsunternehmens McKinsey kam der Trend einer steten Verbesserung der Lebensumstände „zwischen 2005 und 2014 zu einem abrupten Halt". Selbst auf Erspartes kann man sich nicht mehr verlassen. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa zufolge befürchten derzeit 42 Prozent aller Bundesbürger einen Wertverlust ihres gesparten Geldes. Unsicherheit als „Gefühl unserer Zeit", darüber hat der Hirnforscher Achim Peters ein Buch geschrieben. Früher, so Peters, sei dies vor allem ein Problem der Armen gewesen. „Heute aber sind fast alle Menschen davon betroffen." Selbst Wohlstand beruhigt nicht mehr.


Die Unsicherheit hat das gesamte System infiziert. Wirtschaftskrisen folgen immer schneller aufeinander und werden durch immer neue Schulden aufgefangen, die eine Hypothek auf die Zukunft sind. „Wirtschaftsräume hängen zunehmend davon ab, über Schulden die Wirtschaftstätigkeit aufrecht zu erhalten", stellt Robin Brooks vom Internationalen Bankeninstitut IIF fest. Das schürt die finanzielle Unsicherheit. „Und die finanzielle Unsicherheit verstärkt wiederum die Unsicherheit bezüglich des Wachstums", erklärt Patrick Artus, Chefökonom der französischen Bank Natixis.


Die Versprechen des Liberalismus wurden nicht eingelöst

Damit wird laut Artus schrittweise deutlich, dass die Versprechen des Liberalismus nicht eingelöst worden sind. Gemäß liberalem Weltbild wurden die Märkte befreit von Bürokratie, von Steuern, gesetzlichen Schranken und nationalen Grenzen. Ergebnis sollte ein wachsender Reichtum sein. Dieser Reichtum ist zwar entstanden, doch er hat gleich zwei Haken: Er verteilt sich sehr ungleich. Und er scheint zunehmend prekär geworden zu sein. Die vergangenen Krisen haben gezeigt, wie schnell er sich in Luft auflösen kann. Für das einzelne Individuum - und als Gesamtheit.


Das erhöht den Druck. Die Ängste wachsen nicht nur bei jenen Millionen Arbeitnehmern, die in sogenannten „atypischen Arbeitsverhältnissen" tätig und zum Teil als „Prekariat" bekannt geworden sind. Sondern auch in den Kernbelegschaften. Paradebeispiel ist die Autoindustrie. Über Jahrzehnte war sie „Eckpfeiler des deutschen Wirtschaftsmodells, heute steht sie unter enormem Veränderungsdruck", erklärt der Jenaer Arbeitssoziologe Klaus Dörre. Globaler Kauf und Verkauf ermöglichten enorme Produktivitätszuwächse und Gewinne. Inzwischen aber ist der Weltmarkt überfüllt, selbst in China geht der Absatz tendenziell zurück. Dazu kommen die Digitalisierung des Fahrzeugs wie auch neue Antriebsformen, die der Klimaschutz erzwingt. Damit steht das gesamte Geschäftsmodell der Branche auf dem Spiel, die Karten werden neu gemischt. „In den Belegschaften wachsen die Sorgen um die Zukunft", so Dörre.


„Was wird dann aus mir, wenn überall Roboter eingeführt werden?"

Der Soziologe hat sich bereits vor der Corona-Krise in der ostdeutschen Autoindustrie umgehört und mit Betriebsräten gesprochen. In ihren Sorgen spiegeln sich die großen Entwicklungen, zum Beispiel Automatisierung: „Wir haben jetzt eine automatisierte Montagezelle bekommen, in der ein Roboter die Welle nimmt und in die Zelle einlegt", erzählt ein Betriebsrat. Die Montagezelle könne so umgebaut werden, dass nach der Automatisierung von heute vier Mitarbeitern nur noch einer nötig wäre. „Was wird dann aus mir, wenn überall Roboter eingeführt werden? Wer sagt mir, welche Qualifikation ich in Zukunft brauchen werde?"


Die Elektrifizierung des Antriebsstrangs - ein wesentlicher Schritt, um die Klimaziele zu erreichen - wird zur existenziellen Bedrohung. „Alles, was wir hier haben, hängt zu 100 Prozent am Verbrenner", klagt ein anderer Betriebsrat. Natürlich könne man mit dem CO2-Ausstoß nicht so weitermachen wie bisher. „Das sehe ich individuell so, aber nicht für den Betrieb hier, nicht für die Industrie hier." Diese Widersprüche gebären neue Verteilungskämpfe. Überall auf der Welt entstünden neue Auto-Fabriken, auch E-Fabriken - „da wachsen Überkapazitäten in den Himmel. Wenn wir verzichten, profitieren andere - wer sorgt sich um die Zukunft der Industrie hier?"


Als erstes trifft es die Prekären, die Leiharbeiter

BMW, Daimler und Volkswagen bauen derzeit Tausende von Jobs ab. Als erstes trifft es die Prekären, die Leiharbeiter: Ihre Verträge werden nicht mehr verlängert. Als nächstes ist die Kernbelegschaft dran: Ein internes Schulungspapier bei Daimler ruft Führungskräfte dazu auf, Druck auf Mitarbeiter auszuüben, damit sie Daimler verlassen, berichtet die Stuttgarter Zeitung. Wer sich weigere, dem solle die Botschaft übermittelt werden, es könne sein, dass sich „alles für dich verändert. Dann musst du in Zukunft sehen, wie du mit dieser Unsicherheit im beruflichen Umfeld umgehen kannst".


Die Warnzeichen sind überall zu erkennen - nicht nur beim Auto, nicht erst seit gestern. In Deutschland ging die Tarifbindung - zentraler Hebel zur Sicherung von Löhnen und Arbeitsbedingungen - in der Privatwirtschaft Westdeutschlands von 66 auf 41 Prozent zurück, im Osten von 48 auf 28 Prozent. In den Ländern der OECD-Gruppe, also in den Industrieländern, hat sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad seit 1980 von 33 auf knapp 17 Prozent der Belegschaften fast halbiert. Die Automatisierung der Produktion ermöglicht den Unternehmen, Jobs im mittleren Einkommensbereich abzubauen. Das fördert die Polarisierung der Einkommen in gut und schlecht bezahlte Tätigkeiten. Die gleiche Wirkung hat der abnehmende Anteil an Industriearbeitsplätzen: Seit 1995 ist er in der OECD um 20 Prozentpunkte gefallen, gleichzeitig stieg die Produktion um 150 Prozent. Zwar entstehen im Dienstleistungssektor neue Jobs. Doch liegen die Einkommen dort im Durchschnitt 40 Prozent niedriger als in der Industrie.


Die Löhne bleiben zurück

Die Löhne bleiben zurück, die Produktivität der Arbeitnehmer steigt deutlich stärker. Die Differenz fiel an die Kapitaleigner: Betrugen die Unternehmensgewinne vor 25 Jahren noch etwa zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung, so waren es vor Corona 16 Prozent. Die Rendite für Aktionäre - der Return on Equity - schwankt zwischen acht und 17 Prozent. Da die Kapitaleigner in der Regel die Wohlhabenden sind, ist es kein Wunder, dass der Anteil der reichsten ein Prozent der Haushalte in der OECD am gesamten Vermögen von 25 auf 35 Prozent gestiegen ist. Auf der anderen Seite nimmt die Armut zu - und Armut ist ein Synonym für Unsicherheit. „Prekarität", sagt Arbeitssoziologe Dörre, „ist zu einer normalen Organisationsform von Arbeit und Leben avanciert."


Gleichzeitig scheinen die Gewinne der Unternehmen inzwischen zu hoch geworden zu sein. „Useless profits", nutzlose Erträge, nennt sie Natixis-Volkswirt Artus. Die Unternehmen verdienen mehr, als sie brauchen. Mit dem überschüssigen Geld bauen sie im Durchschnitt weder ihre Schulden ab, noch erhöhen sie mangels guter Geschäftsaussichten ihre Investitionen. Stattdessen schütten sie die Milliarden als Dividenden an die Aktionäre aus, kaufen eigene Aktien zurück oder legen sie an den Finanzmärkten an. Damit tragen sie zum Entstehen von Spekulationsblasen bei. An den Märkten existiert seit langem ein struktureller Überschuss an Kapital, das nach Rendite sucht. Das führt nicht nur zu Spekulationsblasen bei Aktien und Anleihen, sondern auch bei Immobilien, was Arbeitnehmer als zunehmende Kosten des Wohnens zu spüren bekommen. Den Blasen folgen in immer kürzeren Abständen Krisen, die die Staaten per Schuldenaufnahme bekämpfen.


Die niedrigen Zinsen befeuern die Renditejagd

Durch ihre Kreditaufnahme saugen die Regierungen zwar das überschüssige Finanzkapital teilweise auf. Doch der Preis dafür ist wachsende Verschuldung auf der einen Seite und ein Zinsniveau, das wegen des Überangebots an Finanzkapital tendenziell sinkt und darüber auch die private Altersvorsorge gefährdet. „Ein Jahrzehnt historisch niedriger Zinsen hat den Druck auf die Pensionssysteme noch einmal erhöht", stellt die britische Financial Times fest. Die niedrigen Zinsen wiederum befeuern an den Märkten die Jagd nach Rendite: „Seit den achtziger Jahren müssen Finanzanleger in den USA wählen zwischen sinkenden Erträgen und höherem Risiko", sagt David A. Levy vom Jerome Forecasting Center in New York. Sie würden daher voraussichtlich „ihr finanzielles Risiko erhöhen, bis die Expansion zusammenbricht". Was regelmäßig geschieht. Bislang folgt darauf zwar ein neuer Boom, der von staatlichen Schulden und billionenschweren Wertpapierkäufen der Zentralbanken genährt wird. Doch „die Instabilität des Finanzsystems ist irreversibel", erklärt Natixis-Ökonom Artus. Und dies schlägt auf die Realwirtschaft zurück, da sie über den Kreditkanal unauflöslich mit den Finanzmärkten verbunden ist.


Das Ergebnis: Auf der einen Seite schwimmen die Finanzmärkte in Geld, ebenso die Banken, was bei den Volkswirten der Commerzbank zu der Frage führt: „Wohin mit der Überschussliquidität?" Auch die gesamtwirtschaftlichen Ersparnisse wachsen unaufhörlich. Dem gegenüber stehen Beschäftigte, die um ihre Jobs fürchten; Regierungen, deren Schulden auf Niveaus steigen, die sonst nur in Kriegen erreicht werden; Unternehmen, dieihre Zukunft bedroht sehen; und Finanzinvestoren, die für eine schmale Extra-Rendite immer größere Risiken eingehen müssen. Die Welt ist reich. Aber dieser Reichtum hängt davon ab, dass er sich vermehrt. Und diese Vermehrung ist - insbesondere angesichts der wachsenden Kapitalmassen - gefährdet.


Wie lässt sich das System wieder auf eine feste Basis stellen?

Diese latente Dauerkrise entspringt aus dem System selbst. „Naturereignisse" wie der Klimawandel, die Corona-Pandemie oder der US-Handelskrieg kommen lediglich von außen dazu - und verschärfen die Lage. „Der aktuelle Zyklus wird höchstwahrscheinlich nicht gut enden", warnte US-Ökonom Levy schon Ende 2019 - also vor der Corona-Krise. Selbst wenn diese Krise überstanden ist, bleibt das Grundproblem erhalten - nur dass die Regierungen der Welt vor dem Zusatzproblem stehen, „ihre Haushaltsdefizite über 30 Billionen Dollar zu managen und gleichzeitig das Wachstum wieder herzustellen", mahnt die Unternehmensberatung McKinsey.


Was also tun? Rund um den Globus machen sich Politiker und Ökonomen Gedanken, wie das System wieder auf eine feste Basis gestellt werden kann. Dabei schälen sich drei Kernelemente heraus: Verlässliche gesetzliche Rahmenbedingungen, Umverteilung zu Gunsten der abhängig Beschäftigten und eine Stärkung des ökonomischen Fundaments, also eine Neudefinition der öffentlichen Daseinsvorsorge. „Klar ist dabei, dass man dies nicht den Unternehmen überlassen kann", sagt der französische Ökonom Artus, „denn ihre Aufgabe ist bloß die Erzielung von Gewinnen."


Zu den Rahmenbedingungen: Hierzu zählt unter anderem ein Ende des globalen Steuersenkungswettbewerbs. Seit 1980 ist der Steuersatz auf Unternehmensgewinne in der OECD im Durchschnitt von knapp 50 auf 27 Prozent gesunken. Mittels trickreichen Steuersätzen versuchen Standorte, multinationale Konzerne auf ihr Territorium zu locken. Eine Lösung wäre die Einführung einer globalen Mindeststeuer, die derzeit debattiert wird. Zum Rahmen gehört auch ein globaler Preis für CO2-Emissionen, der das Geschäft mit dem Klimaschutz auf eine verlässliche Grundlage stellen würde. Und schließlich müsste auch der globale Handelskrieg beendet werden, der über Zölle und Sanktionen dafür sorgt, dass die Unsicherheit des Marktes durch die Unsicherheit der Rahmenbedingungen erhöht wird.

Zur Umverteilung: In der Tendenz ist sowohl eine Polarisierung innerhalb der Staaten von Arm und Reich zu beobachten als auch ein Sinken der Lohnquote. Eine ausgewogenere Verteilung von Vermögen und Einkommen würde das System stabilisieren, Krisen verhindern und damit auch das Wachstum stärken. „Nach unseren Untersuchungen sind stärkere Schwankungen im Wirtschaftsgeschehen eindeutig mit schwächerem Wachstum verbunden", so das Fazit einer Studie von US-Ökonomen der Universitäten Boston und Evanston. Umverteilung würde aber auch bedeuten: „Unternehmen und Aktionäre müssen sich mit geringeren Renditen zufriedengeben", mahnt Natixis-Ökonom Artus.


Mieter teilen sich ihre Miete solidarisch

Zur Daseinsvorsorge: Ein durch die Corona-Pandemie gestärkter Ansatz verfolgt die Konzentration auf die so genannte Fundamental-Ökonomie. Darunter fallen jene Teile der Produktion, die für die Lebensgrundlagen und die Daseinsvorsorge wichtig sind: die „Ökonomie des Alltagslebens". Gemeint sind damit Bereiche wie die Lebensmittelversorgung, das Gesundheitswesen, die Versorgung mit Wasser, Strom, Gas, die Müllabfuhr, der Nahverkehr und das Wohnungswesen. Um sie zu sichern, müssten sie dem Markt zumindest teilweise entzogen werden, fordert das Foundational Economy Collective, ein Zusammenschluss von Ökonomen in Europa. Denn in der Fundamental-Ökonomie gehe es nicht um Konkurrenz und Rendite, sondern um Gemeinschaft, Versorgung und Teilhabe.


Im Kleinen wird dies bereits in Angriff genommen. Zum Beispiel im Bereich Immobilien: Als die Mieter der Seumestraße 14 in Berlin-Friedrichshain 2016 erfuhren, dass ihr Haus an einen Investor verkauft werden sollte, gingen sie zum Gegenangriff über. „Die Sorge darum, dass wir alle unser Zuhause verlieren könnten, hat große Solidarität untereinander freigesetzt", erzählt Bewohnerin Birgit Ziener. „Wir wollten uns nicht gegeneinander ausspielen lassen und entschieden uns für den Schritt in die Selbstverwaltung."

Kommunen übernehmen die einst privatisierte Versorgung wieder

Die Gemeinschaft sammelte Geld, auch über Crowdfunding, schnappte dem Investor das Haus weg und schloss sich dem Mietshäuser Syndikat an. „Heute sitzen Nachbar*innen, die sich wenige Monate vor dem Hauskauf noch nicht einmal kannten, beisammen und überlegen, wie sie solidarisch ihre Mieten verteilen, frei werdende Wohnungen nach sozialen Kriterien vermieten, sich im Alltag unterstützen können und lernen dabei ihre Geschichten kennen", sagt Ziener.


An anderen Orten übernehmen Kommunen ihre zuvor privatisierte Versorgung wieder selbst. Kürzlich beschloss der Kreistag Ludwigslust-Parchim in Mecklenburg, das Crivitzer Krankenhaus zu kaufen. Der Mediclin-Konzern wollte die Geburtshilfe mangels Rentabilität schließen. Nun wird ein medizinisches Konzept für das Krankenhaus erarbeitet. „Geburtskliniken sind ein elementarer Teil der medizinischen Grundversorgung und sie gehören in öffentliche Hand", sagte Steffen Kühhirt von der Gewerkschaft Verdi. Rekommunalisierung findet auch in anderen Bereichen statt. So wird deutschlandweit inzwischen wieder jede zweite Hausmülltonne von kommunalen Betrieben abgeholt, ein Drittel mehr als 2003. Besonders verbreitet ist die Rekommunalisierung in den Bereichen Wasser und Energie.


Betriebslizenzen auf das Gemeinwohl

Das Foundational Economy Collective sieht die Corona-Pandemie als Chance zu einer wirtschaftspolitischen Neubesinnung und hat dazu einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt. Zunächst müsse die Bevölkerung beim Umbau einbezogen werden, etwa wie im Fall Barcelona, wo der strategische Entwicklungsplan PEMB alle Beteiligten an einen Tisch bringt. Prioritäten muss laut den Fundamentalökonomen der Grundversorgung in den Bereichen Gesundheit, Wohnen und Energie eingeräumt werden. „Regierungen müssen zusammen mit regulierten, nicht-gewinnorientierten Unternehmen Verantwortung übernehmen." Die Privatwirtschaft soll durch Einführung von Betriebslizenzen auf das Gemeinwohl orientiert werden.


Diese Lizenzen erlegen den Anbietern von grundlegenden Diensten soziale und ökologische Verpflichtungen auf. So könnten selbst Supermärkte dazu gebracht werden, Verantwortung für Ernährungsgewohnheiten und Verpackungsmüll zu übernehmen. Fragile lange Lieferketten sollten darüber hinaus verkürzt werden. „Wir können nicht in die 1950er Jahre zurückkehren", so die Ökonomen, „aber es ist irrwitzig, dass essentielle Schutzausrüstung für Mediziner aus China importiert werden muss."


All dies sind große Vorhaben, die viel Zeit und politisches Kapital benötigen werden. Doch die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass der Markt viel Reichtum schafft, aber keine Sicherheit, nicht einmal für sich selbst. Die Produktion von Sicherheit wiederum gibt es nicht zum Nulltarif, insbesondere nicht für jene, die vom System bislang profitiert haben. Sinkende Renditen für Unternehmen, so Bankökonom Patrick Artus, könnten zu sinkenden Börsenkursen und sogar neuen Finanzkrisen führen. „Dies ist kein Argument gegen den Ausstieg aus dem neoliberalen Kapitalismus", sagt er, „der Ausstieg könnte allerdings schmerzhaft werden."

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