"Putin intim - Ein Besuch in Moskau", so reisst die aktuelle Weltwoche auf der Titelseite ein Interview mit der Chefredaktorin des staatlichen russischen Fernsehsenders "Russia Today" an. Mitten in der Ukraine-Krise und der sie begleitenden Propaganda russischer Medien darf Margarita Simonjan - eine der einflussreichsten russischen Journalistinnen - in der Weltwoche auf knapp drei Seiten unwidersprochen Lügen und Falschinformationen verbreiten. Einmal mehr unterstreicht die Weltwoche ihren journalistischen Anspruch, einen eigenen Zugang zu Themen zu haben und "Gegensteuer zum Mainstream"zu geben ( aus den publizistischen Leitlinien).
In der aktuellen Ausgabe (Nr. 22) findet sich ein bemerkenswertes Interviewmit Margarita Simonjan (34) Chefredaktorin des staatlichen russischen Fernsehsenders "Russia Today". Der Sender sieht sich selbst als Pendant zu Nachrichtensendern wie BBC World oder CNN. Im Interview geht es um die Krise in der Ukraine, um die Rolle Russlands und um Präsident Putin, mit dem Simonjan persönlich bekannt ist. Geführt hat das Interview der stellvertretende Chefredaktor der Weltwoche, Philipp Gut.
Die Weltwoche pflegt laut eigenen publizistischen Leitlinien "einen kritischen Recherchejournalismus". Vor dem Hintergrund, dass in der aktuellen Krise in der Ukraine beide Seiten, vor allem aber russische Medien - darunter auch "Russia Today"- einen gnadenlosen Propagandakrieg (siehe u.a. NZZ, Süddeutsche Zeitung, FAZ) mit bewussten Falschinformationen und manipulierten Informationen führen, erstaunt es doch sehr, dass sich Gut für diesen Themenkomplex offenbar nicht interessiert. Schliesslich ist auch "Russia Today"in der Verbiegung der Realität ganz vorn dabei. Ein Beispiel: Michail Kapustin, Rabbiner in Simferopol, floh nach dem Anschluss der Halbinsel Krim an Russland, wegen der dort einsetzenden antisemitischen Stimmungsmache. "Russia Today"verbreitete die Nachricht Kapustin wolle aus der Ukraine fliehen, weil die neue Regierung in Kiew antisemitisch sei.
Dass Philipp Gut angesichts der Funktion seiner Interviewpartnerin und ihrer Arbeit das Thema der Propaganda russischer Medien ausklammert, ist erstaunlich, wenn nicht gar journalistisch eine krasse Nachlässigkeit.
Gut, Philipp Gut steckt im Text gleich selbst das Ziel des Interviews ab: "Ein Gespräch über Putin und die Welt aus russischer Sicht."Nun, diesem Anspruch ist das Interview mehr als gerecht geworden, denn schon mit den ersten Fragen "Wie sehen Sie die aktuellen Vorgänge in der Ukraine?"und "Wie gefährlich ist die Lage?"lädt Gut seine Interviewpartnerin ein, ihre Sicht der Dinge zu äussern.
Gleich die erste Lüge von Margarita Simonjan - "Die Regierung in Kiew hat die russische Sprache und das russische Fernsehen verboten"- lässt Gut unwidersprochen passieren. Zwar hatte die ukrainische Übergangsregierung tatsächlich ein Gesetz vorbereitet, das Russisch als zweite Amtssprache abschaffen sollte, doch dieses Gesetz, welches zu Recht als Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine zu verstehen sein muss, wurde in der Praxis nicht verabschiedet.
Simonjans Kernbotschaft, wonach Kiew die russischsprachige Bevölkerung unterdrücke, zieht sich durch das ganze Gespräch und dient fortan somit der Rechtfertigung der russischen Politik. Gut versucht es mit einem zaghaften Konter: "Russland war der Aggressor auf der Krim"und fängt sich einen Tadel seiner Gesprächspartnerin ein: "Das ist Unsinn! Der Aggressor ist Kiew, es hat die Leute unterdrückt. Auf der Krim wurde kein einziger Schuss abgegeben. 97 Prozent der Bevölkerung wollten Russland beitreten."
Dass es für eine Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim keinerlei Belege gibt, dafür aber das erwähnte und offenbar gefälschte Referendum unter den Gewehrläufen von sogenannten "Selbstverteidigungkräften" - die sich später als russische Soldaten herausstellten, wie der russische Präsident Putin selbst eingestand - stattfand und jeglichen rechtlichen Standards zuwiderlief, scheint Weltwoche-Redaktor Gut nicht zu interessieren.
War Philipp Gut nicht gut genug vorbereitet auf mögliche Falschmeldungen seiner Gesprächspartnerin oder liess er sich vor den russischen Propaganda-Karren spannen? Beides wäre journalistisch grob fahrlässig. Der stellvertretende Weltwoche-Chefredaktor wollte Fragen (siehe unten) zu dem geführten Interview nicht beantworten, hat aber den Schreibenden zu einer Replik in der Weltwoche eingeladen.
Philipp Guts Gesprächspartnerin, die, wie er schreibt, zu ihrem Geburtstag Blumen von Wladimir Putin bekam, dürfte sich für ihren Job im Gespräch mit der Weltwoche weitere Blumen aus dem Kreml verdient haben. Es wäre interessant gewesen, was die Chefredaktorin von "Russia Today"zu den Propaganda-Anstrengungen ihres und der anderen staatlichen Sender gesagt hätte, wäre sie damit konfrontiert worden. ( Auf www.stopfake.org finden sich zahlreiche Beispiele für manipulierte Medienberichte; die Seite - von ukrainischen Journalismus-Studenten gegründet - ist neben russisch auch auf englisch verfügbar.)
Doch Philipp Gut hat mit seiner "Wohlfühlabfrage" nicht nur die publizistischen Leitlinien seines Blatts verletzt, sondern auch der kritischen Berichterstattung einen (russischen) Bärendienst erwiesen.
Die Fragen an Philipp Gut:
Was wollen Sie mit diesem Interview erreichen? Sie kündigen "ein Gespräch über Putin und die Welt aus russischer Sicht" an. Rechtfertigt diese Einschränkung aus Ihrer Sicht, offensichtliche Lügen unwidersprochen zu lassen (z.B. "Russisch ist als Amtssprache in der Ukraine verboten")? War Ihnen klar, dass Ihre Gesprächspartnerin Ihnen Lügen auftischt? Haben Sie sich von der russischen Propaganda vor den Karren spannen lassen? Wenn Ihre Antwort "Nein" ist, warum nicht?