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Die Epilog #7: Ich bin ein mittelalter weißer Mann und weine um das Ende des Kanons

[...] Es ist eher eine Frage der Hybris, die man sich erlauben konnte, können wollte, die die Golden Record heute so surreal macht, der Glaube, dass sich das alles auf einen Nenner bringen ließe, Beethoven und Hochbeetbau, Taj Mahal und Amish People, dich und mich und alle unsere Freunde. Ich wäre 1977 vermutlich eher bei Johnny Rotten gewesen als bei Projektleiter Carl Sagan, aber der Versuch, die Erde in 200 Datensätze zu pressen, eine Scheibe, in der der Buschmann jagen und der Türke rauchen und der Weiße Eis lecken darf, erscheint heute eher als eine niedliche Geste, eine Spur verlorener Utopie, verlorener Harmonie.
Ich bin ein mittelalter weißer Mann und weine um das Ende des Kanons.
Natürlich nicht wörtlich. Dass der Golden Record der dumme Rassismus, der dumme Anthropozentrismus, der dumme Essenzialismus doch in jeder Drehung durch die goldene Rille bricht, das sehe ich sowieso, und dass er sich durch jede Liste der besten Platten zieht, der wichtigsten Kunstwerke und Kompositionen, der Bücher, die man wirklich noch lesen muss, na ja, come on. Außerdem bin ich zu jung.
Ich bin ein fast noch junger weißer Mann und weiß, dass der Kanon eine eklige Scheiße ist, was mich aber nicht davon abhält, zu bedauern, dass die Kanonisierung, die mir als sehr, sehr junger weißer Mann, ohne, dass das jemals jemand ausgesprochen hätte, doch als Geburtsvorrecht versprochen wurde, vermutlich ausbleiben wird, weil der Kanon voll ist oder, wer weiß, sowieso weg und mein Talent beschränkt, darum trinke ich depressiv Bier in Berliner Kneipen und weiß gar nicht so recht, was jetzt zu tun ist, so mit meinem Leben.
So sieht’s nämlich aus, liebe Herren Sagan und Reich-Ranicki, lieber Jann Wenner vom +Rolling Stone+: Ihr habt uns einen Berg Novellen von 1816 und Debüts von 1974 vor die Füße geschmissen, mit denen wir uns langweilen dürfen, uns dann in die Postmoderne verabschiedet und euch ins Nirvana, und wir schreiben das Netz voll und Magazine, Manifeste, Romane, Generationsbücher, und alle Ewigkeit, die uns dafür winkt, ist ein Platz im Laidak in der Raucherecke.
Die natürlich eine Raucher*innenecke ist, denn uns geht’s ja allen nicht so gut damit, für Frauen und Trans*-Personen ist der Kanon ja genauso abgeschlossen und abgeschafft, sie hatten nur, seien wir ehrlich, von vornherein ohnehin nur ein Zehntel so gute Chancen, es da hineinzuschaffen, damals, in der Kanon-Zeit. [...]