Von Sophie Peschke |
7 Uhr früh auf Polarstern. Mein Wecker hat schon geklingelt und doch liege ich noch in meiner warmen Koje. Die See ist ruhig, sodass Polarstern gemächlich die kleinen Wellen hinauf und wieder hinunter fährt.
Meine Teamkolleginnen Maria und Viktoria, mit denen ich mir die Kajüte teile, sind bereits wach. Viktoria öffnet, wie jeden Morgen, die Verdunklung, die uns im arktischen, ständig hellen Sommer die gewohnte Dunkelheit für die Nacht sichert.
Jetzt strahlt ein gleißendes Weiß durch die beiden Bullaugen in unsere Kabine. Dann wird es laut: Viktoria und Maria sind ganz aus dem Häuschen. „Da ist Eis! Wir fahren an Eis vorbei!", rufen sie mir zu. So wurde ich auch noch nicht geweckt und steige schnellstmöglich aus dem Bett. Die Aussicht aus dem Fenster blendet mich und ich kneife die Augen zusammen. Dann erblicke auch ich zum ersten Mal die vereinzelten Eisschollen, durch die Polarstern uns hindurchfährt. Draußen ist es nebelig, sodass das helle Eis nicht nur aus dem Wasser, sondern auch aus dem Nebel heraussticht. Es sieht majestätisch aus. Wie Wolken nur nicht am Himmel, sondern im Wasser. Wir wollen den Blick aus dem Fenster nicht abwenden und trauen uns kaum zum Frühstück in der Messe zu gehen, weil wir nicht verpassen wollen, wie weitere Eisschollen an uns vorbeiziehen. Der Gedanke, dass wir nach dem Frühstück gleich nach draußen aufs Deck gehen können, um das Eis aus nächster Nähe zu betrachten, lässt uns den Blick lösen- vorerst und nur kurz. Vom Eis können wir uns wirklich nicht satt sehen.
Nach dem Frühstück geht es aufs Deck und wir merken gleich, dass sich über Nacht einiges verändert hat. Es ist kälter geworden und die Reling und der Boden weisen kleine gefrorene Eiströpfchen auf, sodass wir uns nur vorsichtig fortbewegen können. Und dann die Aussicht: Immer wieder kleinere und größere Eisschollen in strahlendem Weiß. Haben wir schon einmal etwas gesehen, dass so rein und weiß aussieht? Etwas so Faszinierendes? Fest steht, dass wir diesen morgendlichen Moment auf dem Deck von Polarstern nicht vergessen werden. Unvergesslich ist dieser Morgen auch für Mareen, die sich noch einmal mehr über das Eis freut. Es ist ihr 25. Geburtstag und ein schöneres Geschenk hätte sie sich wohl nicht vorstellen können: „So eine Aussicht am Geburtstag hatte ich noch nie. Es ist einfach perfekt", erzählt sie mir.
Eine Treppe höher treffe ich auf Christian, unseren Meteorologen vom Deutschen Wetterdienst. Eigentlich will er Fotos machen, doch zuerst nimmt er sich die Zeit, meine viele Fragen zum Thema Eis zu klären. Ich erfahre, dass wir gerade am Meereis vorbeifahren, welches sich im Laufe eines Jahreszyklus gebildet hat. Es resultiert aus der Eisbedeckung der inneren Arktis und ist Teil der 80 Prozent des Eises, welches über die Framstraße austritt. „Bis hier her schaffen es nur wenige Schollen," sagt Christian. Das Eis, welches wir gerade betrachten, ist Schmelzbedingungen ausgesetzt. Minus 1,8 Grad muss das Wasser haben, damit Eis gefriert. Derzeit befinden wir uns auf 77° nördlicher Breite. Christian erzählt, dass das Eis aktuell ab dem 81. Breitengrad richtig dick werde und wir dann in den Festeisbereich kommen. Viel Eis findet man auch vor dem grönländischen 79°-Gletscher. „Es wird noch schöner", versichert er und steigert damit meine Vorfreude. Oben auf dem Deck fühlt es sich richtig eisig an. Auch da kann Christian eine Erklärung liefern: „Es ist gerade -1°C bei einer Windstärke von 4 Bft, was eine gefühlte Temperatur von -10 bis -15°C ergibt," sagt er. Bevor ich ihn nun endlich fotografieren lasse, gibt er mir noch eine Portion Vorfreude auf den Weg: Uns könnten schon jetzt sogenannte Growler begegnen, Eisberge von 6 bis 15 Meter Höhe, die dann auch die Polarstern besser umfahren sollte.
Eis umfahren? Die Polarstern ist doch ein Eisbrecher. Ich gehe auf die Brücke, um beim Kapitän Thomas Wunderlich nachzufragen, was aus seemännischer Sicht nun beachtet werden muss.
„Vor allem die schlechte Sicht ist eine Herausforderung und bedarf zusätzlicher Aufmerksamkeit", sagt er. Der Nebel erfordere, dass die Sinne des Steuermanns besonders geschärft sind. Der Kapitän bestätigt, was auch Christian gesagt hat: „Mit den Growlern können wir auf richtige Kaventsmänner von sechs Meter Höhe stoßen." Auf einmal ruckelt es und das Fahrgefühl ist ein anderes als jenes, an das ich mich in den vergangenen vier Tagen auf Polarstern gewöhnt habe. Das Schiff fährt nicht mehr die Welle hinauf und gemächlich herunter. Der Boden wackelt und ich halte mich vorsichtshalber fest. „Wir versuchen den Komfortbereich für die Personen an Bord zu halten und fahren nicht über Eis, wenn es sich vermeiden lässt", erzählt mir der Kapitän. Doch das Eis wird dichter, sodass es immer öfter ein kurzes Ruckeln gibt. Daran werde ich mich nun für die Weiterfahrt gewöhnen müssen. „Das war doch nur ein kleines Schöllchen", sagt Thomas Wunderlich. Mit Eisbrechen habe das noch nichts zutun.
„Wir sind in einem offenen Triebeisfeld, aber das Meereis ist größtenteils durchgetaut", sagt der Kapitän. Er geht mit mir an ein Fenster auf der Brücke und erklärt anhand der Wasserlinie des Eises, dass dieses bereits zu tauen beginnt. Sonst seien die Eisschollen unter Wasser rund und nicht so weich.
Nun erkundige ich mich bei Ralph Neumann, dem 2. Offizier von Polarstern, was die Eisschollen für Besatzung und wissenschaftliche Crew mit sich bringen. „Wir müssen alle auf Trittsicherheit achten", sagt er. Die außenliegenden Wasserleitungen seien bereits entwässert, sodass diese nicht gefrieren können. „Und uns wärmer anziehen", sagt Ralph und lacht. Auch der Bootsmann Reiner bestätigt mir, dass nun der sogenannte „Winterdienst" zum Einsatz komme und Salz an den Stellen auf dem Schiff gestreut werde, die vereist seien. Die Crewmitglieder zeigen sich genauso begeistert vom Eis wie wir. Kommunikationsoffizier und Chief Electrician Engineer Boris Christian ist zwar schon seit vier Jahren auf Polarstern, beim Vorkommen von Eis, geht er trotzdem immer noch regelmäßig aufs Deck: „Das ist wirklich magisch und macht meinen Arbeitsplatz so unglaublich besonders", schwärmt er.
Viele der Polarstern-Passagiere freuen sich genauso wie Boris über das Eis. „Es sieht einfach toll aus und hat so viele verschiedene Formen," sagt Anna aus dem Arbeitsbereich Bathymetrie. Auf der anderen Seite, sei das Eis aber hinsichtlich der zu sammelnden Daten nicht besonders förderlich: „Das Signal des Fächerecholotes soll nur am Meeresboden reflektieren. Wenn es Eisschichten an der Meeresoberfläche gibt, reflektiert es auch dort und stört unser Signal", erklärt sie. Eventuell müssen dickere Eisschichten aufgrund der geplanten seismischen Untersuchungen sogar umfahren werden, da das Schiff für die marine Seismik in ständiger Bewegung sein muss.
Auf Grund des dichten Nebels hat Henri vom Laboratory of Polar Ecology das Zählen der Vögel und Meeressäuger gestoppt. Momentan hat er von der Brücke nur eine Sicht von etwa 100 Metern, sodass das Zählen bei den schlechten Sichtverhältnissen die Ergebnisse verfälschen könnten. Frei macht er deshalb trotzdem nicht, sondern steht mit seinem Fernglas auf der Brücke und hält Ausschau. „Ich gucke nach Walrossen. Das steht für diese Reise auf meiner Wunschliste", sagt er. Die Wassertiefe unter Polarstern beträgt gerade 250 bis 300 Meter. Für die Walrosse ist das die perfekte Tiefe, um bis zum Meeresgrund zu tauchen und nach Nahrung zu suchen. Gesehen hat Henri noch keins, bleibt aber optimistisch und gibt sich vorerst mit den sieben kleinen „little auks" zufrieden, die von einer Eisscholle zur anderen fliegen.
Auf dem Weg von der Brücke zurück zu unserer Kabine gehe ich draußen entlang und lasse mich noch ein weiteres Mal vom vorbei schwimmenden Eis begeistern. Der Blick nach oben verwundert mich. Ich sehe einen hellen, weißen Bogen im Eis. Es ist ein Nebelbogen. Der andere Christian, ebenfalls vom Deutschen Wetterdienst, ist draußen, um ihn fotografisch festzuhalten. „Der entsteht genau wie ein Regenbogen, durch die Brechung der Wassertröpfchen.", sagt er. Wenn es also Nebel und Sonne gleichzeitig gibt, können solche Nebelbögen entstehen. Ich bin begeistert. Hier in dem arktischen Gewässer komme ich aus dem Staunen wirklich nicht mehr heraus.