Die soziale Ungleichheit hat 2019 in Chile Hundertausende auf die Straßen getrieben, es gab schwere Kämpfe. Juán Espinzo, Angestellter des öffentlichen Krankenhauses, verarztet heute Covid-Patienten. Damals, im November 2019, waren es verletzte Demonstrantinnen und Demonstranten - übel zugerichtet von der Polizei durch Knüppel, Gummigeschosse und Wasserwerfer. Viele verloren ihr Augenlicht im Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit in Chile.
Juan Espinoza war auf ihrer Seite. Er verdient in seinem Vollzeitjob im öffentlichen Krankenhaus umgerechnet 650 Euro im Monat. Das ist normal in Chile. Mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung muss mit weniger als 450 Euro monatlich klarkommen.
"Ich habe ja schon einen miserablen Lohn, aber was bleibt denn noch für meine Kinder und meine Enkelkinder? Meine Kinder sind jung, meine Enkelin ist ein Jahr alt. Wenn ich nicht für einen Wandel in diesem Land kämpfe, wer dann?"
So wie Juán Espinoza setzen in Chile viele ihre ganze Hoffnung auf eine neue Verfassung, die 155 gewählte Delegierte erarbeiten sollen. Im Herbst 2020 hatten nach monatelangen Straßenkämpfen 80 Prozent der Bevölkerung für dieses demokratische Vorgehen gestimmt mit dem Ziel, eine Verfassung zu bekommen, die mehr Gerechtigkeit bringt.
Das vergangene Jahr war hart. Abgesehen vom erfolgreichen Beschaffen von Impfdosen hat die chilenische Regierung bisher wenig für seine Bevölkerung in der Coronakrise getan. Viele von der Opposition angestoßene Gesetzesvorhaben, die die Menschen in der Coronakrise absichern sollten, wie zum Beispiel Arbeitsschutzmaßnahmen oder die Deckelung von Medikamenten-, Strom- und Wasserrechnungen, konnten nicht verabschiedet werden, weil das Verfassungsgericht sie unter Berufung auf die derzeitige Konstitution, die aus Pinochet-Zeiten stammt, ablehnte. Gleichzeitig wirkt die Pandemie wie ein Brennglas auf die soziale Ungleichheit im Land.
Der 32-jährige José Vega arbeitet seit über sieben Jahren in der Erstversorgung im öffentlichen Gesundheitswesen.
"Es ist deutlich geworden, dass der wohlhabende Teil der Bevölkerung, der die Möglichkeit hat, sich zu isolieren, es nicht macht. Und die verarmte Bevölkerung lebt in überfüllten Wohnungen, wo sechs Personen in einem Zimmer schlafen. Sie sind der Armut, der Krankheit und dem Hunger ausgesetzt. Die Pandemie hat gezeigt, dass zehn Prozent der Bevölkerung alle Mittel haben, um ihr Leben zu beschützen und der Rest der Bevölkerung nicht."
In den öffentlichen Krankenhäusern fehlte es auch schon vor der Pandemie an Personal, medizinischen Mitteln und Betten. 2018 starben 26.000 Menschen, die auf den Wartelisten der öffentlichen Krankenhäuser standen, um eine Behandlung zu bekommen. Die Behandlungen von mehreren lebensgefährlichen Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs, werden nicht von der öffentlichen Krankenversicherung übernommen, weshalb es in Chile normal ist, ein Bingo zu veranstalten, um einen medizinischen Eingriff zu finanzieren. Die Gesundheitsversorgung für alle soll deshalb in der neuen Verfassung Priorität erhalten.
Ein Grund für die fehlenden Mittel im öffentlichen Gesundheitswesen sind die Privatisierungen, die während der Pinochet-Diktatur ohne demokratische Legitimation durchgeführt wurden. So wurden die Isapres, die privaten Krankenversicherungen, geschaffen, die zwar nur etwa 30 Prozent der Bevölkerung versichern, aber hohe staatliche Subventionen erhalten. Die Verfassung garantiert lediglich das "Recht auf Wahlfreiheit" im Gesundheitswesen, aber verpflichtet den Staat nicht dazu, das Recht auf Zugang zum Gesundheitswesen zu garantieren.
"Vom verfassungsgebenden Prozess erhoffe ich mir, dass der Staat endlich aufhört, öffentliche Gelder in das private Gesundheitssystem umzuleiten. Das öffentliche Gesundheitswesen behandelt etwa 70 Prozent der Bevölkerung, aber erhält nur 30 Prozent der öffentlichen Gesundheitsausgaben. Die restlichen Mittel fließen ins private System."
Das Gesundheitswesen funktioniert in Chile ähnlich wie das Bildungswesen nach den Regeln des freien Markts. Was in anderen Ländern soziale Rechte sind, die vom Staat garantiert werden, gilt in Chile als Ware, deren Qualität davon abhängt, wie viel man bezahlen kann.
Den Staat auf ein Minimum zu reduzieren und möglichst alle Gesellschaftsbereiche dem Markt und privaten Unternehmen zu überlassen - das ist eine der Lehren von Milton Friedman, die mehrere chilenische Wirtschaftswissenschaftler an der University of Chicago studierten, bevor Diktator Pinochet sie zu Ministern ernannte. Auf demselben neoliberalen Modell basiert auch die Verfassung aus dem Jahr 1980.
Deshalb geht es bei der Diskussion um eine neue Verfassung nicht nur um ihren Ursprung in der Diktatur, sondern vor allem um ihren Inhalt, wie Politikwissenschaftler Octavio Avendaño erklärt.
"Die aktuell gültige Verfassung enthält mehrere Aspekte, die verhindern, dass die Forderungen der Menschen nach einer gerechteren Gesellschaft umgesetzt werden. Die chilenische Verfassung verleiht dem privaten Eigentumsrecht mehr Gewicht als den Grundrechten. Sie legt auch die Privatisierung der natürlichen Ressourcen fest. Der partizipative verfassungsgebende Prozess, der jetzt bevorsteht, hat nicht nur zum Ziel, den Ursprung der Verfassung - die Diktatur - zu überwinden, sondern mit einer historischen Tendenz zu brechen, denn alle Verfassungen Chiles von 1812 bis heute wurden von Militärs durch Militärputsche erlassen."
Der Verfassungskonvent wird der erste der Welt sein, der zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern besteht und Sitze für die indigenen Völker reserviert hat. Jeder und jede kann kandidieren. Aufgrund der tiefen Vertrauenskrise in die politischen Parteien treten besonders viele parteiunabhängige Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl an - von über 1000 gehören etwa 60 Prozent keiner politischen Partei an.
Aber die Ausgangssituation ist extrem ungleich: Parteiunabhängige Kandidatinnen und indigene Völker haben in der offiziellen Wahlwerbung im Fernsehen nur eine einzige Sekunde pro Bewerber zugeschrieben bekommen. Und sie haben kaum finanzielle Mittel, um ihre Kampagnen zu finanzieren. Einer Untersuchung der gewerkschaftsnahen Stiftung Fundación Sol zufolge gehören diejenigen, die am meisten Wahlspenden erhalten, den rechten Regierungsparteien an. Die Pandemie beschränkt zudem die politische Organisation.
Luis Mesina tritt gemeinsam mit einer Liste von sozialen Bewegungen in einem Wahldistrikt der Hauptstadt Santiago an. Er ist Mitglied der Bewegung "No Más AFP", die sich seit mehr als fünf Jahren für eine staatliche Rentenversicherung und gegen die privaten Rentenfonds einsetzt.
"Das aktuelle Rentenniveau ist miserabel und bringt die Bevölkerung in eine so unwürdige Lage, dass sie bis ins hohe Alter arbeiten muss. Mehr als 75 Prozent der aktuellen Renten sind niedriger als der Mindestlohn. Deshalb sind die Renten eine der wichtigsten Forderungen seit der Revolte vom 18. Oktober."
Der Mindestlohn lieg bei etwa 370 Euro im Monat. Die Renten unterscheiden sich außerdem stark zwischen Frauen und Männern: Die Durchschnittsrente von Männern lag 2020 bei etwa 400 Euro und bei Frauen bei circa 280 Euro im Monat.
Erschaffen wurden die Administradoras de Fondos de Pensiones - kurz AFP - im Jahr 1981 von José Piñera, Arbeitsminister unter Pinochet und Bruder des Präsidenten Sebastián Piñera. Alle Beschäftigten müssen seitdem monatlich zehn Prozent ihres Lohnes in einen privaten Fond einzahlen, die Arbeitgeber zahlen nichts. Die AFP investieren und spekulieren anschließend mit den Rentenfonds.
Da es während der Pandemie fast keine staatlichen Hilfen für die Bevölkerung gab, verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das es den Menschen ermöglichte, 10 Prozent ihrer Ersparnisse aus den privaten Rentenfonds zu entnehmen. Mehr als drei Millionen Menschen haben jetzt gar keine Ersparnisse mehr in ihren Fonds.
Luis Mesina setzt sich dafür ein, dass ein solidarisches Verteilungsmodell als Rentensystem in der Verfassung verankert wird. Ihm zufolge sind die privaten Rentenfonds eine der Säulen des neoliberalen Wirtschaftsmodells.
"Die letzten 40 Jahre haben gezeigt, dass dieses System gescheitert ist, weil es nicht dazu dient, Renten auszuzahlen, sondern dem Zweck dient, den diejenigen im Sinn hatten, die es erschaffen haben: einen Kapitalmarkt zu errichten, der die großen Wirtschaftsgruppen finanziert."
Die privaten Rentenfonds verwalteten 2020 über 195 Milliarden US-Dollar, mehr als 80 Prozent des chilenischen Bruttoinlandprodukts. Eine Studie der Stiftung Fundación Sol zeigt, dass mehr als drei Viertel der Fonds in umweltschädliche Branchen investiert werden, wie zum Beispiel in den Bergbau, in die Forstwirtschaft oder in die industrielle Landwirtschaft. Rund vier Prozent der Rentenfonds werden in die Unternehmensgruppe der Familie Luksic investiert, die sich auf Platz 1 der reichsten Chileninnen und Chilenen befindet, gefolgt von der Familie des Präsidenten Piñera.
Die Rente zählt deshalb in der zukünftigen Verfassungsgebenden Versammlung als Top-Thema - neben der Gesundheit und der Privatisierung lebenswichtiger Güter wie Wasser.
Chile erlebt gerade eine der schwersten Dürren seiner Geschichte. Besonders stark betroffen sind der Norden und die Zentralregion. Zehntausende Tiere sind dem Landwirtschaftsministerium zufolge wegen der Dürre verendet. Ziegenhirtin Miriam Pizarro lebt in der Nähe des kleinen Dorfs Tulahuén im Limarí-Tal im Norden Chiles.
"Das letzte Jahr war sehr schlecht, ich konnte fast nichts produzieren. Ich musste Gras für meine Tiere kaufen, weil nichts wächst. Es wird immer schlimmer wegen der Dürre. Wenn es dieses Jahr nicht regnet, wird es noch schwieriger. Viele meiner Tiere sind gestorben. Die Jungen, weil sie keine Nahrung hatten und die trächtigen Ziegen bei der Geburt, weil sie nicht genug Kraft hatten."
Das Limarí-Tal, das einst grün und fruchtbar war, gleicht heute einer Wüste. Das einzig Grüne, was man sieht, sind die Monokulturen der Agrarindustrie: Avocados, Trauben und Zitrusfrüchte werden hier angebaut - der Großteil davon ist für den Export vorgesehen.
Chile ist laut einer Untersuchung der Universidad Católica de Chile das einzige Land der Welt, in dem Wasserrechte qua Verfassung privat vergeben werden dürfen. Das Wasser-Gesetz, der Código de Aguas, der während der Pinochet-Diktatur verabschiedet wurde, ermöglicht dem Staat, kostenlos und auf unbegrenzte Dauer Nutzungsrechten mit privaten Unternehmen zu vereinbaren. Wasser gilt seitdem als frei handelbare Ware - unabhängig davon, wem das Land gehört.
Francisca Fernández ist Mitglied der "Bewegung für das Wasser und die Territorien'" - Movimiento por el Agua y los Territorios, die sich aus mehr als 100 Organisationen zusammensetzt. Sie tritt als Kandidatin für die Wahlen zum Verfassungskonvent an und will der Wasserprivatisierung ein Ende setzen.
"In Chile kann Wasser gekauft, verkauft, vermietet und verpfändet werden. Es konzentriert sich im Besitz des Agrobusiness, des Bergbaus und der Forstwirtschaft."
In Chile verbraucht die Agrarindustrie etwa 80 Prozent des zur Verfügung stehenden Wassers und mehr als die Hälfte der Produktion wird exportiert - nach China, in die USA und nach Europa. Chile gehört zu den 17 Ländern der Welt, die unter extrem hohem Wasserstress leiden. Das bedeutet, dass deutlich mehr Wasser genutzt wird, als auf natürlichem Weg nachkommt. Fernández will das ändern.
"Unser Vorschlag für die neue Verfassung besteht darin, das Wassergesetz außer Kraft zu setzen und die Grundlage für eine neue Gesetzgebung zu schaffen, die Wasser als Menschenrecht und als Recht der Natur anerkennt. Der Zugang zu Trinkwasser und der Schutz der Ökosysteme sollte erste Priorität haben. Wir wollen außerdem die natürlichen Flussläufe wiederherstellen und eine gemeinschaftliche Verwaltung des Wassers vorantreiben."
Ob sich Kandidatinnen wie Francisca Fernández in den Wahlen Mitte Mai durchsetzen werden, hängt auch davon ab, ob die Wählerinnen und Wähler in Chile sich trotz Pandemie wieder so stark engagieren wie damals, im Oktober 2020, als nach monatelangen Protesten eine überwältigende Mehrheit für eine neue Verfassung gestimmt hat.