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Die Diktatur am Arbeitsplatz

US-Arbeitgeber kontrollieren ihre Mitarbeiter sogar bis ins Privatleben. Wie es dazu kam und warum die Amerikaner von den Europäern lernen können

Während der Arbeitszeit nicht mit Kollegen sprechen oder nicht auf die Toilette gehen – das ist für viele Arbeitnehmer der Normalzustand, nicht die Ausnahme. Denn ihre Arbeitgeber verbieten es.

So ist es Mitarbeitern des US-Diskonters Walmart verboten, flüchtige Bemerkungen mit ihren Kollegen auszutauschen. Der Konzern nennt das "Zeitdiebstahl". Als Zeitdiebstahl sieht es auch Amazon, wenn seine Lagermitarbeiter eine Pause einlegen. Arbeiter in den Geflügelfabriken von Tyson durften zeitweise während der Arbeitszeit nicht das WC aufsuchen. Sie waren gezwungen, in Windeln zur Arbeit zu kommen oder sich einzunässen. Apple-Mitarbeiter müssen vor Dienstbeginn ihre persönlichen Gegenstände durchsuchen lassen – was sie bis zu einer halben Stunde unbezahltes Schlangestehen kostet.

Manche Arbeitgeber kontrollieren ihre Mitarbeiter aber nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch privat. Etwa die Hälfte aller Beschäftigten in den USA wurden von ihren Arbeitgebern ohne Grund auf Drogen getestet; laut Schätzungen werden etwa sieben Millionen Arbeitnehmer von ihren Chefs unter Druck gesetzt, bestimmte politische Kandidaten zu unterstützen. Oder die Arbeitgeber mischen sich bei der Sexualität ihrer Angestellten ein oder sanktionieren private Facebook-Postings. Und wer sich darüber beschwert, läuft Gefahr, seinen Job zu verlieren.

Hauptsächlich in den USA

All das sind für die Philosophin Elizabeth Anderson Beispiele, wie Arbeitgeber – hauptsächlich in den USA – heute ihre Angestellten kontrollieren. "Wenn uns die US-Regierung solche Vorschriften machen würde, hätten wir längst zu Recht dagegen protestiert, dass unsere verfassungsmäßigen Rechte verletzt werden. Doch amerikanische Arbeiterinnen haben keine derartigen Rechte gegenüber ihren Bossen." Das schreibt sie in ihrem aktuellen Buch "Private Regierung".

Anderson lehrt und forscht an der Universität Michigan. Sie gehört zu den führenden politischen Philosophen weltweit und befasst sich mit sozialer Gleichheit bezogen auf Autorität, Ansehen und Status.

Das Buch fußt auf Andersons Tanner Lectures on Human Values, einer Vorlesungsreihe in den Geisteswissenschaften, die sie Anfang 2014 an der Princeton-Universität gehalten hat. Im klassisch wissenschaftlichen Stil antworten vier Wissenschafter auf Andersons Ausführungen, sie erwidert am Ende des Buches auf die Kritikpunkte ihrer Fachkollegen.

Mythos freier Markt

Andersons zentrale These der privaten Regierung: "Die Mehrheit der Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten wird im Arbeitsleben von kommunistischen Diktaturen regiert. Diese Diktaturen haben gewöhnlich die gesetzliche Autorität, das außerdienstliche Leben ihrer Arbeiter ebenfalls zu regeln (...)." Diese Autorität sei mittlerweile so groß und willkürlich, dass Arbeitnehmer sogar wegen einer Aussage oder Verhaltens abseits des Arbeitsplatzes entlassen werden. Zudem verletze sie häufig die Würde der Mitarbeiter.

Doch darüber werde nicht gesprochen, meint Anderson, sondern an dem Bild des freien Marktes festgehalten: "Man erzählt uns, dass alle Arbeitnehmer unter ihrem Arbeitsvertrag völlig frei sind, weil sie ihn freiwillig eingehen und aus freien Stücken wieder verlassen können – dass die Bosse nicht mehr Autorität über die Arbeiter haben als Kunden über ihren Gemüsehändler."

Der Grund dafür aus ihrer Sicht: Der freie Markt, wie er etwa im 18. Jahrhundert von Adam Smith beschrieben wurde, wurde jahrelang falsch verstanden. Ursprünglich war dieser eine Idee zur Befreiung und Gleichstellung der Arbeitnehmer. Aber die Industrialisierung und die Massenproduktion führten zum Gegenteil, argumentiert Anderson. Nämlich dass die Möglichkeiten der Selbstständigkeit zurückgingen und immer mehr Menschen angestellt arbeiten. "Der Autoritarismus am Arbeitsplatz begleitet uns wie eh und je", schreibt Anderson.

Das habe die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer so geschwächt, dass die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags kaum noch frei zu nennen sei. Nur einige wenige Hochqualifizierte wie Uniprofessoren oder Topmanager seien in der Lage, über die Bedingungen ihrer Anstellung zu verhandeln.

Situation in Europa

Andersons Diagnose bezieht sich auf die Vereinigten Staaten und ist nicht als Blaupause für andere Industrienationen zu sehen. In Österreich sind die Arbeitsschutzgesetze erheblich strenger, auch in Deutschland. Letzteres nennt die Philosophin mehrmals als Beleg dafür, dass auch ein sozial gestalteter Arbeitsmarkt wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Doch auch in Deutschland und hierzulande nehmen prekäre Arbeitsverhältnisse, wie etwa in der Leiharbeit oder der sogenannten Gig-Economy, zu.

Naheliegend, dass sich Andersons Lösungen für das Dilemma an Europa orientieren: mehr betriebliche Mitbestimmung, eine (branchenweite) Vertretung durch Gewerkschaften, Tarifverhandlungen seitens des Gesetzgebers und den Arbeitnehmerschutz mit einer Grundrechtecharta erhöhen. Sie sollen helfen, "wenn klar ist, dass weder staatliche Gesetze noch Marktregelungen ausreichen, um mit diesen Problemen fertigzuwerden".

Immerhin sind in den USA nur rund elf Prozent der Beschäftigten und 6,6 Prozent derjenigen im privaten Sektor von Gewerkschaften vertreten. In Österreich sind es rund 28 Prozent, etwas weniger als die Hälfte der österreichischen Betriebe haben einen Betriebsrat, zeigen Statistiken. Die Gewerkschaften in Deutschland seien ein Gegengewicht zu den Großkonzernen, sagt Anderson in einem Interview mit der Wirtschaftswoche . Ihre Lage sei "noch nicht so besorgniserregend" wie in den USA. Doch importierten die Europäer "schlechte, neoliberale Ideen aus den USA – dabei sollte der Ideenaustausch eher andersherum laufen". (Selina Thaler, 8.6.2019)

Das Buch: Elizabeth Anderson, "Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)". € 28,80 / 259 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2019 
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