Die FDP wolle mitregieren, sagt Christian Lindner. Im stern-Interview erklärt der FDP-Chef, warum er Ausgangssperren für das falsche Mittel hält und weshalb er sich eine Gesellschaft nach dem Vorbild des Pharmakonzerns Biontech wünscht.
- Von Sebastian Späth und Nico Schnurr
Herr Lindner, die FDP erhält derzeit ungewöhnlich viel Zuspruch, indem sie den Corona-Kurs der Bundesregierung kritisiert. Wie froh sind Sie, dass Sie gerade nicht in Regierungsverantwortung im Bund sind?
Gar nicht froh. Im Gegenteil. Es wäre zu begrüßen, wenn CDU/CSU und SPD auch Anregungen der Freien Demokraten aufnehmen würden. Wir verbinden Kritik immer mit Gegenvorschlägen, weil wir die Bereitschaft haben, selbst Regierungsverantwortung zu tragen. Zum Beispiel schlagen wir seit April 2020 vor, dass Betriebe und Selbstständige Verluste der Pandemiejahre voll mit der Steuerlast der Vorjahre verrechnen können. Das ist eine unbürokratische Hilfe. Darauf wartet man bis heute. Nehmen Sie das Infektionsschutzgesetz. Wir wollen nicht mehr notwendige Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte zurücknehmen, Modellprojekte wie in Tübingen erhalten, die starre Fokussierung auf die 100er-Inzidenz überwinden und Ausgangssperren streichen. Es ist bedauerlich, dass unsere Änderungsanträge keine Mehrheit gefunden haben.
Sie haben beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen das veränderte Infektionsschutzgesetz eingereicht. Warum?
Ausgangssperren sind kein wirksames Mittel zur Pandemiebekämpfung. Untersuchungen aus Frankreich stellen den Nutzen infrage. Die Landesregierung in Schleswig-Holstein, übrigens ein Gesundheitsminister der FDP, hat zu Beginn des Jahres in Flensburg eine Ausgangssperre verhängt. Heute bilanziert sie, dass diese Maßnahme den geringsten Beitrag zur Eindämmung des Pandemiegeschehens geleistet habe. Das sollte man ernst nehmen. Die fragwürdige Wirksamkeit hat dennoch einen schwerwiegenden Eingriff in Grundrechte zur Folge. Und dies automatisch nur auf der Basis der gegriffenen 100er-Inzidenz. Das ist unverhältnismäßig.
Sie haben Ausgangssperren als "Symbolmaßnahme" bezeichnet. Ist Ihre geplante Beschwerde nicht genau das: eine Symbolmaßnahme?
Würden wir nicht umgekehrt unsere Aufgabe als Bürgerrechtspartei verfehlen, wenn wir Bedenken zur Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns ignorieren würden? Ich habe mich daher gewundert, dass die Grünen einerseits wie wir die verfassungsrechtliche Problematik beklagen, sich aber andererseits nur enthalten haben. Und dies wohl vor allem, weil die Grünen mehr Lockdown als Frau Merkel wollten. De facto wären bis zu den Sommerferien alle Schulen geschlossen worden. Dabei habe ich jetzt schon große Sorgen um Kinder und Jugendliche, aber auch um die Mütter, die oft immer noch die Hauptlast in den Familien tragen. Da muss uns in den Schulen Klügeres einfallen, zumal ein Impfstoff für die Jüngsten noch nicht verfügbar ist. Um es klar zu sagen, das Grundgesetz erlaubt Grundrechtseingriffe zur Gefahrenabwehr. Sie müssen aber verhältnismäßig sein.
Warum ist das aus Ihrer Sicht bei nächtlichen Ausgangssperren nicht der Fall?
Dass die Härte dieser Maßnahmen nicht in Relation zu ihrer Wirksamkeit steht, ist ein Aspekt. Der andere ist, dass Maßnahmen, die sich den Menschen nicht erschließen, einen negativen Effekt auf die Akzeptanz der gesamten Corona-Maßnahmen haben können. Das politische Krisenmanagement kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen akzeptieren, den Regeln zu folgen, weil sie einleuchtend sind.
"Stimmen Sie für das Leben!" – so hat der CDU-Bundestagsfraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus für das erneuerte Infektionsschutzgesetz geworben. Ist die FDP also gegen das Leben?
Was wäre aus FDP-Sicht die Alternative zum verschärften Infektionsschutzgesetz und den Ausgangssperren?
Wo die pandemische Lage besonders bedrohlich ist, muss man die Zahl der Kontakte pro Haushalt reduzieren – allerdings würde ich die geimpften Menschen ausnehmen. Man darf bestimmte Angebote nur mit negativem Test zugänglich machen und muss zugleich die Zahl der Tests erhöhen. Und man muss auf Homeoffice hinwirken, wo es möglich ist.
Wie wollen Sie die Arbeitswelt denn noch stärker in die Pflicht nehmen?
Die größte Zahl der Betriebe und Beschäftigten handelt sehr umsichtig. Viele testen aus eigenem Interesse öfter, als die Politik es ihnen jetzt auferlegt. Bei der noch nicht überzeugenden Teststrategie sehe ich eher den Staat in der Verantwortung. Ich verstehe auch nicht, dass einerseits eine Testpflicht beschlossen wird, andererseits aber die Angebote, die Betriebsärzte in den Impfprozess einzubeziehen, noch nicht angenommen wurden.
Dafür müsste das Impfen schneller gehen.
Ja. Wir sollten die Millionen Dosen Impfreserven auflösen und den Menschen zur Verfügung stellen. Die Zeit zwischen Erst- und Zweitimpfung sollten wir strecken. Der niedergelassene Bereich sollte voll einbezogen werden, die Fixierung auf die öffentlichen Impfzentren können wir beenden.
Meinen Sie, das reicht aus, um eine Wende zu schaffen?
Während der Wochen, die wir auf die großen Lieferungen noch warten müssen, könnte man so das Tempo erhöhen. Daneben sollten wir die gesundheitliche Aufklärung verstärken, zum Beispiel auch durch Angebote in verschiedenen Fremdsprachen. Wir müssen stadtteilbezogen eine aufsuchende Aufklärungsarbeit leisten.
Die AfD bezeichnet beispielsweise arabische Großfamilien als Infektionstreiber. Da gehen Sie offenbar mit – verpackt in schönere Worte.
Ihre Entgegnung wird dem Ernst der Lage auf den Intensivstationen nicht gerecht. Es geht dabei nicht um ethnische oder kulturelle Fragen, sondern um Sprachbarrieren, beengte Wohnverhältnisse und Jobs, in denen Homeoffice nicht möglich ist.
Knapp 50 Prozent der Befragten des ARD-Deutschlandtrends sprechen sich für schärfere Corona-Maßnahmen aus, etwa 24 Prozent halten die aktuellen Maßnahmen für gerechtfertigt. Welches Angebot hat die FDP für diese Menschen, auch im Hinblick auf die Bundestagswahl?
Unsere Pandemiepolitik richten wir nicht an Umfragen aus. Bei der Bundestagswahl wird es aber um anderes gehen. Dass es große Veränderungen geben wird, ist klar. Die Frage ist, welche Richtung wir der Veränderung geben. Deutschland sollte moderne, digitaler und freier werden. Die Freien Demokraten können gute Beiträge leisten, den Menschen das wirtschaftliche Vorankommen zu erleichtern, den Staat handlungsfähig zu machen und Technologien zu etablieren, die Klimaschutz zu einem Wachstumsmotor und Exportschlager machen können. Wir werben aber ausdrücklich damit, dass die FDP eine besonders große Sensibilität für die Freiheit der Menschen und ihre Grundrechte hat. Das gilt über die Pandemiepolitik hinaus.
Nur dass über 70 Prozent der Befragten des ARD-Deutschlandtrends die Freiheitsvorstellungen der FDP nicht teilen. Haben die Deutschen ein gestörtes Verhältnis zur Freiheit?
Wie will die FDP das ändern?
Indem wir Selbstverantwortung, Eigenvorsorge und Kreativität nach und nach mehr Raum geben. Wer beklagt denn nicht die Bürokratisierung? Warum macht der Staat es Familien immer schwerer, den Traum von der eigenen Wohnung oder dem Haus zu erreichen? Wir plädieren für einen Staat, der dem Markt klare Regeln gibt. Er muss in den Kernaufgaben wie Bildung, Infrastruktur, Sicherheit wieder überzeugen. Wir brauchen eine Solidargemeinschaft, die sicherstellt, dass man im Falle eines Schicksalsschlages nicht ins Bodenlose fällt. Aber dann bräuchte es doch mehr Raum dafür, seine Persönlichkeit zu entwickeln, Ideen zu verwirklichen und Neues hervorzubringen. Biontech könnte für unsere Gesellschaft eine Inspiration sein.
Wie meinen Sie das?
Biontech, mit dem Forscherehepaar Özlem Türeci und Uğur Şahin an der Spitze, steht für mich beispielhaft dafür, wohin wir uns entwickeln sollten: eine Gesellschaft, die sich durch Vielfalt bereichert sieht. Wo Start-ups wachsen und segensreiche Innovationen hervorbringen. Eine Gesellschaft, die ein Bildungssystem schafft, das allen Chancen bietet, unabhängig von der Herkunft. In der beide Geschlechter die gleichen Möglichkeiten haben. Eine Gesellschaft, in der frei geforscht werden darf, ohne dass es Verbote gibt, wie sie etwa bei der Gentechnik immer wieder gefordert wurden.
Wie soll das Modell Biontech gelingen?
Mit einer Gründerkultur, in der wirtschaftliche Dynamik und private Investitionen nicht behindert, sondern gefördert werden. Mit einem modernen Einwanderungsrecht. Mit mehr Verantwortung des Bundes für die Modernisierung des Bildungssystems. Und indem wir mit überkommenen Rollenbilder von Männern und Frauen brechen.
Weniger Bürokratie, mehr Digitalisierung – das sind klassische FDP-Themen. Hat es erst eine Pandemie gebraucht, damit sie beliebter werden?
Die Pandemie hat Entwicklungen beschleunigt und Defizite offengelegt, die man jetzt nicht mehr leugnen kann. Es ist deutlich geworden, wie rückständig Verwaltungen, Gesundheitsämter und Schulen in diesem Bereich sind.
Die FDP will nach der bevorstehenden Bundestagswahl mitregieren, Verantwortung übernehmen, den Fehler von 2017 wiedergutmachen. Nur braucht es die FDP anders als 2017 wahrscheinlich nicht zum Regieren. Wie sehr stehen Sie unter Druck?
Wir haben damals Nein gesagt zu einem Bündnis, in dem die bekannte Regierungspolitik von Frau Merkel fortgeführt werden sollte, ergänzt um Zugeständnisse an die Grünen. Wir haben 2017 nicht Karrieren zum Beispiel als Vizekanzler und Finanzminister gestartet, sondern loyal zu unseren Wahlzusagen gestanden. Damit werben wir, denn auf unser Wort ist Verlass. Mit der FDP wird es zum Beispiel keine höhere Steuerlast der Einkommen der Beschäftigten oder derjenigen geben, die Verantwortung für Arbeitsplätze tragen. Alles andere würde den Aufschwung nach der Krise auch gefährden.
Jamaika ist daran gescheitert, dass die Grünen bei den Verhandlungen alles bekommen haben und die FDP nichts. Obwohl die Grünen der kleinste Partner waren. Wie wollen Sie in diesem Jahr für sich eine bessere Verhandlungsposition sicherstellen?
Jeder der Beteiligten in einer Koalition darf Respekt und Fairness beanspruchen. Bei den Grünen habe ich schon 2017 diese Bereitschaft gesehen, bei der Union ist sie spätestens mit dem Vorsitzenden Armin Laschet vorhanden.
Können Sie nach 2017 überhaupt noch ein zweites Mal Koalitionsverhandlungen platzen lassen?
Hinter der Union liegen einige Chaostage. War das gut oder schlecht für die FDP?
Es ist schlecht für das Land, wenn eine wichtige Partei in solche Turbulenzen gerät. Es ist gut, dass nun die Personalfragen überall geklärt sind.
Marco Buschmann, der Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, hatte in einem internen Papier vor der "politischen Implosion der Union" gewarnt. Ist diese Gefahr mit der Entscheidung, wer Kanzlerkandidat wird, vom Tisch?
Auf das Wahlprogramm bin ich jedenfalls gespannt. Was man von Armin Laschet bisher inhaltlich hört, das sind ja vor allem die Projekte seines Koalitionspartners FDP. Die Entfesselung von Bürokratie, die er für Staat und Wirtschaft fordert, setzt ja ein liberaler Wirtschaftsminister in seinem Kabinett um. Das ist gut, aber wir hätten noch weitere Ideen.
Die Grünen begeistern mit einer jungen, dynamischen Kandidatin, die für Aufbruch steht, gerade viele Wählerinnen und Wähler. Man könnte vom "Lindner-Effekt" sprechen, von dem die FDP 2017 profitierte.
Ich nehme leider auch Häme wahr, die ich nicht verstehe. Manchmal habe ich den Eindruck, dass trotz der 16 Jahre Angela Merkel da das Geschlecht noch eine Rolle spielen könnte. Das finde ich vollkommen abwegig. Wenn eine Kandidatin aus meiner Generation sich das Kanzleramt zutraut, dann ist das in Ordnung. Dann muss man Inhalte diskutieren, und am Ende werden die Menschen entscheiden.
Haben Sie Angst, dass sich der "Lindner-Effekt" für Sie selbst und Ihre Partei 2021 abgenutzt hat?
Was kann Armin Laschet in Sachen Auftreten und Selbstinszenierung von Ihnen lernen?
Ich lehne physische Merkmale als Kategorie der Politik grundsätzlich ab.
Aber Sie können nicht bestreiten, dass physische Merkmale eine Rolle spielen.
Vielleicht kurzfristig. Auf längere Sicht zählt Charakter.