1 subscription and 0 subscribers
Article

"Behindert" gibt's nicht

Von Sebastian Blum


Region Schwetzingen. Sabine Vogt kaut auf einer Frage nicht einfach herum. Sie studiert sie, mit höflich gefalteten Händen. Dass sie nachdenkt, verrät auf den ersten Blick nur ihr starres Gesicht. Auf den zweiten ihr gezeichnetes Gesicht. Am Ende verraten sie ihre wohl gewählten Worte. "Wenn ich Gemeinderätin in Schwetzingen werde, dann für hilfsbedürftige Menschen." Beinahe so diplomatisch und direkt antwortet sie, wie eine Politikerin mit zehnjähriger Erfahrung auf dem Buckel. Im Volksmund aber gilt sie heute als "behindert". Ein Wort, das ihr überhaupt nicht schmeckt. "Mein Vater hat sich geweigert, dieses Wort zu benutzen", sagt sie stolz.

Jugendliche auf der Straße, die über ihr Aussehen lachen, das lässt Birgit Lausch einfach nicht los. Junge Menschen machen Witze über ihren Rücken. Von ihrer Wohnung in der Berliner Straße aus schaut sie Kindern oft beim Spielen zu. "Eine super tolle Etagenwohnung mit Spielplatz-Ausblick" nennt sie ihr Zuhause und lacht. Gesellig ist sie, optimistisch, und sie spricht, wie ihr die Worte kommen, ganz anders als Sabine Vogt. Sie ist aber nicht weniger politisch. Am liebsten würde sie in den ABW-Rat, das Repräsentationsgremium für Ambulant Betreutes Wohnen, und "frischen Wind in die Angelegenheit bringen". Auf Afrikareisen war sie schon, seit elf Jahren arbeitet sie als Empfangsdame in den Hockenheimer Behindertenwerkstätten und verdient nicht mehr als ein lausiges Taschengeld.

Genau wie Peter Singer, Singer "wie die Nähmaschine", Berufsgärtner mit zwei kaputten Knien. Er macht Hockenheim sauber und schöner, selbst im heißen Sommer, und zwar seit dem 8. September 1989. "Das war freitags", erinnert er sich verblüffend genau zurück. Mit seiner Partnerin wohnt er in Schwetzingen zusammen. Politik ist nicht so seine Sache, im Alltag hat er genug zu kämpfen mit Arzt- und Amtsbesuchen. Er ist vielleicht aber politischer, als er denkt, wenn er Sätze sagt wie: "Es ist wichtig, anderen zu helfen" oder "Ohne die Lebenshilfe hätte ich das nicht geschafft". Außerdem ist er ganz nebenbei Herausgeber und Redakteur der hauseigenen ABW-Zeitschrift, die er layoutet und mit großer Hingabe bestückt.

Mit den dreien hat sich die RNZ getroffen, weil wir wissen wollten, was Politik für hilfsbedürftige Menschen bedeutet. In Baden-Württemberg gibt es etwa kein Inklusives Wahlrecht. Das heißt, Menschen mit einem gewissen geistigen Behindertenstatus dürfen nicht zur Wahlurne. Im Bundesland betrifft das rund 6000 Menschen. Dafür gibt es sogenannte Behindertenbeauftragte auf Landes- und Bundesebene, in Schwetzingen hat der Gemeinderat vor der Sommerpause die Gründung des Beirats und Runden Tischs "Inklusives Schwetzingen" zur Kenntnis genommen. Aber politische Repräsentation auf egal welcher Ebene erfahren Sabine Vogt, Birgit Lausch und Peter Singer nur durch Menschen, die ihre Probleme im Alltag nicht aus Erfahrung teilen können. Sie dürfen zwar wählen gehen, und machen das mit Überzeugung. Peter Singer stimmt gerne per Briefwahl ab, Birgit Lausch geht ins Wahlbüro, und Sabine Vogt sagt: "Wenn ich einen Brief bekomme, dann mache ihn auf und gehe wählen." Ihrem Vater musste sie abends aus der Zeitung vorlesen. Auch wenn ihr das nicht immer Spaß gemacht hat - dadurch wurde sie schon früh politisch. Und trotzdem: "In der Öffentlichkeit fühlt man sich falsch behandelt", sagt Birgit Lausch.

Die Repräsentation scheitert manchmal schon am komplizierten Politikersprech. Wenn die drei Hilfe brauchen, gehen sie zur Lebenshilfe, da sind sie sich einig. "Wo wären wir ohne sie gelandet? Auf der Straße!", sagt Sabine Vogt ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Es war immer ihr Traum, Sozialpädagogin zu werden, mit Kindern und älteren Menschen zu arbeiten. Heute, mit 62, arbeitet sie ebenfalls in der Hockenheimer Werkstatt, in der Elektroabteilung. Früher war sie "draußen" angestellt, in der richtigen Welt. Noch heute wundert sie sich, wie das alles anders werden konnte. "Meine Behinderung habe ich erst ,lernen' müssen." Wie gesagt, zu Hause hat es dieses Wort nicht gegeben.

Die nächsten Kommunalwahl ist im Mai 2019. Ob Sabine Vogt tatsächlich für den Gemeinderat kandidiert? Sie faltet die Hände, setzt ein starres Gesicht auf und schweigt. Wie eine Politikerin.

Original