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Salim Superstar

(Der SPIEGEL) 

Global Village: In einem indischen Heim für Straßenkinder lebt ein Junge, der als Schauspieler auf dem Weg zum großen Ruhm ist.


Heimleiter Anjani Tiwari schaut auf die Wanduhr neben seinem Schreibtisch. Er greift zum Hörer, ruft in der Schule an, spricht kurz und legt wieder auf. "Dort ist Salim schon längst weg", sagt er und zuckt mit den Schultern. Der kleine Terrorist lässt mal wieder auf sich warten.

Salim und seine Allüren: Tiwari, Direktor des "Salaam Baalak"-Heims für Straßenkinder in Delhis Stadtteil Paharganj, kennt sie nur zu gut. Denn sein 15jähriger Schutzbefohlener ist seit anderthalb Jahren auf dem Weg zum Star - seit der Kurzfilm "Little Terrorist" für den Oscar nominiert wurde, mit Salim in der Hauptrolle.
Regisseur Ashvin Kumar hatte lange nach einem Darsteller gesucht - und ihn im Salaam Baalak gefunden.

Seine 15-minütige Geschichte erzählte von dem pakistanischen Jungen Jamal, der beim Spielen an der Grenze zu Indien versehentlich einen Cricketball über den Stacheldrahtzaun auf die andere Seite schlägt. Bei dem Versuch, ihn zurückzuholen, wird er von indischen Soldaten beschossen und flieht in ein nahe gelegenes Dorf. Dort nimmt der Brahmane Bhola, ein Angehöriger der obersten Hindukaste, den Jungen aus dem Land des Erzfeindes auf und versteckt ihn vor den Grenzern.

Die cineastische Botschaft: Humanität siegt über eine alte Feindschaft. Das Prädikat: Geheimfavorit für Hollywood.

Klar, dass im filmverrückten Indien der Medienrummel um Salim alle Grenzen sprengte, als die Verleihung näher rückte. Dann endlich kam der große Tag - aber "Little Terrorist" ging leer aus. Stattdessen gewann ein in Nordirland spielendes Sozialdrama. Doch ruhiger wurde es in Paharganj trotzdem nicht.

"Little Terrorist" wurde auf Filmfestivals in Teheran, Gent, Montreal und New York preisgekrönt. Kurze Zeit später verpflichtete Regisseur Kumar den Jungen erneut: diesmal für einen richtigen 90-Minuten-Thriller. "The Forest" heißt das Werk, in dem ein Ehepaar aus Delhi im Dschungel von einem menschenfressenden Leoparden verfolgt wird. Salim, der den Sohn eines Polizisten spielt, steht seither auf dem Sprung zu einer veritablen Kinokarriere.

Schon seine kurze Vita hat drehbuchreife Züge: Mit fünf verlor er bei einer religiösen Prozession seine Eltern aus den Augen. Ein Salaam-Baalak-Mitarbeiter griff das weinende Kind auf und brachte es zu Tiwari. Salim kannte seine Adresse nicht, er konnte auch nicht beschreiben, wo er wohnt. Tagelang suchten sie im Labyrinth der Altstadt nach seinen Angehörigen - vergebens. Salim blieb im Heim.

Zwei Jahre später erkannte Tiwari auf einer Zeichnung des Jungen eine Kirche. Gemeinsam fuhren sie hin und fanden die Eltern wieder. Salim blieb bei seiner Familie, aber zu Hause herrschte blanke Not. Statt eine Schule zu besuchen, musste er mit seinen sechs Brüdern und vier Schwestern auf der Straße Müll aufsammeln. Als Tiwari davon hörte, holte er ihn zurück.

Doch auch sein jetziger Wohnort in Delhis Problemviertel Paharganj hat nichts vom Glanz des fernen Hollywood. Auf der staubigen Durchgangsstraße vor dem Heim liegt haufenweise Müll. Über den engen Nebengassen hängen provisorische Stromleitungen gefährlich tief, flattern Hühner über den brüchigen Betonboden. Die Gegend ist eine Hochburg des Verbrechens in der 14-Millionen-Metropole: Diebstähle, Raubüberfälle, Messerstechereien sind an der Tagesordnung. Mit der drückenden Hitze des manchmal über 45 Grad heißen Sommers steigt die Mordrate.

Und mittendrin: die New Delhi Railway Station, der wichtigste Bahnhof der Stadt mit seinen zahllosen Straßenkindern. Für sie finanzierte die Regisseurin Mira Nair, die in ihrem weltberühmten Film "Salaam Bombay!" das Schicksal solcher Kinder beschreibt, vier Heime: drei für Jungen, eines für Mädchen. Raum und Hoffnung für mehr als 800 Verstoßene und Davongelaufene. In einem entdeckte Regisseur Kumar den talentierten Salim.

Es ist jetzt Nachmittag, die meisten Heimkinder sind von der Schule zurück. Einige sitzen im Gruppenraum, der nachts als Schlafhalle dient, und erledigen ihre Hausaufgaben, andere basteln an Pappmaché-Masken oder üben Texte. Denn die Salaam-Baalak-Kinder führen regelmäßig bei den beliebten Straßentheatern selbstgeschriebene Stücke auf - eine Reverenz an die berühmte Sponsorin.

Ein Junge in Schuluniform betritt den Raum. Er lächelt, fährt sich mit der Hand durch das schwarze Haar, stützt seine Hände in die Hüften und stellt sich vor: "Ich bin Salim!" Um zwei Stunden hat er sich verspätet. Seine Entschuldigung: ein nonchalant durch leuchtend weiße Zahnreihen gegrinstes "Sorry".

Als der Trubel losging, wusste er noch gar nicht, was dieser Oscar bedeutet: "Ashvin hat es mir erklärt." Seine Eltern und Geschwister seien jetzt richtig stolz auf ihn. "Ich habe ihnen Zeitungsausschnitte gezeigt. Die konnten gar nicht glauben, dass da ein Foto von mir drin ist!" Er wolle bald "ganz groß rauskommen", erklärt er selbstbewusst - und Superheld sein in einem der über dreistündigen indischen Action-Liebes-Musical-Schmachtfetzen.

Ashvin Kumar räumt seinem Nachwuchsdarsteller beste Chancen ein. Im Herbst kommt "The Forest" in die Kinos. "Salims Leben wird sich bald noch mehr verändern", sagt der Regisseur. Denn der Junge habe in beiden Filmen brillant gespielt. "Er wird Anfragen aus Bollywood bekommen, da bin ich mir sicher."

Einstweilen predigt er Mäßigung. "Er soll sich auf die Schule konzentrieren, das ist vorläufig wichtiger." Diese Schule allerdings ist ein Privatinstitut, das Kumar für Salim bezahlt. "Er muss gut Englisch können, wenn er erfolgreich sein will."

Schon arbeitet Kumar an seinem nächsten Projekt, Arbeitstitel "Road to Ladakh". Und wieder wird er mitspielen, in einer maßgeschneiderten Rolle: Salim, der kommende Superstar aus den Slums der Megacity Delhi.

DER SPIEGEL 32/2006 Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG.