1 subscription and 5 subscribers
Article

Großbritannien: In der Echokammer

(ZEIT Online)

Der Kampf zwischen Gegnern und Befürwortern des Brexit tobt auch unter den Medien. Das erschwert einen gesellschaftlichen Konsens und beschädigt die politische Kultur.


Auch ein halbes Jahr nach dem EU-Referendum ist die britische Gesellschaft zutiefst gespalten. Viele Anhänger der Bleiben-Kampagne, die Remainer, werfen den Brexit-Unterstützern vor, sie seien Hinterwäldler, die rassistische Ressentiments hegten und außer Stande seien, komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Die Brexit-Anhänger halten den EU-Unterstützern hingegen oft entgegen, sie seien Mitglieder einer arroganten urbanen Elite, die schon lange nicht mehr wisse, was sich im Land wirklich abspielt.

Nichts deutet darauf hin, dass sich beide Seiten in absehbarer Zeit entgegenkommen könnten. Ganz im Gegenteil: Der Ton verschärft sich. Denn jetzt kämpfen beide Lager dafür, ihre Version des EU-Austritts durchzusetzen. Und dieser Kampf spielt sich immer stärker in den Medien ab.

Ein aktuelles Beispiel: Der überraschende (und undiplomatische) Rücktritt des britischen EU-Botschafter Ivan Rogers diese Woche. EU-freundlichere Medien wie der Guardian, der Independent und die Financial Times stürzten sich auf das Thema. Sie werteten den Rücktritt als ultimativen Beleg dafür, dass die Regierung dabei sei, das Land mit ihrer Konzeptlosigkeit ins Chaos zu stürzen. Ganz anders die rechtslastige Daily Mail, die stramm auf der Seite der Brexit-Unterstützer steht: Sie bezeichnete Rogers als einen "ehemaligen Handlanger" des früheren Premiers Blair, der die Bürokratie "korrumpiert" habe. In einem Kommentar heißt es: "Das proeuropäische Lager hat endlich einen Helden gefunden für seinen antidemokratischen und bitteren Versuch, den Willen des britischen Volkes zu untergraben."
Nicht viel anders klang es im konservativen Daily Telegraph. Rogers habe mit seiner Kritik an der Regierung "seine Pflichten verletzt", schrieb das Kommentarteam der Zeitung. Rogers scheine das Austrittsvotum im Juni für einen Fehler zu halten und habe zwar "ein Anrecht auf seine Meinung", heißt es weiter. "Aber es stand ihm nicht zu, diesen Eindruck so öffentlich zu machen, wie er es getan hat." Damit habe er der Regierung Schaden zugefügt.

Das waren noch vergleichsweise zurückhaltende Worte – verglichen mit der Berichterstattung Anfang November, als sich der Telegraph zu einer regelrechten Entgleisung hinreißen ließ. Ein Gericht in London hatte damals entschieden, dass die Regierung die Zustimmung des Parlaments einholen muss, bevor sie den EU-Austritt in Gang setzen darf. Die Daily Mail druckte daraufhin auf der Titelseite die Fotos der drei Richter ab, die das Urteil gefällt haben, untertitelt mit den Worten "Feinde des Volkes".
   
Selbst für ein Revolverblatt wie die Daily Mail war das ein herausstechend aggressiver Titel. Doch auch der Daily Telegraph entschied sich für eine ähnliche Titelseite: Auch da prangten die Bilder der drei Richter auf der Titelseite. Die Überschrift: "Die Richter versus das Volk". 
Die Titel haben viele Briten alarmiert. Schließlich hat nur wenige Tage vor dem EU-Referendum im Juni ein bekennender Rassist die Labour-Politikerin Jo Cox in ihrem Wahlkreis in Nordengland auf offener Straße angegriffen und regelrecht hingerichtet. Als ihn der Haftrichter nach seinem Namen fragte, entgegnete der mutmaßliche Täter: "Tod für Verräter, Freiheit für Britannien". Die Befürchtung, dass weitere politische Fanatiker solche Titelseiten als Aufruf zur Gewalt verstehen könnten, ist nicht weit hergeholt.

Der Kampf um die Zukunft des Landes

Es spricht Bände über die Verfassung eines Landes, wenn sich selbst eine respektable Traditionszeitung wie der Daily Telegraph so stark auf die Seite der extremsten Brexit-Befürworter schlägt. Denn die sind selbst unter Tory-Wählern, die den Großteil ihrer Leser ausmachen, nur eine Minderheit.

Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass Zeitungen unterschiedlichen politischen Ausrichtungen folgen. Das Problematische an der derzeitigen Berichterstattung in den britischen Medien ist jedoch, dass auch die nachrichtliche Berichterstattung von der jeweiligen Blattlinie gegenüber dem Brexit geprägt ist. Die EU-freundlicheren Blätter (Guardian, Independent, Financial Times) gehen in dieser Hinsicht subtiler vor als die Blätter aus dem Brexit-Lager. Doch auch da werden schnell Meldungen, die ein eher düsteres Bild zeichnen, schnell zu Titelgeschichten überhöht, während Berichte über positive wirtschaftliche Entwicklungen oft sichtbar kleiner gefahren werden oder gar nicht auftauchen. Die Pro-Brexit-Blätter wiederum weisen schnell Vorbehalte gegen den Brexit-Kurs der Regierung oder Warnungen vor wirtschaftlichen Einbußen als Versuche zurück, den "demokratischen Willen des Volkes" zu torpedieren. Gerade so, als hätten 90 Prozent der Briten für den EU-Austritt gestimmt und nicht 51,9 Prozent.

Und so bespielen beiden Seiten weiter ihre Echokammern. Damit tragen sie dazu bei, dass der Raum für einen gesellschaftlichen Konsens immer kleiner wird, je weiter der Brexit-Prozess voranschreitet – mit unabsehbaren Folgen für die politische Kultur des Landes. Premierministerin Theresa May hat diese Gefahr zum zentralen Thema ihrer Neujahrsansprache gemacht. May räumte ein, dass das Land zutiefst gespalten ist. Sie appellierte an die Briten, sich nicht länger als Leave- oder Remain-Wähler zu betrachten, sondern als "ein großartiger Zusammenschluss von Menschen und Nationen mit einer stolzen Geschichte und einer strahlenden Zukunft". Sie werde sich bei den Verhandlungen mit der EU "für jede einzelne Person in diesem Land" einsetzen.

Doch in Wirklichkeit hat der Streit um die Zukunft des Landes gerade erst begonnen.