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Phosphat-Werk in Tunesien: Dreckschleuder und Wirtschaftsmotor

2.2.2019 _NZZ

Seit Jahrzehnten leidet die Stadt Gabès unter den Folgen der tunesischen Phosphat-Industrie. Nun gibt es erstmals konkrete Pläne zur Verlegung und Modernisierung der umweltschädlichen Chemiewerke. Doch auch diese stossen auf Widerstand.

Der Südwestwind pfeift über die Hauptstrasse von Menzel Habib. Er treibt in Böen ockerfarbenen Sand vor sich her, der sich in jeder Ritze festsetzt. Rechts und links der Nationalstrasse 15 stehen einige Häuserreihen, vor dem Gymnasium warten Schülergruppen auf den Bus. Sonst ist das Zentrum der kleinen Gemeinde im tunesischen Hinterland an diesem Freitagmittag fast menschenleer. Aus den Lautsprechern der Moschee tönt weithin hörbar eine Koranrezitation. Gleich geht das Freitagsgebet los. Fast übertönt der Lautsprecher des Minaretts die erregte Diskussion im Sitzungssaal der spartanisch eingerichteten Stadtverwaltung, die direkt neben dem Gotteshaus liegt. Bis auf den Flur drängen sich die Bewohner der 10 000-Einwohner-Gemeinde, drinnen versucht die Bürgermeisterin Bornia Ajmni alle zu Wort kommen zu lassen.

Auf dem Gebiet der Kommune soll ein Industriegebiet geschaffen werden, zwei Standorte sind in der engeren Wahl. Dorthin sollen grosse Teile der Phosphat-Werke verlegt werden, die derzeit in Gabès stehen, dem sechzig Kilometer entfernten Hauptort des Verwaltungsbezirks an der Mittelmeerküste. Seit die tunesische Regierung den Umzug Anfang Dezember verkündet hat, ist Menzel Habib in Aufruhr: Kurzerhand wurde ein eintägiger Generalstreik ausgerufen, die Gemeindeverwaltung protestierte öffentlich gegen die Entscheidung aus der Hauptstadt Tunis.

Er habe nicht genug Informationen, um die Lage einschätzen zu können, beklagt sich ein älterer Herr in der Stadtverwaltung. "Wenn die hier nur ihren Müll ablagern wollen: Nein danke!" Sollte aber die ganze Fabrik einschliesslich der mehreren tausend Arbeitsplätze verlegt werden, sei das Unterfangen vielleicht gar keine schlechte Idee für die strukturschwache Region. Ein anderer Bürger widerspricht. Eine Katastrophe sei das. Wegen des starken Windes hier in der Gegend würden sie in Menzel Habib ersticken, wenn die Fabrik hierherverlegt werde.

Entscheidung von oben

Bürgermeisterin Bornia Ajmni ist erst seit wenigen Monaten im Amt. Sie wurde gewählt bei den ersten Kommunalwahlen Tunesiens nach dem politischen Umbruch im Jahr 2011. Diese sollten eigentlich die Rolle der Kommunen stärken. Doch die Bürgermeisterin beklagt, dass die Regierung beim Phosphat-Werk über die Köpfe der Bewohner und des Stadtrats hinweg entschieden habe. "Wir befinden uns hier sowieso schon in einer benachteiligten Gegend, und nun will die Regierung das einfach so von oben durchsetzen." Dabei schreibe das Gesetz eigentlich vor, dass die lokalen Gremien ein Mitspracherecht hätten, so die Anwältin. Die Bürger hätten von den Plänen jedoch erst aus der Presse erfahren.

Ajmni teilt mit den Bewohnern von Menzel Habib die Befürchtung, dass es hier eines Tages so aussehen wird wie in Gabès, der 140 000-Einwohner-Stadt am Mittelmeer. Dort haben die staatlichen tunesischen Chemiewerke (Groupe Chimique Tunisien, GCT) 1972 die grösste Phosphat-Fabrik des Landes eröffnet. Der damalige Präsident Habib Bourguiba hatte den Bewohnern blühende Landschaften und ein südtunesisches Wirtschaftswunder versprochen. Heute liegt die Stadt unter einer Wolke aus Industrieabgasen. Ein beissender Geruch von Ammoniak liegt in der Luft, der Strand der Oase von Chatt Essalam, der weltweit einzigen Oase direkt am Meer, ist pechschwarz. Einige Palmen stehen vertrocknet am Wegesrand. Viele Bewohner sehen das als den grössten Umweltskandal am Mittelmeer.

Zwischen 13 000 und 14 000 Tonnen Phosphorgips leitet die GCT jeden Tag ins Meer, rund 5 Millionen Tonnen pro Jahr. Die schwarze Brühe ist ein Abfallprodukt der Umwandlung von Phosphat, mit dem vor allem Düngemittel hergestellt werden. Sie setzt sich auf dem Meeresgrund ab. Der Golf von Gabès sei längst klinisch tot, sagt ein Experte eines EU-finanzierten Umweltprojektes. In einem Umkreis von rund zwanzig Kilometern wachse nichts mehr. Die Fischer der Region müssen weit hinaus fahren, damit ihnen überhaupt noch etwas ins Netz geht. Am Strand werden immer wieder tote Fische und Schildkröten angeschwemmt.

Das Dilemma von Gabès

Seit 2011 formiert sich in der Region um Gabès Widerstand gegen die Fabrik. Mohamed Jridi vom Kollektiv "Stop Pollution" engagiert sich mit anderen vor allem jungen Mitstreitern seit Jahren für einen besseren Schutz der Bewohner der Region. Er fordert, dass internationale Emissionsrichtwerte eingehalten und eine Beobachtungsstelle eingerichtet wird, die Daten über die Auswirkungen auf die Bevölkerung sammelt. Die Luftverschmutzung und ein sinkender Grundwasserspiegel schadeten der Landwirtschaft in der Region, sagt Jridi. Die Emissionen und insbesondere die im Phosphorgips enthaltenen Schwermetalle wie das schwach radioaktive Cadmium führten ausserdem zu massiven gesundheitlichen Schäden in der Bevölkerung. Lokale Mediziner berichten von Fehlbildungen bei Neugeborenen sowie erhöhten Raten von Krebs- und Atemwegserkrankungen in der Region. Offizielle Zahlen gibt es jedoch nicht.

"Dass überhaupt über Umweltthemen gesprochen wird, ist neu. Vor 2011 war das tabu", berichtet Abdeljabbar Reguigui, Vorsitzender des Regionalverbandes der Tunesischen Menschenrechtsliga in Gabès. Doch medizinische Statistiken gebe es nach wie vor nicht. "In diesem Bereich gilt das Gesetz des Schweigens weiterhin." Im Rahmen eines EU-finanzierten Umweltprojekts wurde vor kurzem eine Basisstudie zum Stand der Gesundheit in der Region erstellt. Diese ist jedoch nicht öffentlich zugänglich. Die Chemiewerke selbst waren für eine offizielle Stellungnahme nicht zu erreichen.

Die Schliessung der Werke fordert in der Region gleichwohl niemand, auch die Umweltaktivisten nicht. Das hat vorab damit zu tun, dass die Phosphat-Industrie einer der wichtigsten Zweige der darbenden tunesischen Wirtschaft ist. Abgebaut wird das Phosphat in der Region von Gafsa in Zentraltunesien, nicht weit von der algerischen Grenze entfernt. Von dort wird es für die Weiterverarbeitung nach Gabès transportiert. "Wir leben alle in einem Dilemma, einem täglichen Widerspruch", so Reguigui. "Wir träumen davon, dass wir am nächsten Morgen bei den Chemiewerken eingestellt werden oder dass der Sohn, der Bruder oder die Tochter dort eine Stelle bekommt. Und gleichzeitig träumen wir davon, am nächsten Morgen aufzuwachen, gen Norden zu blicken, wo das Industriegebiet ist, und zu sehen, dass es verschwunden ist."

Dass die Fabrik verschwindet, rückt für Gabès mit den Verlegungsplänen für der Chemiewerke nun zum ersten Mal in greifbare Nähe. Für Mongi Thameur, Gouverneur der Region und Vertreter der Zentralregierung auf regionaler Ebene, wäre das die ideale Lösung. Begeistert erzählt er von den Neubauplänen. Der neuen Anlage bescheinigt er, auf dem neusten Stand der Technik, emissionsfrei und unbedenklich für die Gesundheit der Bevölkerung zu sein. In einem geschlossenen Kreislauf würde das Phosphat verarbeitet und der entstehende Phosphorgips so gelagert, dass keine Giftstoffe in die Umwelt entweichen könnten.

Mongi Thameur zeigt stolz eine vergleichende Analyse der potenziellen Standorte, berichtet von Sportgeländen und Wohneinheiten für die Angestellten. "Die gesamte Region wird von der Umweltverschmutzung befreit werden", sagt er im tiefen Brustton der Überzeugung. Acht Jahre soll der ganze Umzug dauern, von der ersten Studie bis zur Schliessung der letzten Anlage in Gabès und dem damit einhergehenden Rückbau. Auch der Meeresgrund würde gereinigt werden, so Thameur, damit sich das Ökosystem schneller regeneriere. Und für die Umsetzung eines geplanten Touristengebiets südlich der Stadt stünden die Investoren schon in den Startlöchern.

Das grösste Projekt der Geschichte Tunesiens

Für den lokalen Menschenrechtsaktivisten und Gewerkschafter Abdeljabbar Reguigui scheint das zu schön, um wahr zu sein. "Das klingt wie ein Traum." Ihn mache das eher misstrauisch. Auch Bornia Ajmni, die Bürgermeisterin von Menzel Habib, ist skeptisch. In ihrer Gemeinde sei von einem "Todesprojekt" die Rede, sagt sie. "Die Regierung muss ihren Ansprüchen gerecht werden und uns über Vor- und Nachteile aufklären." Dann könnten die Bürger über ihr Schicksal entscheiden.

Man habe in der Tat schlecht kommuniziert, gibt der Gouverneur von Gabès zu. "Das müssen wir verbessern." Mongi Thameur weiss, welches Risiko Kommunikationsprobleme bergen. Ursprünglich sollte nämlich nur eine neue Lagerstätte für den Phosphorgips geschaffen werden, nur rund zwanzig Kilometer von den heutigen Chemiewerken entfernt. Nach jahrelangen Protesten der Bevölkerung wurden diese Pläne aufgegeben. Menschenrechtsaktivist Abdeljabbar Reguigui zeigt Verständnis für die derzeitigen Proteste gegen den neuen Standort in Menzel Habib. "Wir wissen, dass dort eine neue Technik eingesetzt wird, die deutlich besser und weniger umweltschädlich sein wird. Aber die Leute vor Ort müssen überzeugt werden."

Selbst wenn es der Regierung gelingen sollte, die Bevölkerung umzustimmen, ist unklar, wann die Verlegung erfolgen wird. Noch steht die Finanzierung des Projektes nicht. Mehr als 4 Milliarden tunesische Dinar (rund 1,3 Milliarden Franken) sind dafür veranschlagt. Der Umzug der Chemiewerke wäre das teuerste Projekt in der Geschichte Tunesiens seit der Unabhängigkeit 1956. Wo das Geld herkommen soll, ist unklar. Der Gouverneur verweist auf seinen Zeitplan. Die Finanzierungsfrage stehe für eine der kommenden Sitzungen Anfang 2019 auf der Agenda. Geplant sei eine Finanzierung als öffentlich-private Partnerschaft, ausserdem hätten mehrere internationale Geber Unterstützung zugesichert.

Mohamed Jridi von "Stop Pollution" wird angesichts solcher vagen Aussagen ungeduldig. "Wir haben genug von der Politik des Zeitschindens. Es weiss doch jeder, in welcher Wirtschaftskrise wir gerade stecken. Die Regierung kann uns nicht sagen, wo sie das Geld hernehmen will." Der Staat müsse endlich eine Lösung finden, mit der die ganze Region leben könne, fordert er.

Ob also aus dem Umzug in acht Jahren etwas wird und Ende 2026 kein Phosphorgips mehr in den Golf von Gabès abgeleitet wird? "So Gott will", sagt Mongi Thameur seufzend.

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