02.05.2018 | NZZ |
Mit landesweiten Kommunalwahlen soll das Verhältnis der Gemeinden zur Zentralregierung in Tunis neu definiert werden.
Der Wind pustet über die Hauptstrasse von Gremda. Neben einer Tankstelle hat die Partei Nidaa Tounes (Der Ruf Tunesiens) an diesem Nachmittag Quartier bezogen. Wer tankt, bekommt ein Programm in die Hand gedrückt. Walid Kolsi hält mit der einen Hand einen Stapel Flyer fest, damit sie nicht wegfliegen, mit der anderen seine Schirmmütze mit Parteilogo. Der 42-jährige Lehrer will einer der 24 Gemeinderäte werden, die die Bürger der Kommune am kommenden Sonntag wählen werden.
Zum ersten Mal seit dem politischen Umbruch im Januar 2011 finden in Tunesien Kommunalwahlen statt, und zwar in allen 350 Gemeinden des Landes gleichzeitig. Die tunesische Verfassung von 2014 widmet der Dezentralisierung des Landes ein ganzes Kapitel, und die Wahlen sollen einen ersten, wichtigen Schritt auf dem Weg dahin darstellen. Doch das Interesse der Bürger ist gering, nicht nur im 40 000 Einwohner starken Gremda, einem Vorort der Industriemetropole Sfax im Südosten des Landes.
Rund zwei Kilometer weiter haben die Kandidaten von Ennahda (Renaissance) ihr Wahlkampfzelt aufgebaut. Aus den Lautsprechern schallt Musik, wenn Helmi Chaari nicht gerade per Mikrofon den Einwohnern erklärt, warum sie ausgerechnet seiner Partei ihre Stimme geben sollen. Chaari ist auf Platz 24 der Liste zwar nur Zählkandidat, doch gleichzeitig als Wahlkampfleiter aus der Kampagne nicht wegzudenken. Er verspricht eine bessere Infrastruktur, mehr Grünflächen und ein städtisches Schwimmbad für die Bewohner. Das Programm der islamisch-konservativ geprägten Ennahda klingt ähnlich wie bei Nidaa Tounes. Auch dort spricht Walid Kolsi von der Verbesserung städtischer Infrastruktur und einem Schwimmbad für die Gemeinde. Nidaa Tounes wurde einst als säkulares Gegengewicht zu Ennahda gegründet, doch auf nationaler Ebene koalieren die beiden konservativen Volksparteien bereits seit den Parlamentswahlen Ende 2014.
Dass sich die Programme der sechs Parteien und unabhängigen Listen, die in Gremda antreten, ähneln, hat aber noch andere Gründe. Denn wer in der Stadt politisch aktiv ist, weiss längst, was für die Bürger Priorität hat. Im September 2016 hat die Gemeindeverwaltung freiwillig ein aufwendiges Bürgerbeteiligungsverfahren gestartet. Dabei können die Anwohner in einer Versammlung festlegen, welche Infrastrukturprojekte als Erstes angegangen werden sollen, sei es die Ausbesserung des Trottoirs, neue Strassenbeleuchtung oder eben ein Schwimmbad.
Bahri Mathlouthi, Generalsekretär der Stadt, ist als Verwaltungschef für die Bürgerbeteiligung zuständig. Seine erste Bilanz des Pilotprojekts ist positiv: Das seit der Diktatur gestörte Verhältnis zwischen Bürgern und Staat habe sich dadurch verbessert. "Die Bewohner haben wieder Vertrauen in die Verwaltung und passen besser auf die öffentlichen Güter auf."
Ab diesem Jahr werden alle tunesischen Kommunen die Anwohner in die Entscheidungsfindung einbinden müssen: Die obligatorische Bürgerbeteiligung ist ein Kernstück des neuen Gesetzes über Gebietskörperschaften. Dieses Konvolut aus rund 400 Artikeln, das die Zuständigkeiten der Kommunen neu regelt, wurde in letzter Minute Ende April im tunesischen Parlament verabschiedet - zu spät für die Kandidaten, die gar nicht genau wussten, um welche Posten sie sich bei den Kommunalwahlen eigentlich bewerben, aber noch rechtzeitig für die Wähler, die jetzt immerhin wissen, welche Aufgaben die Volksvertreter nach dem Urnengang haben werden.
Das Gesetz garantiert den Gemeinden mehr Unabhängigkeit von der Zentralregierung. Es ist jedoch nur ein erster Schritt: Viele Fragen zur konkreten Umsetzung der Dezentralisierung sind noch offen. Eine Reihe an weiteren Gesetzen soll folgen, die unter anderem die kommunalen Finanzen regeln werden. Doch bis alles verabschiedet und umgesetzt ist, wird es noch Jahre dauern.
Verwaltungsangestellte wie Bahri Mathlouthi sehen mit dem neuen Gesetz vor allem mehr Arbeit und mehr Verantwortung auf sich zukommen. Trotzdem sei die eingeläutete Veränderung notwendig. "Früher hat immer die Regierungspartei gewonnen, es gab nicht mal Oppositionsvertreter." Zu diesem System wolle man nicht zurück.
Trotz der Reihe an Neuerungen befürchten Beobachter, dass die Wahlbeteiligung am Sonntag gering ausfallen wird. Umfragen von Anfang Jahr gehen davon aus, dass nur 30 bis 40 Prozent der registrierten Wähler ihre Stimme abgeben werden. Am vergangenen Sonntag waren bereits die tunesischen Sicherheitskräfte an die Urnen gerufen. Sie durften zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wählen. Hier lag die Beteiligung bei gerade einmal zwölf Prozent.
Auch in Gremda winken viele Bewohner bei der Frage nach den Kommunalwahlen nur müde ab. Das lohne sich sowieso nicht, so der Tenor. Dass die Kommunalwahlen fünfmal verschoben wurden, bis sie jetzt tatsächlich stattfinden, die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes und der weitverbreitete Frust über die Politiker in der oft fernen Hauptstadt Tunis führen dazu, dass sich viele Bürger von der Politik abwenden.
Immerhin kenne man auf lokaler Ebene die Kandidaten, sagt Adnen Sahnoun, der auf jeden Fall wählen gehen will. "Das ist doch eine einmalige Gelegenheit, da werde ich meine Stimme nicht verschenken." Er vertraue darauf, dass am Ende eine gute Mischung im Stadtrat vertreten sein werde. Das tunesische Wahlgesetz schreibt vor, dass die Listen paritätisch mit Männern und Frauen besetzt sein müssen. Auch ein bestimmter Prozentsatz von jungen Kandidaten muss vertreten sein.
"Wir versuchen zu erklären, warum Kommunalwahlen für die Bewohner der Stadt wichtig sind und wie sie die Realität hier verändern können", sagt Helmi Chaari von Ennahda. Doch die nationale Politik habe einen negativen Einfluss auf den Wahlkampf, gibt er zu. "Die Leute sagen uns: Das hier ist eure letzte Chance." Dass sich die nationale Politik mit ihren Grabenkämpfen auf die lokale Ebene übertrage, sei ungesund für das Land und seine Demokratisierung, so Nessryne Jelalia, Leiterin der Nichtregierungsorganisation Al Bawsala (Der Kompass), die die Arbeit der Kommunen und des Parlaments überwacht, um mehr politische Transparenz zu schaffen. "Eine niedrige Wahlbeteiligung sollte eine Warnung an unsere Politiker sein."
Vor allem die unabhängigen Listen hoffen, vom Misstrauen in die Parteien zu profitieren. Fast 900 sind es landesweit, in Gremda treten drei von ihnen an. Das Büro von Gremda Ghodwa Khir (Gremda wird es morgen besser gehen) befindet sich in einem modernen Bürogebäude. Spitzenkandidat Nader Sahnoun, ein bekannter Unternehmer in der Stadt, will den enttäuschten Wählern eine Alternative bieten. "Bei uns entscheiden die Bürger, nicht die Parteizentrale in Tunis", so lautet seine Devise. Ausserdem seien die Kandidaten politisch unbelastet und jünger als bei den etablierten Parteien.
Bahri Mathlouthi denkt unterdessen darüber nach, wie er die Bürgerbeteiligung in Gremda unabhängig von den Wahlen noch verbessern kann, "damit die Bürger nicht nur alle fünf Jahre einen Zettel in die Urne werfen, sondern sich das ganze Jahr über einbringen". Er hätte gerne ein System, das es den Bürgern erlaubt, in jeder Verwaltung Vorschläge abzugeben oder per Internet abzustimmen, "damit in Zukunft nicht nur tausend, sondern zehntausend Einwohner mitmachen".