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Tunesien: Halbherzig gegen radikale Rückkehrer

12.01.2017 - Zeit Online

In Tunesien wird über den Umgang mit Gefährdern debattiert. Kritiker bezweifeln, dass die Regierung mit Tausenden teils gut ausgebildeten Dschihad-Kämpfern klarkommt.

Erst die Ankündigung des Präsidenten, in den Gefängnissen sei gar kein Platz für all die tunesischen Dschihad-Rückkehrer, dann der Anschlag in Berlin und schließlich die Überlegungen deutscher Politiker, dem Land die Entwicklungshilfe zu kürzen: In Tunesien wird derzeit aufgeregt diskutiert, wie man am besten mit extremistischen Rückkehrern aus Kriegsgebieten, aber auch abgelehnten Asylbewerbern ohne Strafregister umgehen sollte.

Dass der tunesische Präsident Beji Caid Essebsi schnell zurückruderte und klarstelle, er hätte gar keine Straffreiheit für Terroristen gemeint, ging dabei fast schon ein bisschen unter. Auch Premierminister Youssef Chahed stellte klar: "Wenn ein Terrorist zurückkommt, wird er verhaftet und unter den geltenden Antiterrorgesetzen verfolgt." Trotzdem protestierten am vergangenen Wochenende mehrere Hundert Menschen gegen die tunesischen Dschihadisten. Am liebsten wäre es ihnen, wenn sie gar nicht erst zurückkämen.

Denn je mehr der "Islamische Staat" (IS) derzeit im Mittleren Osten an Boden verliert, desto mehr wächst in Tunesien die Angst davor, dass diese gewaltbereiten und bewaffneten Tunesier in ihre Heimat zurückkehren. Dabei hatte sich die Situation dort nach den Anschlägen 2015 gegen ein Museum, ein Hotel und einen Bus der Präsidialgarde im vergangen Jahr gerade etwas stabilisiert. Ob die Sicherheitskräfte jedoch auch mit mehreren Tausend teilweise gut ausgebildeten Kämpfern klarkommen, daran zweifeln sowohl Experten als auch die Bevölkerung.


Hohe Anzahl gewaltbereiter Islamisten


Dass Tunesien eine vergleichsweise hohe Anzahl gewaltbereiter Islamisten unter seinen Staatsbürgern hat, ist nicht neu. Bereits 2015 sprachen die Vereinten Nationen von rund 5.000 Tunesiern, die vor allem in Syrien und dem Irak für radikalislamistische Gruppen kämpfen. Die tunesische Regierung geht heute von rund 3.000 Personen aus. Diese seien namentlich bekannt und rund 800 seien bereits nach Tunesien zurückgekehrt. Wie viele es genau sind, wie viele überhaupt noch leben oder vielleicht in syrischen Gefängnissen sitzen, ist schwer zu erfassen, denn viele sind illegal über den Landweg über Libyen ausgereist. Außerdem hat Tunesien die diplomatischen Beziehungen zu Syrien 2012 abgebrochen, sodass es für die Gerichte schwierig ist, Beweise für Verbrechen der Rückkehrer zu erhalten.

Wie mit diesen mutmaßlichen Terroristen umgegangen werden soll, darüber sind sich die Politiker uneins, auch innerhalb der Regierungskoalition. Der politisch-populistische Schlagabtausch der letzten Wochen nimmt jedoch langsam pragmatischere Formen an. Denn die Zeit drängt, um eine praktikable und rechtlich wasserdichte Lösung zu finden.

Uneins sind sich vor allem die beiden großen Parteien der Regierung der Nationalen Einheit, die konservative Volkspartei Nidaa Tounes und die moderaten Islamisten von Ennahdha. Denn mit der von Premierminister Youssef Chahed angekündigten Härte gegen Rückkehrer und dem damit verbundenen Arsenal an rechtlichen Maßnahmen ist die Diskussion innerhalb der Koalition noch längst nicht beendet.


Einem anderen Staat die Treue geschworen


Während Ennahdha zwischenstaatliche Lösungen und Deradikalisierungsmaßnahmen anmahnt, beharren beim Koalitionspartner viele darauf, dass es am besten sei, die Rückkehr potenzieller Gewalttäter zu unterbinden. "Diese Leute haben einem anderen Staat ihre Gefolgschaft geschworen. Sie sehen Tunesien nicht mehr als ihr Land an", sagt der Abgeordnete Abdelaziz Kotti in Hinblick auf IS-Kämpfer. Deshalb hätten sie ihr Anrecht auf ihre Staatsbürgerschaft verwirkt und Tunesien könne ihnen die Einreise verweigern.

Doch so einfach geht es nicht, sind sich Staatsrechtler einig. "Nach der aktuellen Rechtslage ist es unmöglich", sagt der Juraprofessor Slim Laghmani. Artikel 25 der tunesischen Verfassung ist in dieser Hinsicht eindeutig: "Keinem Bürger kann die tunesische Staatsbürgerschaft entzogen werden; er kann weder verbannt noch ausgeliefert werden, noch darf er daran gehindert werden, in sein Land zurückzukehren." Unterdessen warnen linke Oppositionsabgeordnete davor, dass die Debatte um den Entzug der Staatsbürgerschaft dazu genutzt werden könne, eine ganze Reihe von Verfassungsänderungen durchzusetzen, die einen Rückschritt der demokratischen Grundordnung nach sich ziehen würden.


Konsultation von Politik und Zivilgesellschaft

Für Mehrezia Laabidi, Ennahdha-Abgeordnete und ehemalige Vizechefin der tunesischen Verfassungsversammlung, ist diese Diskussion daher reiner Zeitverlust. "Wir sollten eher darüber nachdenken, wie wir mit ihnen umgehen. Die werden ja nicht einfach mit ihrem Bart und einer Kalaschnikow in der Hand an der Grenzkontrolle stehen, sondern auf dem gleichen Weg zurückkommen, wie sie gegangen sind, nämlich illegal."

Der Abgeordnete Abdelaziz Kotti schlägt eine Konsultation von Politik und Zivilgesellschaft vor, um einen gesellschaftlichen Konsens zum Umgang mit den Rückkehren zu etablieren. Einen ähnlichen Vorschlag für einen großen Kongress gegen den Terrorismus hatte bereits der ehemalige Premierminister Habib Essid gemacht. Stattfinden sollte dieser Ende 2015, kam aber nie zustande - für Beobachter ist dies symptomatisch dafür, dass es der Regierung an einer klaren Strategie im Umgang mit islamistischen Gewalttätern fehlt. Unterdessen prangert der Sprecher der Ermittlungseinheit für Terrorfälle der tunesischen Staatsanwaltschaft den eklatanten Personalmangel seiner Institution an: Acht Untersuchungsrichter und vier Stellvertreter kümmern sich um 3.000 Fälle.

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