H aiti, das war schon vor dem Beben vom 12. Januar 2010 Synonym für ein Land auf der Intensivstation. Der verheerende Erdstoß setzte das i-Tüpfelchen auf eine nicht endende Serie von Umstürzen, Unruhen, Naturkatastrophen, Intrigen und Interventionen.
Haiti erklärte 1804 als erstes Land Lateinamerikas seine Unabhängigkeit. Dem vorausgegangen war ein blutiger Aufstand der schwarzen Sklaven gegen die französischen Kolonialherren. Doch die Unabhängigkeit hatte einen hohen Preis: Frankreich forderte 150 Millionen Goldfranken „Entschädigung". Das war zehnmal so viel wie das jährliche Wirtschaftsaufkommen der blühenden Zuckerinsel, die bis 1947 die Zinsen ans ehemalige Mutterland abstotterte. „Koupé tet, boulé kay! ", Köpfe abschlagen und Häuser verbrennen, war die Parole, die Unabhängigkeitskämpfer Jean-Jacques Dessalines ausgegeben hatte. Sie war erfolgreich, aber den destruktiven Keim wurde Haiti seither nicht mehr los.
Das Land verkam zu einer surrealen Polit-Theater-Bühne im tropischen Dekor, auf der sich blutrünstige Putschisten, perfide Diktatoren und größenwahnsinnige Volkshelden ablösten, bejubelt oder erduldet von einer verarmten Bevölkerung. Das Ausland sah sich in seinem rassistischen Vorurteil bestätigt, die Schwarzen seien nicht in der Lage, das Land zu führen. Immer wieder intervenierten vor allem die USA, um die Verhältnisse „zurecht" zu rücken.
Nach dem Beben fiel die Internationale Gemeinschaft erneut massiv ein, um „die Chance beim Schopf zu packen und das Land besser wiederaufzubauen" (so der Ex-US-Präsident und Wiederaufbaubeauftragte Bill Clinton). Vier Jahre später erstrahlt Port-au-Prince in neuem Glanz, und die Regierung von Präsident Michel Martelly wirbt um Investoren.Wer hat beim Wiederaufbau gewonnen, wer verloren?Teil 1
Wo ist das viele Geld geblieben? Warum kommen die Ausländer immer nur kurz vorbei, und dann passiert doch nichts? Und die Regierung, warum kümmert die sich nicht um ihr Volk?" Manchmal kocht die Wut in Samantha Jean-Pierre für einen kurzen Augenblick hoch. Doch meistens braucht die 39-jährige ihre Kraft für andere Dinge. Alltägliche Dinge wie Wasser holen, Wäsche waschen, Essen kochen. Dinge, die bei uns selbstverständlich sind, die aber eine immense Kraft und Organisationstalent verlangen, wenn man in einem Zeltlager lebt so wie Samantha mit ihrem Mann und den vier kleinen Kindern. Zwei kamen auf der durchgelegenen Matratze unter der löchrigen Zeltplane zur Welt.
Samantha Jean-PierreVier lange Jahre schon lebt die Familie im Lager Icare seit diesem fatalen 12. Januar 2010, an dem in Port-au-Prince die Erde bebte und innerhalb von zwei Minuten die Hauptstadt in Schutt und Asche legte. 250.000 Tote, 300.000 Verletzte, 1,5 Millionen Obdachlose. Ein Land in Trümmern, das sich trotz Milliardenhilfe aus dem Ausland nur langsam wieder aufrappelt.
12. Januar 2010 - Das Erdbeben Ortszeit: 16:53 Uhr Stärke: 7,0 M W auf der Momenten-Magnituden-Skala Epizentrum: 25 km südwestlich von Port-au-Prince Opfer: 250.000 Tote, 300.000 Verletzte (Schätzung) Obdachlose: 1.500.000
Port-au-Prince Einwohner: 2.500.000 Ethnien: 95% Schwarze, 5% Mischlinge oder Weisse Camp Icare (Zeltlager): 1.200 Obdachlose Canaan und Corail: 120.000 Siedler aus den zerstörten Vierteln
Wettbewerb der Sponsoren
Das Herz der Macht ist verwaist. Auf dem Marsfeld, wo früher schneeweiß und respekteinflößend der Präsidentenpalast stand - eine Kopie des Kapitols in Washington - wächst englischer Rasen. Das gepflegte Grün suggeriert Ordnung nach dem dramatischen Chaos von 2010. Die Ruinen sind weggeräumt, der Metallzaun ist repariert. Und vielleicht wird Frankreich ja irgendwann sein Versprechen wahr machen und den Palast wieder aufbauen. Doch die Europäer haben längst andere Sorgen, die US-Amerikaner auch. Die skurrile Szene, als sich schwerbewaffnete Marines von Hubschraubern aus auf den verwaisten und zerstörten Präsidentenpalast abseilten, ist Vergangenheit. Die Haitianer sind surreale Machtdemonstrationen dieser Art gewohnt, und an die genaue Zahl der US-Einmärsche erinnert sich kaum jemand. Diesmal war die Mission eine „humanitäre", weshalb die Marines tausende bibelfester Katastrophenhelfer im Schlepptau hatten.
Der eingestürzte Präsidentenpalast im Oktober 2010 ... ... und im September 2013. Baustelle der Ministerien am MarsfeldPräsident Martelly: Haiti ap vanse - Haiti kommt vorwärts.Heute ist der Tross längst abgezogen, und andere haben das Sagen auf dem Marsfeld. Rote Bauzäune und Transparente verkünden rechter Hand des Präsidentenpalastes, dass dort bald Ministerien und der Rechnungshof stehen werden. Finanziert von Venezuela und Taiwan. 90 Prozent der Investitionen im Staatshaushalt stammen aus der Schatulle von Petrocaribe, dem sozialistischen Bündnis, das mit venezolanischen Petrodollars finanziert wird. Präsident Michel Martelly nutzt das geopolitische Tauziehen zwischen den USA und den sozialistischen Staaten Lateinamerikas geschickt aus.
Seit Ende November gab es mehrere Proteste. Anlass ist die Verzögerung der Parlaments- und Kommunalwahlen, die eigentlich 2013 hätten stattfinden müssen. Aber Wahlen, Wahltermine und der Wahlrat sind in Haiti drei Synonyme für politische Krisen. Die Macht zwischen den vielen Clans neu aufzuteilen, ist jedes Mal ein Schlachtfest. Vom Rechtsstaat ist Haiti auch nach zehn Jahren „Staatsaufbau" durch die Vereinten Nationen so weit entfernt wie eh und je. Die internationale Gemeinschaft ist „zutiefst besorgt", zumal es heißt, die Drogenmafia stecke hinter den Demonstrationen, um die Polizei mit anderen Dingen zu beschäftigen. Zumindest politisch scheint der Karibikstaat vier Jahre nach dem Beben zu seiner Normalität zurückgefunden zu haben.
Teil 2
Der Wiederaufbau ist längst kein Thema mehr", sagt der Direktor des bekanntesten, unabhängigen Senders Radio Métropole, Richard Widmaier, in seinem winzigen Büro auf halber Höhe zwischen dem Stadtzentrum und dem reichen Villenvorort Pétionville in den Bergen. Um zu ihm zu gelangen, muss man eine Menge Bauschutt umkurven. Was aufgebaut wurde, ist sichtbar: Der Flughafen, Banken, neue Hotels, Supermärkte und Plätze. Straßen wurden geteert, verbreitert und mit Solarlampen versehen. Ein Hauch der Moderne weht über der Hafenstadt, der Dauer-Verkehrsstau hat sich merklich entzerrt. Und alles, was sonst noch versprochen wurde? Die Häuser für die Opfer? „Niemand geht mehr davon aus, dass das noch gemacht wird", so Widmaier.
Armenviertel hinter dem 5-Sterne Hotel Royal Oasis im Stadtteil PétionvilleDas Sichtbare ist im Land des Voodoos nur eine Maske, reißt man sie ab, kommt ein ganz anderes Gesicht zum Vorschein. Zum Beispiel die Solarlampen: Die Kollektoren wurden von der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti (MINUSTAH) gespendet. Natürlich war es ein Projekt in Kooperation mit der Regierung, schließlich will man die Institutionen stärken. Die Haitianer sollten die Pfosten besorgen und die Laternen aufstellen. Dafür gab es technische Vorgaben. Als die UN-Experten zur Schlussabnahme kamen, waren die Laternen zu niedrig, der Beton minderwertig, und die Pfosten standen viel näher beisammen als veranschlagt. Wunderbar hell erleuchtet war zwar nun die Delmas-Straße auf dem Weg zu Widmaiers Büro, doch für die Rue du Canapé-Vert gab es keine Laternen mehr. Bis sich ein europäisches Geberland breitschlagen ließ, und erneut spendete, um den Beleuchtungsplan zu erfüllen und die Rechtfertigungsnöte der UNO zu beenden.
Nach Plan läuft in Haiti nur selten etwas, fast jeder bürokratische Vorgang verwandelt sich wie von Zauberhand in karibisch-surreale Poesie.
Gespenster und KatasterAuch das glitzernde Marsfeld in Port-au-Prince hat seine verborgene Geschichte, die Geschichte der Unsichtbaren. Wie Gespenster, bedeckt mit weißem Staub, wankten sie nach dem Erdbeben auf den Exerzierplatz. Zu tausenden tauchten sie weinend und schreiend aus den zusammengebrochenen, umliegenden Elendsvierteln auf. Innerhalb von Stunden verwandelte sich das Marsfeld in ein improvisiertes Lazarett. Tage später kamen die Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) mit ihren grauen und blauen Zeltplanen mit den dicken Logos. Jede wollte auf dem gut zugänglichen Platz im Herzen der Stadt eine Latrine aufstellen, Kinder beschulen, Wasser verteilen. Kein Reporter, kein Katastrophenhelfer, der dort nicht Bilder schoss. So kamen die anonymen Slumbewohner zu Weltruhm.
Heute sind sie weg. Aber das lief nicht so wie geplant. Eigentlich sollten in den angrenzenden Armenvierteln wie Fort National, wo Samantha Jean-Pierre früher wohnte, tausende von Sozialwohnungen für die 1,5 Millionen Obdachlosen errichtet werden. Doch die eifrigen Helfer hatten eines nicht bedacht: Haiti hat kein Landkataster, und auf jedes Stück Grund und Boden erheben im Schnitt drei Personen Anspruch. Wessen Papiere gefälscht sind, wessen echt und wessen durch Korruption erschlichen, ist kaum zu entwirren. Das Problem schleppt Haiti praktisch seit der Unabhängigkeit vor sich her, mit der Demokratisierung hat es sich potenziert, und keine Regierung wollte dieses explosive Thema je angehen. Nun hatten die meisten Opfer zur Miete gewohnt, wem Haus und Grundstück gehörten, war unklar. Unter solchen Bedingungen wollte keine NGO Häuser bauen. Wohin also mit den vielen Obdachlosen? Von denen mangels Melderegister auch keiner wusste, wer wirklich ein Erdbebenopfer war und wer einfach nur aus dem Landesinnern gekommen war in der Hoffnung, etwas von den Hilfen abzubekommen.
Marsfeld mit Denkmal zur 200-jährigen UnabhängigkeitZeltlager an der Ausfallstraße nach Léogane im September 2010 Das Armenviertel Fort National vier Jahre nach dem Beben Bildstrecke: Im Armenviertel Fort NationalTeil 3
Die meisten Obdachlosen nahmen ihre paar hundert Dollar und zogen nach Canaan und Corail, 18 Kilometer nördlich der Hauptstadt, weit entfernt von Erwerbsmöglichkeiten. Auf zwei kargen Hügeln, bar jeglicher Infrastruktur, befindet sich die derzeit wohl größte Baustelle des Landes. Hunderttausende zimmern und mauern dort ihre neuen Behausungen: Prekäre Hütten aus Planen neben halbfertigen Steinhäusern und NGO- Notunterkünften aus Sperrholz. Ein planloses Durcheinander, ohne Wasser, ohne Strom, ohne geteerte Straßen. Täglich kommen neue Siedler hinzu, die an immer steileren Abhängen ihre Hütten bauen. Die Entstehung eines Slums in Echtzeit. In ein paar Jahren wird hier ein groteskes Fanal des Wiederaufbaus stehen.
Bildstrecke: In den neuen Slums in Canaan Lukrative Aufträge am Staat vorbei
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Ein Jahr später erhielt Penns neugegründete Hilfsorganisation den Vertrag, um die Ruinen des Präsidentenpalastes abzutragen. Es war nur einer von vielen lukrativen Aufträgen für US-Amerikaner. Laut dem Abschlussberichtder UN-Wiederaufbaubeauftragten Bill Clinton und Paul Farmer sind unter den größten ausländischen Auftragnehmern der Katastrophenhilfe zwei US-Firmen ( Chemonics und Development Alternatives, beides Berater), die dominikanische Baufirma Stern, der französische Konzern Alsthom und die spanische Logistikfirma Elsamex. 90 Prozent der Hilfe lief demnach an der haitianischen Regierung vorbei, etwas mehr als die Hälfte wurde für Personal, Fahrzeuge, Import von Materialien, Vermietung und Verwaltung der Katastrophenhelfer aufgewendet. „So wurde der Staat geschwächt, den wir eigentlich unterstützen wollten", schlussfolgern die Autoren.
Den kritischen Bericht sucht man vergeblich unter dem Werbematerial, das die UN-Organisationen an ihrem Hauptquartier, der sogenannten Logbase, ausliegen haben. Die UNO haust auf Abruf in der Containerstadt am Flughafen, seit das Beben das alte Hauptquartier zerstörte. 2016 soll die Mission der MINUSTAH enden. Das Geld und die Geduld der Mitgliedsstaaten gehen zur Neige. Die erste UN-Mission in Haiti geht auf das Jahr 1990 zurück, als die Organisation die ersten Wahlen nach der Diktatur überwachte. Seither lösten sich diverse Missionen ab. Tausende von Diplomaten wurden durch das Land geschleust, alle drei Jahre wechseln sie im Schnitt.
Video: Sophie de Caen über Herausforderungen beim Wiederaufbau
„Dass die Nothilfe an der haitianischen Regierung vorbei floss, hat einen Grund", rechtfertigt sich Caen, „sie war handlungsunfähig, 35.000 Funktionäre waren tot, fast alle öffentlichen Gebäude zerstört." Heute hingegen führe die haitianische Regierung das Zepter. Aber das Missverhältnis ist enorm.
Finanzielle Mittel für Nothilfe und Wiederaufbau in Haiti (Januar 2010 - Juni 2012) Quelle: Lessons from Haiti. UN-Bericht von Bill Clinton und Paul Farmer, 2012
Nur rund ein Fünftel der finanziellen Mittel für Nothilfe und Wiederaufbau konnte Haiti aus eigenen Staatseinnahmen aufbringen. Deshalb nennt man Haiti NGO- Republik.
Martelly ist das ein Dorn im Auge, weshalb er als allererstes die Steuern auf Finanztransaktionen, Ferngespräche, Alkohol, Zigaretten und Glücksspiel erhöhte und Steuerhinterzieher jagt, um die Staatseinnahmen zu erhöhen und künftig unabhängiger von ausländischer Hilfe zu sein. Um fast ein Drittel konnte er die Steuereinnahmen 2012 steigern. Es wird höchste Zeit: Der Hilfszirkus ist längst weitergezogen zur nächsten Katastrophe, und die Spendenbereitschaft sinkt rapide: „2010 hatten wir eine Milliarde Dollar zur Verfügung, im vergangenen Jahr nur noch 60 Millionen", sagt Caen.
Milchmädchenrechnungen und ein FluchMitreißende Reden sind die Spezialität von Bill Clinton. So wie die vom April 2010, als der ehemalige US-Präsident den Vorsitz der Kommission für den Wiederaufbau in Haiti (IHRC) übernahm: „Durch die Tragödie hat Haiti eine einmalige Chance." „ Build back better ", war das Motto. Alles sollte schöner und besser werden. Die internationale Gemeinschaft versprach insgesamt 13 Milliarden Dollar. Aber der Optimismus schwand schnell.
Das Geld kam tröpfchenweise - wenn überhaupt. Die USA zogen von ihren Zusagen gleich die Kosten für die Militäroperation nach dem Erdbeben ab, einschließlich Laptops und Flugzeugträger. Private Spenden flossen direkt an NGOs, die ihre eigenen Vorstellungen hatten. Zwar richtete die UNO sogenannte „Cluster" ein, wo die Hilfe koordiniert werden sollte, doch die Teilnahme daran war freiwillig.
Der damalige Premierminister Jean Max Bellerive erinnert sich wütend an die Sturheit mancher Hilfsorganisationen: „Eine wollte unbedingt ein Krankenhaus bauen, wenige Blocks neben einem öffentlichen, das nur hätte repariert werden müssen", sagt er. „Ich habe es ihnen verboten, und als ich nach ein paar Tagen wiederkam, hatten sie trotzdem angefangen." Die NGOs haben das anders in Erinnerung: „Vom Staat kam keine Orientierungshilfe, und das war ein Riesenproblem, denn die meisten Helfer hatten keine Ahnung von den Gegebenheiten in Haiti", sagt Olivier Le Gall vom Schweizerischen Roten Kreuz. „Spender und Medien bauten enormen Druck auf; alle wollten möglichst schnell Ergebnisse sehen", erinnert er sich. „Das führte zu vielen Fehlentscheidungen."
Video: Olivier Le Gall, Programmleiter des Schweizerischen Roten Kreuzes, über Lehren aus der KatastropheDen Fluss multilateraler Hilfsgelder zu verfolgen, ist eine Sisyphusarbeit. Dem UN-Bericht zufolge wurde bis Ende 2012 gerade einmal die Hälfte, nämlich 6,3 Milliarden Dollar, überhaupt ausbezahlt. Damit ist das Geld längst noch nicht sinnvoll ausgegeben, sondern lediglich überwiesen an eine durchführende Organisation, deren Projekt genehmigt wurde. Jeder Verwaltungsschritt schluckt bis zu 10 Prozent des Budgets. Bürokratie ist eine erbarmungslose Geldvernichtungsmaschine. Mehr als drei Milliarden Dollar waren für die Nothilfe bestimmt. Ein großer Teil davon wurde für Importe von Nahrung und Trinkwasser vergeudet - bis die Regierung angesichts der drohenden Pleite der heimischen Landwirte dem einen Riegel vorschob. Als im Oktober 2010 die Cholera ausbrach, wurden aus dem gleichen Topf Medikamente, Hygiene-Kits und Präventionskampagnen finanziert. Die Epidemie, allem Anschein nach eingeschleppt von nepalesischen Blauhelmen, ließ den Etat für den Wiederaufbau also weiter schrumpfen.
Die Cholera, so sind die Haitianer überzeugt, ist der Beweis dafür, dass ein Fluch auf der Insel liegt und sich eines Damoklesschwertes gleich jedes Mal senkt, wenn Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist.
Teil 4
Anfang Oktober reichten die Cholera-Opfer in den USA eine Sammelklage gegen die UNO wegen Fahrlässigkeit ein. Nicht nur die Katastrophen wiederholen sich in der Geschichte Haitis, auch die Protagonisten: der Vertreter der Opfer ist Ira Kurzban, ein US-Anwalt, der Clinton und der Demokratischen Partei nahesteht. Er war der Lobbyist von Aristide, als dieser nach seinem Sturz 1991 in die USA flüchtete. Clinton brachte mit einer Militärintervention Aristide zurück an die Macht. Doch der Preis war hoch: Haiti, hoch verschuldet beim Internationalen Währungsfonds (IWF) musste Strukturreformen umsetzen und seinen heimischen Agrarmarkt für Importe öffnen. Das war der Todesstoß für einen Sektor, in dem mehr als ein Drittel der Bevölkerung ihr Auskommen finden. Ende der Achtziger produzierte Haiti genügend Reis für den Eigenbedarf, 20 Jahre später müssen 80 Prozent importiert werden. „Die Strategie ging auf ein Papier der Weltbank zurück, die Entwicklungsländer direkt ins Industriezeitalter katapultieren wollte", rechtfertigte sich Clinton später. Statt Reis zu produzieren, sollte Haiti ein Textil-Sweatshop für die US-Industrie werden. „Es war gut für die US-Landwirte, aber für Haiti war es ein Fehler", gestand Clinton. Die „Fehler" wiederholen sich.
„Wir Haitianer wurden in der Wiederaufbaukommision IHRC völlig marginalisiert", beklagt sich eine Regierungsvertreterin. „Die Ausländer überfielen uns mit PowerPoint-Präsentationen und fertigen Plänen, und wir hatten nicht einmal Computer. Deshalb haben sie auf uns herabgeschaut und unsere Vorschläge belächelt."
Für Haiti saßen neben dem Premierminister die besten Fachleute des Landes in dem Gremium: Unternehmer, Ingenieure, Architekten. Boulos zum Beispiel, der vorschlug, die Hälfte der Hilfsgelder in den Aufbau kleinerer und mittlerer Industrie- und Handwerksbetriebe zu investieren. Die Idee verlief im Sande. Bevor noch das erste Haus für die Opfer stand, hatte die IHRC Millionen von Dollar ausgegeben für Tagungen, Präsentationen und eine Architektenkonferenz, auf der Experten aus der ganzen Welt ihre Kreationen vorstellen konnten. Absurditäten wie recycelte Voll-Plastik-Häuser für ein Land mit Temperaturen von 35 Grad inbegriffen.
170 Millionen Dollar flossen über die amerikanische Entwicklungshilfeagentur US-AID in einen Industriepark plus dazugehörigem E-Werk und Hafen im Norden des Landes, hunderte Kilometer vom Erdbebengebiet entfernt. Koreanische Investoren haben dort Textil-Fertigungshallen hochgezogen. Man schaffe Arbeitsplätze und Infrastruktur, so das Argument. 1.388 Jobs sind es in dem Industriepark - die Bürgerorganisation Grassroots Watch hat nachgezählt. Der durchschnittliche Tageslohn wurde von der Regierung gerade angehoben auf sechs US-Dollar. Die für den Bau enteigneten Bauern hingegen warten noch immer auf neues Land. Anderen Haitianern brachte der Wiederaufbau Reichtum - vor allem denen, die vorher schon Geld hatten. Hausbesitzer vermieteten ihre Immobilien um das Vielfache der üblichen Marktpreise an Ausländer. Importeure von Geländewagen, teure Restaurants und Edel-Supermärkte mit Importwaren machten einen Reibach.
Sophie de Caen besucht das Modellprojekt in Morne-Hercule. Hier soll neben Häusern und Infrastruktur auch ein Gemeindezentrum entstehen. Drei Studien für einen Slum
Morne-Hercule, ideale Welt für Wenige - Kann nicht abgespielt werden
Morne-Hercule, ideale Welt für Wenige
Doch der Clou liegt woanders, wie der Programmverantwortliche Alejandro Pacheco erläutert: „Wir haben zusammen mit den Familien das ganze Viertel neu geplant, um ein praktisches Beispiel zu liefern, wie man auch in einem Armenviertel öffentlichen Raum so strukturieren kann, dass die Menschen ein würdiges Leben und grundlegende Infrastruktur haben." In Morne-Hercule sind das bunte, zweistöckige Häuser, Solar-Straßenlampen, gepflasterte Zufahrtsstraßen, ein von den Anwohnern verwalteter Trinkwasserbrunnen an einem kleinen, lauschigen Platz sowie ein Abwasserkanal, über dem ordentlich zementierte Treppen einen sicheren Zugang auch noch in die hintersten Winkel des Viertels bilden. In 16 Vierteln errichtet das UNDP solche Vorzeige-Stadtkerne, die 1.200 Familien direkt und 144.000 Menschen indirekt nützen. 30 Millionen Dollar sind dafür budgetiert.
Durch eine gründliche Planung sollen Fehler vermieden werden. Camp Icare - Vier Jahre nach dem Erdbeben Grundriss von Camp Icare - Grundlage: Satellitenbild auf Google MapsEigentlich hätte auch Samantha Jean-Pierre von einem ähnlichen Programm profitieren sollen. Mitte 2010 jedenfalls sollte aus ihrem ehemaligen Heimatviertel Fort National ein Vorzeige-Stadtteil werden. Bei der ersten Wiederaufbaukonferenz legte die Regierung einen Plan vor mit mehrstöckigen Sozialwohnungen und öffentlicher Infrastruktur. „Der Wiederaufbaukommision war das zu teuer", erinnert sich die haitianische Vertreterin. Eine IOM- Funktionärin ist deutlicher: „Die meisten Haitianer leben in Slums ohne Infrastruktur. Wenn man die Opfer derart bevorzugt, schafft man Sozialneid."
Letztlich scheiterte der Plan aber auch im Dschungel der haitianischen Korruption und Bürokratie. Für Fort National sei er zuständig, befand der Hauptstadtbürgermeister Jean-Yves Jason, und beauftragte ein einheimisches Architekturbüro mit einem alternativen Bebauungsplan, nachdem schon der Planungsminister eine kanadische Firma und der Finanzminister die Stiftung von Prinz Charles beauftragt hatte. Drei Pläne, dreimal Honorar.
Drei Viertel der Haitianer überleben mit weniger als zwei US-Dollar am Tag. Manchmal schaffen Samantha und ihr Mann mit Näharbeiten oder Jobs als Straßenhändler nicht einmal das. Dann gibt es zuhause nur einen Teller Reis am Tag. Die einzige Investition, auf die Samantha nicht verzichten will, ist die Schuluniform ihrer Kinder. Ihnen soll es einmal besser gehen. Lesen und Schreiben können nur zwei Drittel aller Haitianer. Samantha selbst brach die Schule ab, als ihr Vater krank wurde und sie als älteste Tochter den Haushalt übernehmen musste, während ihre Mutter Geld verdiente. Das bereut sie heute: „Nur wer etwas weiß, bringt es weiter im Leben", sagt sie. ◼
Weblinks Literatur Jonathan Katz: The big truck that went by. Palgrave Macmillan, New York 2013. Linda Polmann: Die Mitleidsindustrie. Campus, Frankfurt am Main 2010. Film