Gerade als
sich Barbaras Krebsbehandlung dem Ende zuneigte, entschloss sich ihr
Vermieter, den Mietvertrag nicht zu verlängern. Die Wohnung sollte
verkauft werden. Somit stand Barbara plötzlich auf der Straße. Die
Kaution für eine neue Wohnung konnte sie sich nicht leisten. „Ich war
vorher selbstständig, durch die kostspielige Behandlung waren meine
finanziellen Ressourcen aufgebraucht.“ Aber Barbara ließ sich nicht
entmutigen. Die Suche nach einer neuen Bleibe hatte oberste Priorität.
Der Wendepunkt kam für Barbara, als sie im Radio von den „Shades Tours“
hörte. Diese Stadtführungen unterscheiden sich deutlich von den üblichen
geführten TouristInnentouren: Obdachlos gewordene Menschen zeigen die
Stadt aus einer sozialpolitischen Perspektive. So erzählen die Guides
sowohl von den Herausforderungen als auch von den Lösungsansätzen und
Einrichtungen für Obdachlose. „Ich habe dann gleich zum Hörer gegriffen
und Perrine Schober, die Gründerin von Shades Tours, angerufen“,
erinnert sich Barbara. Bei einem Gespräch stellten beide fest, dass die
Chemie passt, Barbaras Schulung zur Führerin begann.
Das Wiener Straßenbild hat sich in den letzten Jahren stark verändert, erzählt Gründerin Perrine Schober: „Die Menschen gehen jeden Tag an Armut und Obdachlosigkeit vorbei und wissen gar nicht, wie sie reagieren sollen.“ Die Inspiration für Shades Tours holte sich Schober unter anderem aus Amsterdam, wo Thementouren, die etwa durch das Rotlichtmilieu führen, angeboten werden. „Ich habe nachgedacht, wie ich das in Wien realisieren kann.“ Ziel sei es, die Menschen so zu bilden, dass sie sich nicht unwohl fühlen, wenn sie einen obdachlosen Menschen sehen, und agieren können, wenn es nötig ist. „Es ist ein Projekt der sozialen Bildung für die Zivilbevölkerung.“ Viele gehen in die Touren, um etwas Gutes zu tun, und seien dann sehr überrascht, wie viel sie eigentlich bekommen haben, so Schober.
Wohnraum dringend gesucht
Die Lage am österreichischen Wohnungsmarkt ist
seit Jahren angespannt und spitzt sich weiter zu. Mit 1. April 2017
wurden die Mietrichtwerte in Österreich um 3,5 Prozent angehoben. Davon
sind hierzulande rund 300.000 Haushalte betroffen. Im Durchschnitt
bedeutet das für jeden Einzelnen rund 150 Euro Mehrkosten pro Jahr. Das
kann sich nicht jeder leisten. Caritas-Wien-Geschäftsführer Klaus
Schwertner appelliert an VermieterInnen, Baubranche und Politik: „Wir
suchen kleine, abgeschlossene Wohneinheiten mit Bad und Kochgelegenheit
ab 25 Quadratmeter zu leistbaren Preisen, nach Möglichkeit unbefristet.“
Die Caritas mietet solche Wohneinheiten für KlientInnen an und
übernimmt in der ersten Zeit eine Ausfallshaftung.
Laut Statistik werden wohnungslose Menschen stetig jünger. Rund ein
Drittel der Betroffenen ist unter 30 Jahre alt. Das JUCA im 16. Bezirk,
das Übergangswohnhaus der Caritas für junge Erwachsene zwischen 18 und
30 Jahren, hat sich dieser Zielgruppe angenommen. Philipp wohnt seit
einem halben Jahr hier. Davor schlief er im Freien, auf der Donauinsel
und beim Museumsquartier. Zu Hause habe es einfach nicht mehr gepasst:
„Mit meinen Eltern habe ich mich sehr viel gestritten. Das hat sich
immer mehr hochgeschaukelt, bis ich rausgeflogen bin.“
Im JUCA gefällt es dem 21-Jährigen sehr gut. „Die Mitbewohner und
Betreuer sind sehr gemütlich. Es gibt keine Streitereien und niemand
geht mir auf die Nerven. Das ist recht angenehm“, sagt er lachend. Vom
JUCA erfuhr er durch einen Freund: „Ich bin hierhergekommen und man hat
mir sofort ein Zimmer gegeben.“
JUCA-Leiterin Andrea Fichtinger betont, dass es im JUCA vor allem um
Grundversorgung und Notunterkunft gehe: „Wir haben hier im Haus 67
Einzelzimmer und eine Notschlafstelle mit 16 Plätzen.“ Vielen
Jugendlichen fehle es an familiärem Rückhalt und tragfähigen sozialen
Beziehungen. Einige haben Suchtprobleme, anderen fehlt der
Schulabschluss. Die Jugendlichen können bis zu zwei Jahre im JUCA
wohnen, in Einzelfällen auch länger. Andrea Fichtinger betont, dass die
Jugendlichen mehrfach ins JUCA kommen können: „Viele sind es nicht
gewohnt, sich an Regeln zu halten, und ziehen vorzeitig wieder aus.
Andere schaffen es nicht, die Miete fristgerecht zu zahlen. Es handelt
sich um Jugendliche, die noch nie selbstständig gewohnt haben und ihr
eigenes Einkommen verwalten müssen und sich damit schwertun.“ Etwaige
VermieterInnen bittet sie um Verständnis: „Unsere Zielgruppe kann nicht
nachweisen, schon jahrelang in eigenen Wohnungen gelebt zu haben. Für
sie ist es oft der erste Versuch.“
Im Jahr 2016 wandten sich rund 6.000 Menschen wegen Wohnproblemen an die
Caritas. Caritas-Wien-Geschäftsführer Klaus Schwertner betont, dass
steigende Mieten ein österreichweites Problem sind. „Seit 2008 sind die
Wohnkosten um mehr als 18 Prozent gestiegen. Bei armutsgefährdeten
Haushalten betrug die Steigerung gar 31 Prozent.
Diese Fakten liegen schon lange auf dem Tisch, aber die Regierung hat
die Probleme unterschätzt oder ignoriert“, kritisiert Schwertner. Das
führt dazu, dass sich viele Menschen trotz Arbeit den notwendigen
Wohnraum nicht mehr leisten können. Schwertner zitiert aus Wohnannoncen:
Für eine 33-m2-Wohnung in Wien-Favoriten sind 678 Euro Miete
veranschlagt, in Salzburg Stadt kostet eine 46 m2 große Unterkunft 745
Euro Miete. Dazu kommt eine Kaution von mehr als 2.000 Euro. Auch die
Kosten für Strom, Wasser und Heizung müssen beglichen werden. „Von den
BewohnerInnen im JUCA kann sich das niemand leisten“, so Schwertner.
(K)eine Endstation für Ex-Häftlinge
„Straße der Verlierer?“, fragt das Schild am
Eingang des „’s Häferl“ in der Nähe der U4-Station Margaretengürtel in
Wien. „’s Häferl“-Leiter Norbert Karvanek würde diese Frage eindeutig
mit Nein beantworten. 220 Gäste werden dort pro Tag gratis bewirtet.
Karvaneks Motto: „Ich bin kein Sozialarbeiter, ich bin ein Armenwirt.“
„’s Häferl“ wurde vor fast 30 Jahren von der evangelischen Gefangenenseelsorgerin Gerlinde Horn gegründet. Eines der größten Probleme von Häftlingen, die mehrere Jahre abzusitzen
hatten, ist, dass sie nicht nur Arbeit und Wohnung, sondern auch ihr
soziales Umfeld verlieren. „Übrig bleiben oft nur die Eltern, und die
sterben meistens weg“, so Karvanek. Um solche Menschen kümmerte sich
Gerlinde Horn erst in ihrer Wohnung und später in der Tagesstätte „’s
Häferl“. „Wir sind so etwas wie die ‚evangelische Gruft‘. Hier arbeiten
nur Ehrenamtliche, nur ich bin fix für zwölf Stunden angestellt.“ Laut Karvanek kommt ein Problem selten allein: „Obdachlose kommen
leichter in Haft, Ex-Häftlinge werden leichter obdachlos.“ Ihnen fehle
es an Betreuung, auch wenn sich die Verhältnisse diesbezüglich gebessert
haben. Norbert Karvanek ist seit 15 Jahren fixer Bestandteil der
„Häferl“-Crew. Die Einrichtung habe er durch Zufall kennengelernt: „Ich
habe einen verrückten Künstler getroffen, mit dem habe ich Backgammon
gespielt. Einmal haben wir gesagt: ‚Treffen wir uns im Häferl, dort ist
der Kaffee billiger.‘“ Sein Freund sei nicht gekommen, aber er lernte
dort Gründerin Gerlinde Horn kennen. Nach einem Gespräch mit ihr fasste
Karvanek, der selbst sieben Jahre in Haft gewesen war, einen Entschluss:
„Ich habe mir gesagt: ‚Norbert, du hast jetzt 20 Jahre am Stammtisch
dahergeredet. Jetzt kannst du was tun!‘“
Im Jahr 2002 ging Gerlinde Horn in Pension, Norbert Karvanek übernahm
und entwickelte das Angebot weiter. „In erster Linie sind wir ein
Wirtshaus. Die Menschen fragen uns auch nach Gewand und Schuhen.“ Vor
allem das Schuhwerk sei bei Obdachlosen immer wieder Thema. „Obdachlose
brauchen ständig Schuhe. Wer wohnungslos ist, zieht diese auch in der
Nacht nicht aus oder er hat sie im Schlafsack. Dadurch leidet das
Schuhwerk mehr.“ Einmal im Monat bietet „’s Häferl“ gemeinsam mit seiner
Trägerin, der Diakonie Wien, eine Sozialberatung an: „Hier wird der
Erstkontakt zu den Menschen hergestellt.“
Unterschiedlicher Umgang
Laut Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie
Wien, dreht es sich bei diesen Gesprächen häufig um Wohnprobleme wie
Mietrückstände, gesundheitliche Nöte sowie den Verlust des Jobs oder der
Mindestsicherung. Menschen gehen auf verschiedene Arten mit Wohnungsnot
um, so Schenk: Frauen versuchen, irgendwo unterzukommen, bleiben auch
in schwierigen Beziehungen, um sich den Wohnraum zu sichern.
Manches Ehepaar würde sich gerne scheiden lassen, bleibt jedoch
zusammen, weil einer allein sich keine Wohnung leisten kann. Die Zahl an
illegalen Substandard-Wohnungen steige: „Durch Arbeitsmigration aus
Rumänien und Bulgarien gibt es viel Schwarzarbeit. Die Menschen leben
‚unsichtbar‘ in solchen Wohnungen. Dazu kommen Menschen aus dem Nahen
Osten, die sich mit ihrem Einkommen am Wohnungsmarkt schwertun. Die
geraten dann an Ausbeuter.“ Das Angebot an leistbarem Wohnraum müsse
steigen, fordert Schenk. Die öffentliche Hand solle leistbaren Baugrund
zur Verfügung stellen. Schenk betont die Wichtigkeit einer
Delogierungsprävention: „In Wien gibt es hier bereits gute
Entwicklungen. Diese braucht es flächendeckend in ganz Österreich.“
Jahrelang ging die etablierte Sozialarbeit davon aus, dass Menschen in
einer Lebenskrise Wohnen erst wieder schrittweise erlernen müssten.
Dafür wurden Übergangswohnangebote geschaffen. „Das ‚Housing
First‘-Prinzip hingegen setzt auf Eigenverantwortung“, sagt
Neunerhaus-Geschäftsführer Markus Reiter. Eigenständiges Wohnen steht im
Vordergrund, die dazugehörige Betreuung richtet sich nach individuellen
Bedürfnissen der Betroffenen. „Wenn jemand in einer Lebenskrise ist
oder Unterstützung braucht, kann er das am besten in einer
eigenständigen Wohnform bewältigen. Zwischenschritte wie betreutes
Wohnen braucht es nicht, Menschen können von Beginn an wohnen“, sagt
Reiter. Ist die Betreuung abgeschlossen, können die KlientInnen – anders
als bei anderen Einrichtungen – in der Wohnung bleiben und müssen nicht
wieder umziehen. „Es geht darum, Betreuung und Wohnform klar zu
trennen. Das ist der Knackpunkt.“ Derzeit habe das Neunerhaus etwa 110
Wohneinheiten an Bedürftige vermittelt. Von diesen haben 97 Prozent ein
aufrechtes Mietverhältnis, die meisten davon haben laut Reiter auch die
Betreuung bereits abgeschlossen: „Diese Erfolgsquote ist beachtlich.“
Zugang verschärft
Dennoch werde es zunehmend schwerer, leistbaren Wohnraum bereitzustellen, sagt Reiter. „Wir reden regelmäßig mit Bauträgern, Genossenschaften und Wiener Wohnen. Was sich bei allen zeigt: Erwerbseinkommen, soziale Unterstützungsleistungen wie etwa die Mindestsicherung und die Wohnkosten gehen immer weiter auseinander.“ Reiter kritisiert auch die öffentliche Hand: „Dort wo Wohnbauförderungen und Steuergelder hineinfließen, gibt es für Armutsbetroffene und Wohnungslose wenig Hilfestellung, leistbaren Wohnraum zu finden.“ In den letzten Jahren wurden Zugangsregeln verschärft. Menschen, die um eine Gemeindewohnung ansuchen, müssen zwei Jahre durchgehend in Wien gemeldet sein. „Für Obdachlose ist das schon fast ein K.-o.-Kriterium. Wohnungslosigkeit führt oft zu Meldelücken.“ Diese Änderung ist für Reiter nicht nachvollziehbar. „Von einem Jahr aufs andere bekamen wir von Wiener Wohnen 140 Wohnungen weniger zugewiesen. Bis dahin hat es immer gereicht, wenn unsere SozialarbeiterInnen etwa mit AMS-Bezügen nachweisen konnten, dass Betroffene in Wien aufhältig waren.“
Reiter fordert, dass Obdachlosigkeit als Dringlichkeitsgrund bei der
Wohnvergabe zu berücksichtigen wäre. Außerdem fordert er, dass bei
befristeten Mietverträgen die Mindestfrist von drei auf zehn Jahre
erhöht wird: „Das unterstützt Familien, da es durch Befristungen zu
häufigen Wohnungswechseln mit immer teureren Mieten kommt.“
Wer bei der Josefstädter Straße in Wien aus der U6 aussteigt und einmal
um die Station geht, dem kann es passieren, dass er auf eine Gruppe von
Menschen trifft, die vor einer grünen Tür auf Einlass warten. „wieder
wohnen“ steht auf dem Schild darüber und gleich darunter „Josi –
Tageszentrum für Obdachlose und Straßensozialarbeit“. „Wir dürfen nur
100 Menschen gleichzeitig ins Gebäude lassen. Wenn wir voll sind, müssen
die anderen leider warten, bis jemand geht“, erklärt Leiterin Nora
Kobermann. Im Josi selbst können Menschen all das machen, was sie auch
in einer eigenen Wohnung tun können: duschen, Wäsche waschen, kochen,
Schach spielen oder sich entspannen. In Depots kann persönliches Hab und
Gut verwahrt werden.
An der Theke gibt es Kaffee, Tee, Brot, Marmelade und Butter. „Wir
helfen den Menschen, aus ihrer Situation herauszukommen, indem wir
Nachtquartiere und Übergangswohnungen vermitteln“, sagt Kobermann. Josi
unterstützt die Menschen bei der Geltendmachung von Ansprüchen wie der
Mindestsicherung und AMS-Leistungen. „Zentral ist die Beschaffung von
Dokumenten. Diese gehen auf der Straße oft verloren oder werden
gestohlen.“
So nützlich und wertvoll Einrichtungen wie das Josi auch sind – Barbara
war dort eher selten anzutreffen. „Ich wollte nicht mit den
immergleichen schlimmen Schicksalen konfrontiert sein. Das zieht einen
nur runter.“ Den Tag hat sie anders verbracht: „Ich habe den Kulturpass
und bin damit ins Museum gegangen. Da konnte ich mir dann wenigstens
einreden, dass das jetzt etwas Sinnvolles war“, sagt sie lachend. Die
Wohnungssuche ist für Barbara gut ausgegangen: Seit einigen Wochen hat
sie eine neue Bleibe. Ihr nächstes Ziel ist ein Job als Fremdenführerin.
Die Ausbildung dazu hat Barbara bereits begonnen.
Original