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Senioren: Ende gut, fast alles gut

Für Michael Tettenborn war der Beginn seines Ruhestands ein " spannender Einschnitt, der mir Respekt abgenötigt hat". Er habe durchaus Bauchgrimmen gehabt, weil er nicht genau gewusst habe, was auf ihn zukomme. Der pensionierte Lehrer ist 65 Jahre alt und gilt damit nach der Definition des Statistischen Bundesamtes als einer von rund 17 Millionen Senioren in Deutschland - das sind etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. In vierzig Jahren wird schon ein Drittel der Einwohner über 65 Jahre alt sein. Höchste Zeit, die Gruppe der Älteren genauer zu betrachten: Wer sind diese Menschen, was macht sie aus und was beschäftigt sie?

Allgemeine Lebenszufriedenheit

Insgesamt sind die Senioren heute zufriedener als noch vor 20 Jahren.

In den jüngst ausgewerteten, 2015 erhobenen Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) finden sich 5.104 Menschen, die 68 Jahre oder älter sind. Sie haben Auskunft über sich und ihr Leben gegeben. Knapp 52 Prozent von ihnen sind Frauen, etwa 16 Prozent der Befragten haben einen direkten oder indirekten Migrationshintergrund. Zwei von drei Senioren sind verheiratet, gut 22 Prozent verwitwet, 5,6 Prozent geschieden. Die Befragung des SOEP erfasst hauptsächlich Menschen, die noch in eigenständigen Haushalten leben oder von der Familie betreut werden. Senioren, die in Pflegeheimen leben, sind kaum oder gar nicht erfasst.

Die Auswertung der Daten zeigt, dass Michael Tettenborn kein Bauchgrimmen haben muss. Rentner leben heute nicht nur länger, sie sind auch insgesamt zufriedener mit ihrem Leben. Das wird im SOEP mithilfe einer Skala abgefragt, die von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden) reicht. 1995 lag die durchschnittliche Zufriedenheit der Senioren noch bei 6,8 - zwanzig Jahre später bereits bei 7,2. Damit unterscheiden sie sich allerdings nur leicht vom Rest der Bevölkerung: Deren durchschnittliche Lebenszufriedenheit ist im gleichen Zeitraum ebenfalls gestiegen: von 6,9 auf 7,3. Der Soziologe Harald Künemund aus Vechta erklärt das damit, dass "die Älteren heute psychisch, physisch und auch sozial jünger" seien als vor zwanzig Jahren und sich beispielsweise die Wohnstandards verbessert hätten.

Auch mit den unterschiedlichen Lebensbereichen, die das eigene Wohlbefinden beeinflussen, fühlen sich die Senioren sichtlich wohl. Insbesondere sind sie mit ihrer Wohnsituation zufrieden. Diejenigen, die noch in eigenen Haushalten oder im Familienhaushalt leben, gaben auf der Zufriedenheitsskala von 0 bis 10 im Mittel 8,2 an. Künemund erklärt, dass ältere Menschen ihre Wohnsituation mit der erlebten Nachkriegszeit oder der möglichen Zukunft im Pflegeheim verglichen und deshalb eher zufrieden seien. Senioren in Pflegeheimen sind womöglich weniger zufrieden mit ihrer Wohnsituation, in der Befragung des SOEP allerdings nicht ausreichend repräsentiert. Ähnlich wohl wie mit ihrer Wohnung fühlen sich die über 68-Jährigen mit ihrer Freizeit.

Recherche zum Leben in Deutschland

77.034.720 Informationen, 20 Nachwuchsjournalisten, 13 Wochen Zeit - das sind die Eckdaten einer umfassenden Recherche zum Leben in Deutschland. Die verwendeten Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) stehen Wissenschaftlern, die über einen Datenweitergabevertrag mit dem Deutschen Institut für Wirtschafsforschung (DIW) verfügen, offen. Im Rahmen des Lehr- und Forschungsprojektes Datenjournalismus am Journalistischen Seminar der Universität Mainz konnte eine Kooperation erzielt werden, die es erstmals 20 Journalismusstudierenden ermöglicht, mit den anonymisierten Rohdaten der Studie zu arbeiten. Der Datensatz eröffnete den Nachwuchsjournalisten ungeahnte Einblicke in die Gesellschaft, nahezu jeder Fragestellung zum Leben in Deutschland konnte nachgegangen werden. Bisher erschienen: Alleinerziehende: "Einsam zu zweit" Was Anhänger von AfD und Linke eint Senioren: Ende gut, fast alles gut

Geleitet wurde das Projekt von Frederik von Castell, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Journalistischen Seminar und freier Journalist, unterstützt von den beiden Professoren Tanjev Schultz und Katja Schupp. Als betreuender Redakteur stand ihnen Sascha Venohr, Head of Data Journalism bei ZEIT ONLINE, von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung zur Seite. Maßgebliche Unterstützung haben Studierende und Lehrende von Gert Wagner, Professor für Volkswirtschaftslehre an der TU Berlin und seit 1989 für das Panel verantwortlich, erfahren. Außerdem von Florian Griese (Datensatzaufbereitung) und Julia Rohrer (Hilfestellung bei statistischen Auswertungen). Mit Mirko Lorenz konnte zudem ein versierter Datenjournalist für Trainings gewonnen werden. Bei den Recherchen und Auswertungen waren einzig die Journalisten tätig, das SOEP trägt keine Verantwortung für die Ergebnisse.

Forscher wie Ronnie Schöb, Professor für Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, unterscheiden beide Begriffe strikt voneinander. Glück ist etwas Unbewusstes, Emotionales. "Wir fühlen Glück spontan und wir erleben es nur als ein Gefühl, das etwa von einer Begegnung, einer Berührung oder einfach einer Erinnerung hervorgerufen werden kann", schreibt er. Die Zufriedenheit wird dadurch bestimmt, dass die Befragten über ihr Leben nachdenken, quasi eine Vogelperspektive einnehmen und längerfristiger denken, so Schöb: "Wir vergleichen, wir beurteilen und wir finden heraus, wie wir uns fühlen." Der Datensatz des Sozio-oekonomischen Panels beinhaltet viele Variablen, die unterschiedliche Aspekte von Zufriedenheit in der Bevölkerung (etwa mit dem Haushaltseinkommen, der Gesundheit, dem Schlaf oder dem Leben allgemein) abfragen. Gleichzeitig werden die Teilnehmer nach Sorgen und Ängsten, Ärger und Traurigkeit, aber auch ihren Glücksgefühlen in der jüngeren Vergangenheit gefragt.

Das bedeutet aber natürlich nicht, dass sie sorg- und wunschlos glücklich sind. Einige Dinge beunruhigen die Älteren durchaus. Zum Beispiel der Frieden: 2015 machten sich 94 Prozent von ihnen "große Sorgen" oder "einige Sorgen" um ihn. Auch die Situation im eigenen Land betrachten die Senioren durchaus kritisch: 91 Prozent gaben an, sich entweder "große Sorgen" oder "einige Sorgen" um die Kriminalitätsentwicklung in Deutschland zu machen.

Sorgen um die Kriminalitätsentwicklung

Gut acht Prozent der Senioren machen sich keine Sorgen um die Kriminalität in Deutschland.

Sorgen um die Friedenserhaltung

Um den Frieden machen sich die Senioren heute mehr Gedanken als früher.

Außerdem seien die Abweichungen zwischen den Geschlechtern teils signifikant, erklärt Soziologin Larissa Pfaller von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. " Frauen sind immer noch in sehr viel höherem Maße von Altersarmut und Einsamkeit im Alter betroffen als Männer. Auch die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind frappierend." In Deutschland sei die Lebenserwartung von Reichen im Vergleich zu Armen bis zu zehn Jahre höher. "Gerade also diejenigen, die ihr Leben lang hart körperlich gearbeitet haben, haben keine Möglichkeit, im Ruhestand ein gutes Leben zu führen, da sie weniger Rente beziehen, eher gesundheitliche Einschränkungen haben und dazu auch noch früher sterben."

Michael Tettenborn sieht sich selbst als finanziell privilegiert an. Der ehemalige Lehrer ist seit etwa einem Jahr pensioniert. Bereits vor dem Ruhestand hat er sich Gedanken darüber gemacht, wie er sich in seiner freien Zeit engagieren könnte - und hat sich einiges vorgenommen.

"Menschen sind glücklicher, wenn sie sozial eingebunden sind", erklärt Björn Schumacher, Altersforscher an der Universität Köln. Neben dem Beruf spiele auch privates Engagement eine Rolle. "Die wichtigste Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist aber Gesundheit." Um die machen sich Senioren natürlich auch Gedanken - denn mit zunehmendem Alter wird der Körper schwächer und das Risiko für Krankheiten steigt. Dennoch machen sich fast drei Viertel der Senioren keine oder nur einige Sorgen um ihre Gesundheit. Auch mit altersbedingten Einschränkungen sei es möglich, zu arbeiten, sagt Schumacher. Es komme auf die Art der Tätigkeit an. "Die Herausforderungen für den Arbeitsmarkt bestehen darin, sich der demografischen Entwicklung anzupassen und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, die dem Alterungsprozess entgegenkommen."

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