Ich hasse Fußball nicht. Ich verstehe nur nicht, weshalb Menschen freiwillig neunzig Minuten lang anderen Menschen dabei zusehen, die einem Ball hinterherrennen. Geschweige denn, weshalb Menschen freiwillig neunzig Minuten einem Ball hinterherrennen. Ich kann hier keine Leidenschaft oder gar Liebe ins Feld führen, auf die sich die Fans ja oft berufen (und ohne die mir der Fußball kaum zu ertragen scheint). In der Fankurve liegen sich Ärztin und Metzger in den Armen, Data Analyst und Friseur. Alle vier Jahre zur Weltmeisterschaft versammeln sich dann noch alle anderen vor dem Fernseher oder auf der sogenannten Public-Viewing-Meile, schütten sich Bier und Cola in den Rachen und grölen. Nun gut, denke ich mir, aber haltet mich da raus.
Ermittlungen wegen BestechungsgeldernDieses Jahr findet die Fußballweltmeisterschaft nicht wie sonst im Sommer statt, sondern im Winter. Aber in Qatar, wo sie stattfinden soll, ist ja auch im Winter Sommer, und man hat Temperaturen von 30 Grad. Die Fußballstadien sollen deshalb klimatisiert werden. Das ist aber überhaupt kein Problem, Öl und Gas hat Qatar genug - es ist das Land mit dem höchsten CO 2-Ausstoß pro Kopf weltweit.
Diese WM ist von Beginn an eine zwielichtige Sache gewesen: Stimmen sollen gekauft und Bestechungsgelder gezahlt worden sein, ermittelt wird immer noch. Man liest, Arbeiter (oder eher Sklaven) aus Indien, Bangladesch und Sri Lanka seien in Qatar unter ungeklärten Umständen gestorben. Arbeitsstandards auf den Baustellen würden nicht eingehalten werden. Lohn würde manchmal mehrere Monate lang nicht gezahlt, Arbeitern würden die Pässe weggenommen. Man hindere Journalisten an der Berichterstattung. Pressefreiheit gibt es sowieso nicht. Qatar ist ja auch eine Monarchie. Und zwar keine Klatschspalten- und Winke-und-lächle-Monarchie wie England, sondern eine absolute Monarchie, in der Emir Tamim bin Hamad Al Thani das erste und letzte Wort hat.
Die Qataris, also Menschen mit qatarischem Pass, werden dafür gut versorgt: Strom, Wasser und Bildung sind für sie gratis, das Sozialsystem ist gut ausgebaut, und die hoch dotierten Stellen im öffentlichen Dienst sind ihnen vorbehalten. Weniger prickelnd sieht es - sieht man einmal von den Arbeitern ab - für Schwule und Lesben (Homosexualität ist in Qatar verboten) oder Frauen aus. Es gilt das islamische Recht. Frauen erben nur die Hälfte. Wird eine Frau vergewaltigt und geht deshalb zur Polizei, kann sie schon mal wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs (auch verboten) bestraft werden. Ausländische Hausangestellte sind von sexualisierter Gewalt doppelt und dreifach betroffen. Zwar hat es in den vergangenen Jahren gesetzliche Reformen gegeben, doch Menschenrechtsaktivisten kritisieren: nur auf dem Papier. Das Kafala-System (kurz: ein Einheimischer bürgt für einen ausländischen Arbeiter, der dadurch in große Abhängigkeit gerät) existiere trotzdem weiter. Darüber hinaus steht Qatar seit Jahren in der Kritik, islamistische Milizen in Syrien, Libyen, Somalia und Gaza zu unterstützen.
Im vergangenen Monat traf ich meinen Freund Kamal Sido, der erst im März für die Gesellschaft für bedrohte Völker in Qatar war. Wir aßen zusammen Burger, und er erzählte von Kirchen, die nur im Verborgenen geduldet werden, dass auf Apostasie die Todesstrafe stehe, von Menschen, die Angst hatten, mit ihm offen zu sprechen, und dass er Probleme mit den Sicherheitskräften bekam, als er das Gebäude von Al Jazeera in Doha fotografierte - dem arabischen Vorzeige-Fernsehsender aus Qatar. Düster.
Sport um schöne Bilder zu habenWarum will man in solch einem Land eine Fußballweltmeisterschaft veranstalten? Oder, einfacher gefragt, warum will ein Land wie Qatar eine Fußballweltmeisterschaft veranstalten? „Nation Branding" ist eine Antwort. Qatar versucht, durch Sportveranstaltungen sein Image aufzupolieren. Man will schöne Bilder erzeugen, internationale Kontakte vertiefen durch Sportdiplomatie. Qatar ist nicht das erste Land, das Sport als Softpower-Strategie nutzt, denken wir nur an die WM 2018 in Russland (trotz Krimannexion und Assad-Unterstützung), an die Olympischen Spiele im Jahr 2022 in Peking (trotz Überwachungsstaat und Verfolgung der Uiguren) - oder an die Fußball-WM von 1978. Die fand in der Militärdiktatur Argentinien statt. Diktator Videla faselte in der Eröffnungsrede vom Fußball als Friedensbringer. Keine zwei Kilometer vom Fußballstadion entfernt, im Foltergefängnis Esma, konnte man die Jubelschreie hören, wenn bei einem Spiel ein Tor gefallen war. Nach dem Sieg Argentiniens wurden Häftlinge durch die Straßen gefahren, um sie zu demütigen. Proteste hatte es übrigens auch damals im Vorfeld der Weltmeisterschaft gegeben. Aber auch da hieß es schon, die WM sei eine Chance, die Diktatur zu lockern, und es sei nicht die Aufgabe von Fußballern, sich politisch zu positionieren. Es gehe allein um den Sport.
Aussagen wie jene, die Fußballweltmeisterschaft sei eine Chance, die Menschenrechtslage in Qatar zu verbessern, lassen sich als magisches Denken verbuchen. Der FIFA-Boss Gianni Infantino ist mit seiner Familie nach Qatar gezogen und lässt sich im Privatjet, gesponsert von Emir Al Thani, durch die Welt fliegen. Er schwafelt von der vereinenden Kraft des Fußballs, sagt Dinge wie: „Wo immer wir hingehen, stellen wir den Schutz der Menschenrechte in den Vordergrund." Und Qatar sei zwar kein Paradies - aber welches Land sei das schon? Ich bleibe ratlos. Wie lassen sich mit all dem Wissen um Arbeitssklaven, die Abwesenheit von Pressefreiheit und Frauenrechten nur neunzig Minuten Fußball ertragen? Bei aller Liebe.