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Frankreich: Der Boxer und die Vorstadtjugend

Der Tag, der dem Leben von Abdel Belmokadem eine neue Richtung gab, war der 9. November 1989. In Berlin feierten die Deutschen friedlich den Fall der Berliner Mauer, als in Vaulx-en-Velin, einem berüchtigten Vorstadtquartier von Lyon, die Gewalt aufflammte. Autos brannten, es sei das "totale Chaos" gewesen, sagt Belmokadem. Damals war er Anfang 20 und kurz davor, Profiboxer zu werden. Die Jugendlichen der 40.000-Einwohner-Stadt kannten ihn, für viele war er ein Vorbild. Belmokadem stellte sich damals gegen die Gewalt, er vermittelte zwischen den wütenden Jugendlichen und der Politik. Am Ende stand ein vorläufiger Frieden.

Belmokadem, ein großgewachsener, massiger Mann im schwarzen Zopfpullover sitzt in seinem Büro im Zentrum von Vaulx-en-Velin und erzählt, was danach geschah: Frankreichs Regierung suchte händeringend jemanden, der zwischen den Rathäusern und der Vorstadt-Jugend vermittelt. Sein Erfolg hatte sich bis Paris herumgesprochen - die Wahl fiel auf ihn. Belmokadem, Sohn tunesischer Einwanderer, begann rasch, erste Treffen zwischen Arbeitgebern und Jugendlichen aus der Vorstadt zu organisieren. Als Treffpunkt wählt er ungewöhnliche Orte: einen LKW auf einem Drogenumschlagplatz, Turnhallen. Sogar Fußballstadien.

Im Jahr 2001 gründete er seine eigene Firma: Nés et cité. Die Idee: Kontakte und Zugänge schaffen und Firmen für die Vorstadtjugend zu interessieren. Erste Aktionen in Paris und Grenoble folgten, Nés et cité begann auch, Unternehmen zu beraten. Die Jugendarbeitslosigkeit pendelte schon damals in ganz Frankreich um die 20-Prozent-Marke, heute liegt sie bei fast 25 Prozent. In Vaulx-en-Vallin ist die Situation besonders dramatisch: Die Einwohner sind mehrheitlich Einwanderer, zwei Drittel leben in Sozialwohnungen, die Arbeitslosenquote liegt doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Viele Jugendliche sind völlig hoffnungslos. "Denen müssen wir wieder Vertrauen in sich selbst geben", sagt Belkomkadem.

Belmokadems zentrale Idee sind Treffen in Fußballstadien. Mehrere Monate lang versuchen die mittlerweile elf Angestellten Banken, Supermarktketten und Handwerksbetriebe zu überzeugen, sich auf Bewerber aus den Vorstädten einzulassen. Währenddessen schulen er und seine Kollegen die Vorstadtjugendlichen in Bewerbungstechniken. In den Fußballstadien treffen dann beide Seiten schließlich für einen Tag zusammen, finanziert von staatlichen Stellen und den Unternehmen selbst. "Jugendliche, die im Fußballstadion sonst nur von Polizei und Sicherheitsleuten begrüßt wurden, empfingen wir wie Stars: Wir hielten ihnen den Regenschirm, brachten Kaffee", sagt der frühere Boxer.

5.000 Jugendliche sind schon in Arbeit

Einige Tausend Jugendliche kommen zumeist, einige Hundert Stellen sind zu vergeben. Am Ende, sagt Belmokadem, gehe jeder Fünfte mit Aussicht auf eine Stelle nach Hause. Sein Unternehmen gibt an, bisher 5.000 schwer vermittelbare Jugendliche in Arbeit gebracht zu haben. Nun will Belmokadem auch in andere Städte expandieren.

Stolz ist Belmokadem darauf, dass nur 15 Prozent des Umsatzes in Höhe von 850.000 Euro vom Staat kommt. Den Rest steuern Unternehmen bei, die offenbar doch genug Interesse an Bewerbern haben, die sie normalerweise nicht zu Gesicht bekommen würden. In den kommenden Jahren hat sich Belmokadem zum Ziel gesetzt, bis zu 1.000 Stellen jährlich zu vermitteln. Außerdem hat er vor wenigen Monaten sein erstes Buch geschrieben, in dem er seinen Lebensweg beschreibt. Ein Satz in dem Buch lautet: "Meine Geschichte ist der lebende Beweis, dass alles möglich ist, wenn man es trotz wütendem Veränderungswillen aushält, einen Schritt nach dem anderen zu gehen."

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