2000 Jahre später sind Philosophen immer noch vorsichtig, oder noch viel mehr, aber unter „Religiösen" wird der Begriff beinahe inflationär verwendet. Besonders der rechte Rand weiß sich im Besitz der Wahrheit, wobei sein einziges Verdienst dabei ist, zufällig hier geboren zu sein.
Auf ganz anderem Niveau der emeritierte Papst Benedikt XVI.: Für ihn ist klar, dass die Kirche „katholisch" ist, d.h. nie eine Sache eines einzigen Volkes oder einer einzelnen Kultur, sondern „von Anfang an für die Menschheit bestimmt" war.
Aber: Zu Pfingsten haben die Apostel nicht in allen Sprachen gesprochen, sondern alle haben sie in ihrer eigenen Sprache gehört. Das ist ein gravierender Unterschied! Abgesehen davon, dass es in der heutigen Zeit beinahe Pflicht ist, über andere Religionen einigermaßen Bescheid zu wissen - wir müssen nicht in der anderen Sprache reden, es genügt unsere ureigenste Sprache. Die muss aber authentisch sein, so dass die anderen sie in ihrer Sprache verstehen können. Dass das heute so wenig der Fall ist, müsste zu denken geben.
„Macht alle Menschen zu meinen Jüngern"(Mt 28, 19). Die Kirche sieht das als Auftrag zur Mission. Aber was ist Mission? Benedikt: „Ist Mission wirklich noch zeitgemäß? Ist es nicht angemessener, im Dialog der Religionen einander zu begegnen und miteinander dem Frieden in der Welt zu dienen? Die Gegenfrage lautet: Kann der Dialog die Mission ersetzen?"
Die Befürworter eines interreligiösen Dialogs setzen, so Benedikt, meist voraus, dass die verschiedenen Religionen Variationen ein und derselben Wirklichkeit seien. „Die Frage nach der Wahrheit, die die Christen ursprünglich vor allem bewegt hatte, wird hier ausgeklammert." Benedikt sieht hier die Gefahr des Relativismus und die Gefahr, dass der Glauben seine Verbindlichkeit verliert.
Ein paar Absätze weiter sagt aber Benedikt selbst: „Religion ist in sich kein einheitliches Phänomen. In ihr sind immer verschiedene Dimensionen zu unterscheiden. Da steht auf der einen Seite das Große des Aufbruchs über die Welt hinaus zum ewigen Gott hin. Auf der anderen Seite aber finden sich die Elemente, die aus der eigenen Geschichte der Menschen und ihrem Umgang mit der Religion entstanden sind." Er meint das zwar im Hinblick auf die „Objekte" der Mission, das gilt aber für das Christentum selbst genauso. Es ist die Wissenschaft, die immer Eindeutigkeit sucht, und auch nicht finden kann, weil die Natur nicht eindeutig ist. Aber erst recht in der Religion ist es so, dass der Verzicht auf Wahrheit zwar tödlich ist für den Glauben (Benedikt), aber sich im Besitz der Wahrheit zu wähnen, ist für den Glauben mindestens ebenso tödlich. Religion geht immer auf das Ganze des Menschen, daher funktioniert die fragmentierende Logik des wissenschaftlichen Denkens nicht. (Die funktioniert auch in der modernen Wissenschaft nicht mehr). Den Wahrheitsanspruch als Grundlage des Glaubens UND das Wissen, dass wir nicht wirklich an diese Wahrheit herankommen - das ist kein Widerspruch.
Katholisch gesprochen: Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Aber deswegen sind wir noch lange nicht im Besitz der Wahrheit. Und die Wahrheit kann auch in anderen Religionen aufleuchten (2. Vatikanum), weil es derselbe Geist ist, der in der Welt wirkt; der weht, wo er will, und der sich nicht mal von Christen vorschreiben lässt, wo er das darf und wo nicht. Was wir als Gott bezeichnen, ist immer mehr als wir uns je vorstellen können. Daher ist jeder konkrete Wahrheitsanspruch sinnlos. Glaube meint immer eine Beziehung zum Ursprung und nicht im Besitz der besseren „Wahrheit" zu sein. Letzteres wäre nicht Glauben, sondern (menschliche) Überheblichkeit. Wohin das führen kann, sehen wir in allen Religionen.
Es geht nicht um den Verzicht auf Wahrheit, sondern um die Einsicht in die menschliche Unzulänglichkeit der Ratio. Die negative Theologie („Gott ist immer mehr als von ihm ausgesagt werden kann") ist ein (viel zu wenig beachteter) Grundpfeiler des Christlichen.
Wo immer Menschen im Namen der Wahrheit „kämpfen", geht es nicht um die Wahrheit, sondern um menschliche Überheblichkeit, Arroganz und Egoismus. Da ist das Thema Religion schon lange vorher erledigt - auch wenn das alles im Namen der Religion geschieht.
Philosoph, Wissenschaftsjournalist, Verleger (RHVerlag), Mitarbeit an verschiedenen Projekten. Philosophische Praxis: Oft geht es darum, Menschen dabei zu helfen, ihr eigenes Weltbild zu erkunden. Interesse: Welt- und Menschenbilder, insbesondere die Frage eines zeitgemäßen Welt- und Menschenbildes.