Erleben ist Leben „im Hier und Jetzt". Diese Phrase wird heute bereits inflationär verwendet. Doch was heißt das? Klar, ohne Gedanken an Vergangenheit und Zukunft. Kein „Da war doch schon mal was", kein „Bitte nochmal", kein „Nicht schon wieder", kein „Was wird wohl werden?", kein „Was darf nicht werden?" - all das bleibt zurück. Einfach gesagt, einfach gedacht, aber man muss es erleben, und wer denkt, erlebt nicht. Nicht Vergangenheit und Zukunft bleiben zurück, sondern das Denken an Vergangenes und zukünftig Mögliches. So wie Inspiration nur geschehen kann, wenn das Denken völlig zur Ruhe gekommen ist. Völlig gedankenlos. So wie zwei Liebende einander begegnen, sie hätten sich so viel zu sagen, aber - Sag jetzt nichts! Nichts denken, nur Da-Sein, füreinander, miteinander, ineinander Da-Sein... Da verschwindet sogar (die Vorstellung von einem) Ich und Du. Sternstunden der Menschheit? Jein. Offenheit, einfach offen sein für das, was ist. Das kann man üben, man nennt das Yoga, Achtsamkeit, Meditieren, Kontemplation, was auch immer. Das kann und soll man üben, aber dieser Augenblick kommt, wenn man auch dieses Üben loslässt.
Denken - der Versuch zu begreifen, Ordnung zu schaffen in einer Ordnung, die ohnehin schon da ist, die ich aber nach-denken muss, sonst ist es nicht meine Ordnung. Der Mensch ist das denkende Wesen - nicht ganz: das ist die Vorstufe zum Mensch-Sein. Notwendig, um voranzukommen, aber hinderlich, wenn es um den letzten Schritt geht. Die Leiter, die wir am Ende loslassen müssen. (Wittgenstein). Der Mensch ist das (bewusst) erlebende Wesen. Und das Erleben geht dem Denken voraus. Wir denken mit dem Kopf, wir erleben als ganzer Mensch. Wenn wir uns auf das Erleben einlassen und nicht das Denken vorschieben. Es gibt Momente, da ist das Denken völlig hinderlich, siehe oben. Und - das sagt sogar der Physiker, Hans-Peter Dürr - „Wir erleben mehr als wir begreifen" (Herder spektrum, 5. Aufl. 2001). Das Ganze ist immer mehr als die Summe der Teile, sagen wir gedankenlos, und analysieren, zerlegen alles in kleinste Teilchen, und glauben, damit etwas mehr zu wissen. Aber wenn man einen Stein in zwei Teile zertrümmert, gehen die Teile nie wieder zusammen. „Und wenn wir Lebendes zertrümmern, geht uns Wesentliches verloren."
Dazu kommt: Wer einen Stein anfasst, erlebt auch gleichzeitig seine Hand. Auch das lässt sich nicht trennen. „Das Stein-anfassen ist also zugleich eine Erfahrung von mir selber." Ist ein Gesamterlebnis. Die analytische Methode ist ein Zerstören, um Wissen zu erlangen. Detailwissen, fragmentiertes Wissen - das Ganze, das Leben geht damit unwiederbringlich verloren. Die Welt wird zum Objekt, das Subjekt kommt darin nicht vor, die Grenze ist aber völlig künstlich. Diese Trennung ist vielen Philosophen fragwürdig, sie ist auch mit der Quantenphysik fragwürdig geworden. Denn die sagt jetzt auch: Die Dinge sind gar nicht so, wie wir sie begreifen. Die Welt „da draußen" ist eine Fiktion. In Wirklichkeit gibt es nur Verbundenheit. Die lässt sich nicht begreifen, aber sie lässt sich erleben. Aber unsere Sprache ist am Begreifen orientiert - und daher ungeeignet, die ungeteilte Wirklichkeit zu begreifen. Den Satz muss man nämlich so lesen: Das Ganze ist NICHT die Summe der Teile. Die Begrenzung liegt nicht im Sein, sondern im Sehen. Der Dualismus entsteht durch zwei unterschiedliche Sichtweisen: „Wenn ich von Geist spreche, betone ich eher die Verbindung, und wenn ich vom Körperlichen spreche, betone ich sozusagen die Getrenntheit." (Noch immer der Physiker H.-P. Dürr). Wir leben sozusagen in zwei Welten - und die Moderne will uns auf die eine reduzieren. Das Denken ist ja immer fragmentierend. Daher müssen wir wieder irgendwie zum bewussten Erleben kommen. Das geht nicht über das Außen, sondern über die Innensicht, das Nicht-Getrennt-Sein und die Verbundenheit. Der Weg der Meditation. Dürr: „Je heller das Bewusstsein, umso getrennter. Und je tiefer das Bewusstsein, umso weniger getrennt." Dafür braucht es Erleben, dafür braucht es eine andere Sprache. Eine Sprache, „die keine Aussagen macht, sondern zeigt". Denn in der Tiefe geht es nicht mal um Beziehung, sondern um Verbundenheit. „Was ist denn der Mensch? Ja, der Mensch ist nicht nur Kruste. Sein Körper wohl, aber im Kern ist er mit allem verbunden auf eine Weise, die sich nicht einmal als Wechselwirkung interpretieren lässt.
Die toten Sachen haben noch eine Beziehung und die nennt man Wechselwirkung. Die Lebendigen haben eine Beziehung, die nur zum Teil als Wechselwirkung beschrieben werden kann. Das ist vornehmlich Verbundenheit. Verbundenheit mit Differenzierung. ... Verbundenheit meint ‚nicht-fragmentierbar'. Und die Beziehungsstruktur ist dann die Art und Weise, wie wir darüber reden. Das ist schon Reduktionismus."
Kleiner Sidestep, um gleich auch ein Missverständnis über das „Nirvana" auszuräumen - schön, dass das auch ein Physiker tut: „Wenn mein Ich zurückkehrt in diese Verbundenheit, dann wird das mir unverwechselbar Eigene aufgelöst, aber nicht das Erlebende."
Und auf menschlicher Ebene: „In dem Augenblick, in dem eine Seelenverbundenheit da ist, wird man nicht mehr von Berührung sprechen." In diesem Augenblick des reinen Erlebens. „ Aber wenn sich diese Verbundenheit löst, haben die Zwischenschritte die Form von Berührung von Seelen. Oder andersherum: Man ist ja zunächst getrennt, man kommt sich näher und näher, und schließlich ist man in der Verbundenheit. Wenn man in der Verbundenheit ist, dann sprechen wir nicht mehr von Berührung. Die Sprache der Berührung ist die: vor oder nach dem Erleben." Das braucht eine radikale Offenheit. Der Physiker nimmt einfach hin, „dass der Mensch aus Quellen schöpft, deren Ursprung er nicht kennt". Die Verbundenheit ist nicht begreifbar, aber sie ist erlebbar. Sie ist nicht-lokal, d.h. nichtgebunden an Raum und Zeit. Diese Verbundenheit (auch zweier Seelen) ist da, bevor ich mir ihrer bewusst werde.
Philosophen sind nicht Denkende, sondern tief Erlebende, die das Erlebte hinterher reflektieren. (Die Philosophie ist weiblich!) Philosophieren ist beides (auch männlich-weiblich). Wer nur reflektiert, der theoretisiert, philosophiert aber streng genommen nicht. Es braucht eine Methode des Zugangs zum Erleben des Augenblicks, Philosophie ist die Reflexion nach dem Erleben. Und es ist erstaunlich, dass die Größen der Physik das mitunter deutlicher zum Ausdruck bringen als so manche Philosophen.