„Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, ... all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern." Die Ausgangslage wurde also absolut ehrlich abgebildet. Und „dass sich all das im Gehirn an einer bestimmten Stelle abspielt, stellt noch keine Erklärung im eigentlichen Sinne dar". Damit sind wir bei des Pudels Kern. Bei Funktionsmessungen im Gehirn wird bloß der erhöhte Energiebedarf in bestimmten Arealen gemessen, „Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch misst, während er verschiedene Aufgaben abarbeitet."
Es war durchaus die Einsicht vorhanden, dass „neuronale Netzwerke als hochdynamische, nicht-lineare Systeme betrachtet werden müssen. Das bedeutet, sie gehorchen zwar mehr oder weniger einfachen Naturgesetzen, bringen aber aufgrund ihrer Komplexität völlig neue Eigenschaften hervor". Es war klar geworden, „neuronale Prozesse und bewusst erlebte geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander zusammenhängen und unbewusste Prozesse bewussten in bestimmter Weise vorausgehen".
Bis hierher kann man von exakter Wissenschaft sprechen, was dann folgt, ist Interpretation, die sich ihres Interpretationscharakters nicht mehr bewusst ist: „Geist und Bewusstsein - wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden - fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Und: Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften." Die aber völlig unreflektiert im Raum steht. Wenn man von „Naturgeschehen" spricht, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass das ein philosophischer und kein naturwissenschaftlicher Begriff ist, dann sagt auch die Aussage, dass dieses nicht überstiegen wird, genau nichts aus.
Kommen wir zu den Prognosen: Die Notwendigkeit einer theoretisch fundierten Grundlage wurde gesehen und daher neben der experimentellen Neurobiologie eine theoretische Neurobiologie als eigenständige Forschungsdisziplin vorausgesagt, die dann eine ähnlich eigenständige Rolle spielen könnte wie die theoretische Physik. Diese theoretische Reflexion gab es vor zehn Jahren nicht und gibt es auch heute noch nicht.
Dass von den konkreten Anwendungen, vor allem in der Medizin und Psychiatrie bis heute keine Rede sein kann, könnte man als ein „Noch nicht" auslegen. Das Fehlen einer Philosophie der Neurobiologie ist jedoch dramatisch. Wie es geht, hat z.B. Ernst Mayr für die Biologie schon im 20. Jahrhundert vorgezeigt. Er demonstrierte, dass die Grenze zwischen exakter Naturwissenschaft und Geistes- oder Kulturwissenschaft mitten durch die Biologie verläuft. Das müsste den Neurobiologen doch zu Denken geben. Tut es aber anscheinend nicht.
Die Grenzen der Hirnforschung: Da scheint die Prämisse daneben gegangen zu sein, wenn da steht, „dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen". Dass sich alles im Gehirn abbildet, kann man ja akzeptieren, dass alles darauf „beruht", ist eine unzulässige Interpretation. Andererseits ist den Autoren doch klar, dass eine "vollständige" Erklärung der Arbeit des menschlichen Gehirns prinzipiell nicht möglich sein wird.
Und dann wird es wirklich interessant: „Im Endeffekt könnte sich eine Situation wie in der Physik ergeben: Die klassische Mechanik hat deskriptive Begriffe für die Makrowelt eingeführt, aber erst mit den aus der Quantenphysik abgeleiteten Begriffen ergab sich die Möglichkeit einer einheitlichen Beschreibung. Auf lange Sicht werden wir entsprechend eine ‚Theorie des Gehirns' aufstellen, und die Sprache dieser Theorie wird vermutlich eine andere sein als jene, die wir heute in der Neurowissenschaft kennen." Die Reichweite dieses Seitenblicks auf die Quantentheorie ist den Autoren jedoch nicht bewusst. Es gibt keine individuelle, sondern nur mehr eine statistische Voraussagbarkeit. Soweit haben sie das nachvollzogen und auch für die Neurobiologie akzeptiert. Dass das in der Physik einen völlig neuen Wirklichkeitsbegriff notwendig gemacht hat, der bis heute noch nicht wirklich verarbeitet ist, zumindest nicht allgemein, und was das für die Hirnforschung bedeuten müsste, soweit gehen die Reflexionen leider nicht.
Die Physiker haben nach den kleinsten „Bausteinen" der Welt gesucht, um zu erkennen, dass es solche kleinsten Bausteine gar nichtgibt. Dass der Welt etwas zugrunde liegt, das mit Begriffen wie Teilchen oder Materie nicht mehr beschrieben werden kann. Die klassische Vorstellung von Wirklichkeit ist schlicht und einfach obsolet geworden. Die oben getätigte Einschätzung, dass die Hirnforschung da „gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern" steht, dürfte zutreffen. Dass die Tatsache, dass sich alles im Hirn abbildet, eine Erklärung ist, wird allerdings später im Text wieder vergessen. Der Text pendelt zwischen reduktionistisch und doch nicht so reduktionistisch hin und her. Und damit konnte nicht verhindert werden, dass einzelne Hirnforscher in der darauffolgenden Zeit wieder in den platten Reduktionismus fielen.
Gerhard Roth erzählt in einem aktuellen Interview, dass es ihm eigentlich egal ist, was Philosophen sagen, die den Naturalismus ablehnen. Er lässt sich auf eine Diskussion, die beiden Seiten gut tun würde, erst gar nicht ein. Andererseits hält auch er die Idee, dass wir das Gehirn als Ganzes je verstehen könnten, für utopisch. „Neurobiologen allein können das Gehirn nicht erklären. Hirnforscher - das sind heute auch Psychologen, Psychiater und sogar Soziologen." Die Tragweite des Problems scheint auch zehn Jahre nach dem Manifest noch nicht klar geworden zu sein.
Man muss aber kein Prophet sein, um zu prognostizieren, dass die Neurobiologieüber die Erforschung der Kommunikation zwischen den Neuronen irgendwann zu dem Schluss kommen muss, dass es da nicht um Teilchen, Neuronen und Elektromagnetismus geht, sondern - wie in der Quantenphysik - um etwas, für das es noch gar keine Begriffe gibt. Klar ist manchen Hirnforschern - soweit sie nicht noch hinter das Manifest zurückgefallen sind - dass die Sprache einer Theorie des Gehirns eine andere sein wird, aber nicht, dass dies analog zur Physik auch einen völlig anderen Wirklichkeitsbegriff generieren wird.
Dieser Schritt steht noch bevor - und damit auch das Zeitalter der Hirnforschung.