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Feature

Aarhus: Europäische Kulturhauptstadt 2017

Reich, zufrieden, kreativ
Europas Kulturhauptstadt 2017 sprüht vor Ideen
von Robert B. Fishman

Aarhus, Dänemarks jüngste und zweitgrößte Stadt, geht es gut. Kaum Arbeitslose, 40 Prozent der Bewohner studieren oder haben einen Hochschulabschluss. Die Stadt am Meer lockt mit ausgefallenen Museen, einer lebendigen Musikszene und reichlich Gründergeist.

Zeitreise in eine Stadt vor 100 Jahren
Aus einem windschiefen, zweistöckigen Fachwerkhaus dringt ein leises Schnarchen. Ein alter Mann liegt in einem Holzbett. In der Hand hält er eine schmutzige Flasche. Neben ihm sitzt ein blondes Mädchen, das verängstigt auf den Schlafenden schaut. Sie scheint aufstehen zu wollen, bewegt sich aber nicht. In anderen Häusern des Freilichtmuseums Gamle By arbeiten Schuster, Schreiner oder Töpfer früherer Jahrhunderte in originalgetreuer Umgebung. Die lebensgroßen Puppen sehen aus wie lebende Menschen. Die perfekte Illusion.
In ganz Dänemark hat Gamle By seit seiner Gründung 1909 Häuser abgebaut und zu einer neuen alten Stadt zusammengefügt: eine Mühle, ein Marktplatz, eine Gärtnerei mit Gewächshäusern. In einem Hinterhof hängt über einer alten Wasserpumpe Wäsche an der Leine, als kämen die Bewohner gleich zurück.
Hinter schwarzen Pferdekutschen sitzen zwei Junge Frauen auf einem Mühlstein bei der Zigarettenpause. Sie sind echt. Mette, die blonde Kräftige, schreibt für eine Lokalzeitung an der Westküste. Trotzdem wohnt sie weiterhin in Aarhus, „weil sie diese Stadt liebt“. Sie füttert die Pferde und mistet den Stall aus. Im Sommer fährt sie Besucher mit den Kutschen übers Gelände.

soziale Architektur
Wie ihre Kollegin Anna, die sich hier Geld zum Studium dazuverdient, wundert sie sich über das neueste Großprojekt der kleinen Metropole: 2017 wird Aarhus Europäische Kulturhauptstadt. Re-Think, Neu Denken nennen die Macher ihr Konzept des Programms. Zwei Millionen Kronen habe die Stadt für eine Werbekampagne ausgegeben, die die meisten Einheimischen nicht verstehen. „Warum Englisch, warum ein so abstrakter Titel?“
Die Suche nach Antworten führt zu einem UFO, das im Hafen auf der anderen Seite der Innenstadt gelandet ist. DOKK1 steht in weißer Leuchtschrift auf dem grauen Raumschiff am Wasser.
Das Dokk 1 beherbergt eine der größten öffentlichen Bibliotheken Skandinaviens, Bürgerberatung, Tagungsräume, Vortragssäle, Büros. Neben den breiten Stufen haben die Architekten Rollstuhlfahrern komfortable Rampen gebaut.
Als „soziale Architektur“ beschreibt Rebecca Matthews die modernen Bauten des Nordens. Offene Treppen verbinden die verschiedenen Etagen, helle, hohe Räume, Sitz- und Spiel-Ecken. Dänische Gebäude nennt die Leiterin des Kulturhauptstadt-Programms »therapeutisch«. „Sie regen den Körper zur Bewegung an.“
Ihre Wahlheimat erlebt die Engländerin als »Inkubator für Ideen in Kunst, Kultur und Medien«. An den Hochschulen studieren junge Leute Journalismus, Mediendesign und weitere kreative Fächer.
Immer wieder staunt Matthews über den Gemeinschaftsgeist, der in Dänemark nicht nur die Architektur prägt. Überall dürften Kinder spielen, auf den Treppen des Dokk 1, am nahen Strand, auf den vielen verkehrsberuhigten oder autofreien Straßen und den vielen Grünflächen.
Das Motto Re-Think versteht Matthews als Anregung, gemeinsam die großen Themen unserer Zeit zu überdenken: Landflucht, Umweltzerstörung, Nachhaltigkeit. Im Kulturhauptstadtjahr will sie auf dem »World Creativity Forum« Künstler, Denker, Wissenschaftler und Leute aus der Wirtschaft zusammenbringen.
Kunst soll auf die Menschen zugehen. Im kommenden Sommer wird eine vier Kilometer lange Installation die Innenstadt bis zum Hafen durchziehen, eine weitere Jütland von Ost nach West durchqueren.
Der Reiseführer Lonely Planet hat Aarhus schon auf den zweiten Platz Top-Ziele Europas gesetzt. 2017 erwartet die Stadt drei Mal so viele Kreuzfahrtschiffe wie 2015.

Jacobs zweites Leben
Vor 1000 Jahren gründeten die Wikinger den Hafen Aarhus an einer geschützten Bucht. Zuletzt standen dort nur noch Lagerhäuser, Fabriken, Kräne und Lastwagen. Jetzt baut sich die Stadt eine neue Promenade. An deren nördlichem Ende wächst Zukunftsarchitektur in den Himmel. Århus Ø, Aarhus Ö heißt das neue Quartier für 8.000 Menschen hinter der Strandbar mit ihren Beachvolleyball-Feldern.
Als „Garten am Wasser“ preist die Stadt ihr neues, von Kanälen durchzogenes Viertel, natürlich „energiesparend und nachhaltig“ gebaut: Wolkenkratzer, geschwungene Bauten, das einem Leuchtturm nachempfundene Lighthouse und der Eisberg, ein in weiss und türkisblau gehaltener, bizarr geformter Komplex aus scheinbar ineinander verschachtelten Apartments.

Schwimmende Meerschweinchen beim Abendessen
„Oh, die sind wohl gerade beim Abendessen und haben keine Zeit für uns.“ Hindrik antwortet gerne mit Humor. 18.000 Schweinswale tummeln sich angeblich in der Meeresbucht vor Aarhus Ø. Mit einem Freund hat Hindrik die Sea Rangers gegründet. Sie fahren Besuchergruppen mit Schnellbooten auf die See, um ihnen das Leben im Wasser zu zeigen. Kurz taucht eine bleigraue Flosse auf, um sofort wieder zu verschwinden. Marswin, Meerschweine, heißt die kleinste Delfinart auf Dänisch. Vor 30 Jahren sei die See hier tot gewesen, mit Abwässern vergiftet. Heute gebe es wieder reichlich Fische, Seehunde und neues Leben an den künstlichen Riffen, die die Sea Ranger angelegt haben.
Junge Leute, die sich die teuren Wohnungen in Ø und der Innenstadt nicht leisten können, haben das weitläufige Gelände hinter dem ehemaligen Güterbahnhof besiedelt. Zwischen den stillgelegten Gleisen basteln sie an ihrer Zukunft, gründen kleine IT- und Beratungsfirmen und bauen ausrangierte Schiffcontainer zu gemütlichen Behausungen um. »Mad Bar« steht in weißer Handschrift auf einer schwarzen Tafel an einem der rostbraunen Container. Durch das eingeschnittene Fenster schenkt Christian Kaffee aus.
Die beiden versetzt übereinander gestapelten Container gegenüber hat sich der 30jährige zur Wohnung umgebaut: Decke und Wände isoliert, denInnenraum mit Holz vertäfelt, einen Fußboden verlegt, Fenster und eine Tür hineingeschnitten. Mit einem Geschäftspartner will er damit Geld verdienen: Wir kaufen gebrauchte Container, bauen sie aus und vermieten oder verkaufen sie weiter: eine Marktlücke angesichts der Wohnungsnot in Europas Grossstädten. Aarhus sprüht vor Ideen.

Hinweis: Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von Visit Denmark.

weitere Informationen:
Tourist-Info Aarhus: www.visitaarhus.de

Europäische Kulturhauptstadt 2017: www.aarhus2017.dk/de/

Fahrradvermietung und geführte Radtouren:
Cycling Aarhus, Frederiksgade 78, www.cycling-aarhus.dk

anschauen:
ARoS: Der regenbogenbunte Panoramarundgang des dänischen Künstlers Olafur Elíasson krönt das ARoS, eines der größten Museen für Gegenwartskunst in Nordeuropa. In 43 Metern Höhe blickt man durch buntes Plexiglas auf die Stadt. www.aros.dk

In den Berg hinein haben die Architekten das multimediale prähistorische Museum Moesgård MOMU gebaut. In Bildern, Installationen, Filmen und Computeranimationen reisen die Besucher in eine Steinzeitsiedlung. Das begrünte weiße Museums-Dach ist Teil der Landschaft. www.moesgaardmuseum.dk

Kulturzentrum Godsbanen (Alter Güterbahnhof):
Skaterbahn, offene Werkstätten, Theater, Filmwerkstatt, Ausstellungen und viele weitere Kreativ-Räume beherbergt das „Kulturproductionscenter“ hinter dem ARoS. Der Club Radar www.radarlive.dk bietet zahlreiche Live-Konzerte und andere Gründe, die Nächte durch zu feiern. Godsbanen, Skovgaardsgade 3,
Auf dem Freigelände südlich des Godsbanen haben sich weitere Kreative angesiedelt. In und vor ihren Containern basteln sie an der Zukunft. Einer baut Schiffscontainer zu Wohnungen um, andere betreiben eine Holzwerkstatt, ein kleines Cafe, ein Restaurant … http://godsbanen.dk

Dokk1: Skandinaviens größte Bibliothek bietet in einem ehemaligen Hafendock einen Blick in die Zukunft: Digitale Medien in allen Variationen, elektronische Ausleihe, zahlreiche Veranstaltungen

Frauen-Museum: In wechselnden Ausstellungen befasst sich das Museum mit Leben und Rollen von Frauen in verschiedenen Epochen, mit Geschlechterrollen, Transgender und mehr. Domkirkepladsen 5, http://kvindemuseet.dk

Besatzungsmuseum:
Das von Freiwilligen im Keller des ehemaligen Gestapo-Hauptquartiers betriebene Besaettelsesmuseet gibt Einblick in den Alltag der Dänen unter der Nazi-Besatzung 1940-45, erzählt von Widerstandskämpfern, Kollaborateuren, alliierten Luftangriffen, und dem Terror der Besatzer, Mathilde Fibigers Have 2, www.besaettelsesmuseet.dk

Psychiatrie-Museum: In den Räumen einer 1852 erbauten „Irrenanstalt“ erzählt das Ovartaci-Museum die Geschichte der Pychiatrie. Zu sehen sind Gemälde und andere Kunstwerke „psychisch kranker“ Menschen und im Keller an die 10.000 Gehirne, die die Ärzte verstorbenen Patienten bis 1982 entnommen haben. Skovagervej 2, Risskov, www.ovartaci.dk

Seefahrtsmuseum: Ehrenamtler sammeln alte Schiffe, Modelle, Bücher, Seekarten und mehr, sogar die Barkasse Jacob von 1943 - das letzte noch seetaugliche Schiff, das an der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 teilgenommen hat, www.aarhussoefartsmuseum.dk

Café:
angeblich der beste Kaffee der Stadt vom dänischen Barista-Meister Sören Stiller-Markussen www.greatcoffee.dk
Fairbar: Das Personal arbeitet ehrenamtlich. Die Einnahmen fließen an humanitäre Projekte. Abends gibt es oft Live-Konzerte oder offene Abende, an denen die Bühne allen offen steht, die etwas vortragen möchten, Nørre Allé 66, www.fairbar.dk

Feiern:
Musikbar Headquarters: Clubbing, Livemusik und Open-Mike-Abende, Valdemarsgade 1, gegenüber dem Musikhaus am ARoS, www.hq.dk
Latin Quarter: einige Straßenzüge zwischen typisch dänischen bunt angestrichenen Altbauten, voll mit Kneipen und Bars. Hotspot ist die Mejlgade.

Der Autor dieses Beitrags nimmt am Metis-Verfahren der VG Wort unter der Vertragsnummer 9001378 teil.