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Feature

Inseln der Entschleunigung: Eine Tour der Sinne auf den Orkneys

Von Robert B. Fishman

Kirkwall/Mainland. Hier ist nichts. Vom Wind kahlgefegte baumlose Hügel, auf denen Kühe und Schafe grasen, in die Landschaft gestreute grau verputzte blechgedeckte Bauernhäuschen. Dazwischen spiegeln glatte Seen und Buchten endlosen Himmel, auf dem die Wolken tanzen. Sie drehen Pirouetten türmen sich auf, malen wilde, rasende Monster oder tupfen kleine Schäfchen ins Blau, das im nächsten Moment drohend dunkelgrau werden kann, schwarz sogar oder harmlos blassblau-rosa.

„Leg Dich in die Heide und lausche“, sagt Malcolm, der Reisen für die fünf Sinne auf den Orkney-Inseln veranstaltet. „Du hast Zeit“. Stille? Nein, da unten fährt ein Auto vorbei, noch ein Auto und ein Traktor. Sie verschwinden hinter dem nächsten Hügel. Orkney Rushhour, Stoßzeit auf Mainland, der Hauptinsel der Orkneys, weit draußen im Ozean, hinter den schottischen Highlands.

Der Wind säuselt über die Heide. Ein Insekt brummt vorbei. „Spürst Du die Heide?“, fragt Malcom. Erstaunlich weich ist der Teppich aus lila-grünen Pflanzen, bequem wie ein frisch gemachtes Bett. „Man denkt, das sei wertloses Zeug, aber früher haben sie damit Matratzen gefüllt und die Dächer ihrer Häuser isoliert.“ Five-Senses-Tour, Touren der Fünf Sinne, nennt Malcom seine Fahrten über die Orkney Inseln. Er will seinen Gästen elementare Erfahrungen vermitteln. Gefühle, sagt der zurückhaltende Mittvierziger, sind die besten Andenken. „Erst mal ankommen, runterschalten, entschleunigen“.

Steinzeitdimmer und Brennnesselseile

Auf dem Rückweg zum Auto zeigt er auf Pflanzen am Wegesrand, grün-braunes, vom Wind zerzaustes Gestrüpp. Brennnesseln. Er rupft einen Zweig ab, entfernt die Blätter, teilt ihn mit dem Fingernagel der Länge nach und höhlt die Fasern aus. Dann dreht er mehrere von ihnen wie Taue ineinander. „Zieh mal“, sagt er. Die Brennnesselschnur hält. Unmöglich, sie zu zerreißen. „Die Natur gibt uns hier alles, was wir brauchen.“ Später hebt er eine leere Muschel am Wegesrand auf, pflückt einen Halm und schält ihn. Von den so freigelegten weißen Fäden legt er je einen in die Auskerbungen der Muschelschale. „Eine Lampe, wenn Du Öl hineinschüttest, brennt sie lange. Und wenn Du es dunkler haben willst, löschst Du einen der Halme.“ Ein Steinzeitdimmer.

Apropos Steinzeit: Die liegt gleich da unten im Tal. „The Standing Stones of Stenness“ heißen die bis zu acht Meter hohen Steine, die auf der schmalen Landbrücke zwischen einer Meeresbucht und einem Süßwassersee einen Kreis andeuten. Die in den weiten Himmel ragenden, von zartgrünen und orangefarbenen Flechten gesprenkelten Steine haben in den letzten 5000 Jahren eine steile Karriere hingelegt. Die Vereinten Nationen ernannten sie mit ihren Nachbarn vom Ring of Brodgar, dem Hügelgrab Maeshowe gleich gegenüber und dem Steinzeitdorf Scara Brae zum Weltkulturerbe. „Die hatten fließendes Wasser, Toiletten, Heizung und eine Kanalisation“, erzählt Archäologe Chris, der Touristen über die Insel führt: Ganz im Westen der Insel haben die Steinzeitbewohner ein Wehr gebaut, mit dem sie das Wasser eines Baches aufstauten. Von dort aus gruben sie Kanäle, bedeckten diese mit Sandsteinplatten und bauten darüber aus weiteren Sandsteinplatten ihre Häuser mit Feuerstellen, Schränken und Regalen. Wenn die Klos voll waren, öffneten sie einfach die Schleuse. Hightech anno 2500 vor unserer Zeitrechnung.

Während die Wissenschaftler das Leben im Steinzeitdorf Scara Brae weitgehend entschlüsselt haben, rätseln sie über die Bedeutung des Steinkreises von Brodgar und der stehenden Steine von Stenness. „Manche meinen, die Steinzeitler hätten die einst 60 Steine aufgestellt, um die Sterne zu beobachten, andere vermuten einen religiösen Hintergrund. „Das bleibt unserer Fantasie überlassen“, meint Chris, der wie Malcom auf die Insel gezogen ist und nie wieder weg will. Chris ist Engländer, Malcom Waliser. Beide lieben Orkney und beide zeigen Gästen begeistert „ihre“ Inseln. Zwei Jahre war er nicht mehr auf dem „Festland“, wie Großbritannien hier heißt. „Zu viele Menschen, zu viele Autos, zu viel Stress“, sagt er und spricht seinen Mitinsulanern aus der Seele. Die Inselhauptstadt Kirkwall mit ihren 7000 Einwohnern reicht ihnen als Metropole: Eine Fußgängerzone mit ein paar kleinen Läden und Bankfilialen, ein Postamt, eine Mini-Woolworthfiliale, ein kleiner Fischerhafen, eine echte Kathedrale, eine Handvoll gut besuchter, fröhlicher Pubs, zwei Fish-and-Chips-Imbissbuden, ein paar Hotels und garantiert keine Filiale der großen Handels- und Restaurantketten.

Nur Tesco, eine in Britannien verbreitete Supermarktkette, traute sich unlängst mit einer Filiale nach Kirkwall. „Denen haben wir erst mal klar gemacht, dass sie Orkney-Produkte verkaufen müssen“, berichtet Pat Stone. Der Gesichtsausdruck der großen, kräftigen Fünfzigerin lässt an ihren Worten keinen Zweifel. Sie kämpft erfolgreich für Orkneykäse, das als Orkneybeef weltbekannte Rindfleisch der Inseln, heimische Milchprodukte wie die Orkney-Eiskrem, Hummer, Krabben, Muscheln und andere Meeresfrüchte, Nordlicht- und Dark-Island-Bier, Kuchen und andere Insel-Leckereien. „Wenn wir unsere Produkte nicht kaufen“, fragt Pat, „warum sollen es dann andere tun?“ Logisch. „Die meisten hier haben auf den fruchtbaren Inselböden selbst eine Landwirtschaft und kochen gerne“, sagt Pat. Deshalb zahlen sie für frische, heimische Zutaten auch mal mehr, als für die abgepackten Fertigprodukte vom Festland. So gibt es Spezialitäten der scheinbar kargen Inseln auch bei Tasco - und in flüssiger Form auch in der Highland-Park Destillerie.

Ein 18jähriger mit einem Hauch Nussgeschmack für 199 Pfund

„Jetzt probieren sie mal den 18jährigen“, ermutigt die Animateurin ihre schon etwas matten Gäste. „Als erstes riechen sie ausgiebig. Lassen Sie den Geruch wirken. Dann nehmen sie einen ganz kleinen Schluck und halten Sie ihn lange im Mund, damit er sich entfalten kann. Achten Sie genau darauf, was mit ihren Geschmacksnerven passiert.“ Je länger man schnuppert, desto mehr Düfte scheinen sich zu entwickeln: ein bisschen Nuss, ein Hauch Mandel. Zum Trinken ist das Zeug fast zu schade. 900 Pfund kostet eine Flasche vom 40jährigen Highland-Park Whisky. Ein 18jähriger schlägt mit 60 Pfund pro Flasche zu Buche. Viel Geld für 0,7 Liter goldfarbenes Feuerwasser und für viel Arbeit. Eine gute Stunde dauert allein die Führung durch alle Produktionsschritte. In einer langen, 200 Jahre alten Halle breitet ein Fachmann die Gerste aus. Dann wendet er die Körner regelmäßig mit einer Holzschippe, bis sie trocken sind. Nach vielen weiteren Schritten wird der Whisky über einem Torffeuer geräuchert und schließlich in amerikanische oder spanische Eichenfässer abgefüllt.

Heimisches Holz gäbe es im „Valley of Happiness“, dem Tal des Glücks, das Edwin in einen kleinen Märchenwald verwandelt hat. 100 Jahre wäre Edwin dieses Jahr geworden. „Er galt als Exzentriker, aber die Leute haben ihn akzeptiert, viele auch bewundert, ein großartiger Mensch“, erinnert sich Malcolm an den vermeintlichen Spinner. Sein Haus hat er wie die Steinzeitmenschen aus den auf der Insel reichlich vorhandenen Natursteinplatten gebaut und mit ausrangierten Blechplatten gedeckt. Gedämmt wurde mit Moos und Heidekraut. Fenster und die Tür weisen nach Süden zu Licht und Wärme. Strom liefert der Bach vor dem Haus, der ein Wasserrad antreibt, das über eine kleine Turbine mehrere Autobatterien auflädt. Rund um sein Haus pflanzte Edwin Bäume. So entstand ein idyllischer Wald, der Haus und Garten vor den Winterstürmen schützt und die Sonnenwärme auf dem Grundstück hält. Seit seinem Tod vor drei Jahren pflegt ein Verein Edwins Erbe.

„Seine“ Insel sieht Malcom gerne als Modell für eine nachhaltige Zukunft: Einige Inselbauern haben mit Erfolg auf Bioanbau umgestellt, die anderen wirtschaften extensiv. Kühe und Rinder grasen von Mai bis Oktober draußen. Immer mehr Windräder produzieren umweltverträglichen Strom und kürzlich versenkten Wissenschaftler das erste Modell eines Meeresströmungskraftwerks vor den Orkney-Inseln.

Info:
Die Orkney-Inseln liegen nordöstlich von Schottland an der Wasserscheide zwischen Nordsee und Atlantik. Auf der Hauptinsel „Mainland“ leben rund 15.000 der 19.000 Orcadians, wie sich die Insulaner nennen. Die anderen wohnen auf rund 20 weiteren der insgesamt etwa 70 Inseln. Sie leben von der Landwirtschaft (vor allem Rinder- und Schafzucht sowie Milchwirtschaft), Fischfang und immer mehr vom Tourismus. Im Juli und August kann es voll werden, wenn am neuen Terminal der Inselhauptstadt Kirkwall Kreuzfahrtschiffe (ca. 75/Jahr) festmachen und ihre Gäste auf die Insel strömen. Ansonsten ist es auch im Sommer eher ruhig auf den Orkneys.

Info:
Visit Britain (Britische Tourismuszentrale), Dorotheenstr. 54 , D-10117 Berlin, www.visitbritain.de (in der Schweiz .ch, in Österreich .at)

www.visitscotland.com/de
www.visitorkney.com
Five Senses, Malcolm Handoll, Tel. 0044/1856/850169, www.allfivesenses.com

Klima:
„Wir haben hier alle vier Jahreszeiten – jeweils mindestens zwei Mal täglich“, sagt Reiseführer Chris. Vor allem im Winter rasen heftige Stürme mit mehr als 200 Stundenkilometern über die Inseln. Die Orcadians fallen bei Windstille um, heißt es. Sie sind es so gewohnt, sich gegen den Wind zu lehnen. Dank des Golfstroms kennen die Inselbewohner weder Kälte noch Hitze. Schnee ist selten und bleibt noch seltener liegen. Im Sommer kommt man bei höchstens 20 Grad ins Schwitzen.

Sehenswert:

Welterbe:
Einige der jungsteinzeitlichen Bauwerke auf den Orkney-Inseln zählen als „Heart of Neolithic Orkney“ seit 1999 zum Weltkulturerbe: Der Ring of Brodgar (In einem Kreis mit mehr als 100 Metern Durchmesser stehen 27 von einst 60 bis zu vier Meter hohe Sandsteine.), die stehende Steine von Stenness, das vermutlich als Versammlungs- und/oder Grabstätte gebaute Maeshowe und das Steinzeitdorf Scara Brae. Bis auf Maeshowe mit seinen Wikinger-Wandzeichnungen und –Graffity sind diese Sehenswürdigkeiten frei zugänglich. www.orkneyjar.com

Scapa Flow:
In der Bucht von Scapa Flow liegen die bei Wracktauchern beliebten Überreste zahlreicher deutscher und britischer Kriegsschiffe aus dem 1. und 2. Weltkrieg. In den 40er Jahren bauten italienische Kriegsgefangene an den Churchill-Barriers eine eigene rot-weiße Kapelle.

Überall auf den Inseln haben sich Kunsthandwerker und Künstler (www.orkneydesignercrafts.com) niedergelassen, so etwa die Teppichweberin Leila Thomson und ihre Schwester, die auch international erfolgreiche Schmuckdesigner Sheila Fleet. Ebenfalls auf der Hauptinsel Mainland fertigt der junge Fraser Anderson die traditionellen Orkney-Stühle aus Treibholz und Stroh (www.orkneyhandcraftedfurniture.co.uk).

Anreise:

Fähre:
Fährverbindungen mit Northlink Ferries (www.northlinkferries.co.uk) von Aberdeen nach Kirkwall (4x/Woche 6 Stunden Überfahrt) und von Scrabster nach Stromness (tägl. 3 Überfahrten, Dauer 1 ½ Std.) www.directferries.de sowie mit den Pentlandferries von Gills Bay auf dem schottischen Festland nach St. Margaret’s Hope (im Sommer 3 Überfahrten täglich, Dauer: 3 Std.) www.pentlandferries.co.uk

Flug:
z.B. mit Germanwings ab Berlin, Dresden, Leipzig, München, Köln, Wien und Zürich oder Easyjet ab Dortmund, München und Genf oder mit British Airways nach Edinburgh. Von dort sowie von Glasgow, Inverness, Aberdeen und Shetland fliegen Loganair und British Airways (www.ba.com) in die Orkney-Hauptstadt Kirkwall.

Bahn:
Bahnverbindungen durch den Eurotunnel via London nach Aberdeen, von dort fahren die Fähren nach Kirkwall