"Ich lach mich schlapp. Der Typ hat wahrscheinlich in irgendeinem Hotel gesessen und LSD genommen", sagt Tim Foley, während er die Spiegel-ReportageJaegers Grenze liest. Der "Typ", den der US-amerikanische Bürgerwehrchef meint, ist Claas Relotius. In seiner Story aus dem November 2018 beschrieb der Reporter, wie Foley und andere Mitglieder seiner Truppe an der amerikanisch-mexikanischen Grenze in Arizona patrouillierten. Foley sagt: "Der ist nie aufgetaucht. Ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass nicht ein einziges Wort hierin wahr ist."
Die ist in Daniel Sagers Dokumentarfilm Erfundene Wahrheit - Die Relotius Affäre zu sehen, der ab 24. März auf Sky läuft. Sie wiederum stammt aus einem bisher unveröffentlichten Video, das während der Nachforschungen des Spiegel-Autors Juan Moreno entstanden ist. Dieser hatte die mexikanische Sicht in Jaegers Grenze recherchiert und war kurz nach Erscheinen des Textes auf eigene Faust losgezogen, um Unstimmigkeiten in den Beschreibungen seines Kollegen nachzugehen.
Das Video zu Jaegers Grenze war der Anfang vom Ende von Relotius' Karriere. Für Moreno war es der Beginn eines quälend langen Beweisprozesses, seinen Angaben zufolge äußerte ein Vorgesetzter beim Spiegel Zweifel an der Echtheit der von ihm vorgelegten Videos. Hinzu kam, dass Relotius seinerseits mit einer plump gefälschten E-Mail von Foleys Ehefrau Zeit gewinnen konnte.
Publik machte der Spiegel den Skandal um seinen Redakteur, der bis dahin in Teilen des Journalistenmilieus als begnadeter Autor gegolten und mehrmals den Deutschen Reporterpreis gewonnen hatte, schließlich kurz vor Weihnachten 2018. Heraus kam, dass von den rund 60 Texten, die Relotius für den Spiegel geschrieben hatte oder an denen er beteiligt gewesen war, "sich viele als in wesentlichen Teilen gefälscht herausgestellt haben", wie das Magazin selbst es formulierte. Der Spiegel veröffentlichte dazu unter anderem die 220-seitige Dokumentation Der Fall Relotius. Die Original-Texte und die Ergebnisse der Überprüfung sowie den Abschlussbericht einer internen Aufklärungskommission. Auch für andere Medien hatte das vermeintliche Wunderkind Geschichten mindestens in Teilen erfunden.
Relotius' Reportage über die privaten Grenzschützer und fünf weitere Geschichten bilden die Struktur für Sagers Dokumentarfilm. Während ein Sprecher aus dem Off zentrale Passagen der Artikel vorliest, sieht der Zuschauer meistens Bilder von Orten, an denen der frühere Spiegel-Journalist gar nicht war oder die er falsch beschrieben hat. So zeigt Sager, wie Relotius für ein Gefängnis in Huntsville in Texas eine andere Umgebung erfindet oder wie er der Moschee in einer irakischen Stadt eine neue Farbe gibt. Der Regisseur hat auch Personen getroffen, die der systematische Fälscher in weitgehend fiktive Figuren verwandelt hatte - etwa einen Rentner, der in dem von Relotius als Hinterwäldler-Kaff beschriebenen Städtchen Fergus Falls lebt.
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In Tausend Zeilen, Michael Herbigs im Herbst 2022 erschienenen und wenig erkenntnisreichen Spielfilm über den Skandal, ist der Fälscher, der dort Lars Bogenius heißt, einer der beiden Protagonisten. In Sagers Dokumentarfilm kommt Relotius als Person dagegen kaum vor, nur kurz in Ausschnitten aus dem Archiv. "Ich wollte ihm die Chance geben, sich zu erklären - er wollte sie aber nicht wahrnehmen", sagt Sager.
Der Regisseur erzählt stattdessen die Geschichten der Opfer. Von Dennis Betzholz, der heute stellvertretender Ressortleiter bei den Kieler Nachrichten ist. 2014 konkurrierte er mit Relotius um einen Job beim Spiegel; den bekam schließlich der Mann, der später als Fälscher enttarnt wurde. Asia Haidar, eine freie Journalistin, die 2015 aus Syrien floh und gelegentlich auch für die ZEIT arbeitet, erzählt, wie sie von Relotius ausgebootet worden sei, nachdem sie zwölf Monate für einen Text über einen syrischen Jungen recherchiert hatte, der als 13-Jähriger den syrischen Präsidenten Assad mit einem Graffito beleidigt haben soll. Die Reportage mit dem TitelEin Kinderspiel wurde schließlich unter Relotius' Namen veröffentlicht - mit den für ihn üblichen Fälschungen -, Haidar wurde lediglich als "Mitarbeiterin" unter dem Text erwähnt. Beim Reporterpreis 2018 nahm Relotius den Preis für die beste Reportage dafür entgegen.
Dank dieser unterschiedlichen Perspektiven gelingt es Sager, den Medienskandal für Zuschauer greifbar zu machen, die den Namen Relotius vielleicht schon einmal gehört, sich aber nicht ausführlich mit dem Fall beschäftigt haben. Gleichzeitig ist der von Sky in Auftrag gegebene Dokumentarfilm ein Gewinn für jene, die schon viel wissen, weil er bekannte Aspekte anders gewichtet als bisher.
"Ich lach mich schlapp. Der Typ hat wahrscheinlich in irgendeinem Hotel gesessen und LSD genommen", sagt Tim Foley, während er die Spiegel-ReportageJaegers Grenze liest. Der "Typ", den der US-amerikanische Bürgerwehrchef meint, ist Claas Relotius. In seiner Story aus dem November 2018 beschrieb der Reporter, wie Foley und andere Mitglieder seiner Truppe an der amerikanisch-mexikanischen Grenze in Arizona patrouillierten. Foley sagt: "Der ist nie aufgetaucht. Ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass nicht ein einziges Wort hierin wahr ist."