Ein Vierjähriger zeichnet einen Mann mit einem Messer. Die Kindergärtnerin meldet das an die Behörden. In England zeigen sich die absurden Folgen der zunehmenden Überwachung von allem und jedem, das irgendwie mit Terror zu tun haben könnte. Von Peter Stäuber
Als Sonia Qassim* am 26. Januar 2016 von der Kinderkrippe nach Hause kam, war sie verwirrt und zutiefst beunruhigt. Ihr Sohn Abdul* war in Schwierigkeiten. In ernsten Schwierigkeiten: Die Behörden seien bereits offiziell informiert, hatte die Kindergärtnerin gesagt, eine Untersuchung würde folgen. Doch Sonia verstand noch immer nicht, was Abdul falsch gemacht hatte.
Nachdem sie ihren Sohn an jenem Nachmittag in der Krippe abgesetzt hatte, war sie von der Kindergärtnerin beiseite genommen worden. "Ich muss mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen", sagte sie, in der Hand einen Stapel Dokumente, den sie Sonia vorlegte: "Er hat unangemessene Zeichnungen angefertigt."
Sonia erkannte die Zeichnungen sofort. Die meisten stellten kaum mehr als eine Ansammlung von Strichen und Formen in verschiedenen Farben dar - Abdul ist vier Jahre alt. Aber auf einem Bild ist klar ein Mensch zu erkennen: Ein Strichmännlein, gezeichnet mit schwarzem Filzstift, mit einem unförmigen Kopf und zwei Punkten als Augen. Der Arm ist ein länglicher Strich, und dieser Strich hält ein Messer, das doppelt so gross ist wie der Mann.
"Das ist sein Vater, wie er eine Gurke (engl. Cucumber) schneidet", sagte Sonia zur Kindergärtnerin - so hatte ihr Abdul das Bild erklärt, als er es einige Wochen zuvor mit nach Hause brachte. "Naja, uns hat er etwas anderes gesagt", entgegnete diese. "Uns hat er gesagt, das sei sein Vater beim Schneiden einer Kochtopfbombe (engl. Cooker Bomb)."
"Er spricht von Bomben"Als Sonia Qassim Mitte September im Vorzimmer ihrer Wohnung sitzt und bei Tee und Biskuits vom Vorfall erzählt, muss sie immer wieder kichern, so absurd scheint ihr die Episode heute. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern am Stadtrand von Luton, 40 Minuten nördlich von London. Die mittelgrosse Stadt wird von der Presse gern als "Zentrum des Extremismus" bezeichnet. 2015 gerieten mehr als ein Dutzend Anwohner des Stadtteils Bury Park ins Visier der Anti-Terror-Abteilung der Polizei.
Auch Abu Rahin Aziz stammte von hier, ein berüchtigter Extremist, der sich dem Islamischen Staat anschloss, nach Syrien reiste und im Sommer 2015 bei einem US-Luftangriff in Raqqa getötet wurde. Und die vier Attentäter vom 7. Juli 2005 trafen sich zunächst in Luton, um dann gemeinsam in die Hauptstadt zu fahren und dort in U-Bahnwagen und Bussen ihre Bomben zu zünden.
Vielleicht war es dieser zweifelhafte Ruf ihrer Stadt, der die Kindergärtnerin dazu brachte, beim Anblick von Abduls Bild Alarm zu schlagen. "Ich weiss nicht, woher er das hat", sagte Sonia an jenem Tag Ende Januar, als sie mit den angeblich gefährlichen Bildern konfrontiert wurde. "Möglicherweise von den anderen Kindern?" Aber die Kindergärtnerin winkte ab: "Nein, nur er spricht von Bomben."
Sonia zerbrach sich den Kopf. "Ich dachte, dass es vielleicht die Superhelden-Programme sind, die er sich im Fernsehen anschaut", erzählt sie. "Er ist ein grosser Fan der Power-Rangers und die tauchen immer in einer Rauchwolke auf. Hatte Abdul die Idee mit der Bombe von dort?" Die Kindergärtnerin riet ihr, stets zu überwachen, was sich ihr Sohn auf YouTube anschaue. Sonia entgegnete, sie sei nicht dumm: "Ich schaue schon genau hin, was er sich auf YouTube anschaut - er steht vor allem auf Filme von Kindern, die Überraschungseier aufmachen."
Er wollte Gurke sagenSchliesslich fragte sie die Kindergärtnerin, was sie denn nun tun solle. Doch diese sagte, es sei nichts zu machen, der Fall sei bereits an ein Programm namens "Channel " weitergeleitet worden. Sonia verstand nicht. "Ich dachte, sie spreche vom Sozialamt, und ich beklagte mich, weil mein Sohn niemals auch nur einen Kratzer hatte, der auf häusliche Gewalt hindeuten würde - weshalb sollte sich das Sozialamt einschalten? Und die Kindergärtnerin entgegnete: ‹Channel ist nicht das Sozialamt, aber sie arbeiten mit ihm zusammen.›"
Verängstigt ging Sonia nach Hause. Als sie ihrem Mann von dem Vorfall erzählte, sagte er gleich: "Gurke! Er wollte Gurke sagen, aber er kann das Wort nicht aussprechen!" Anstatt Cucumber hatte Abdul Cooker Bomb gesagt, Kochtopfbombe. "Natürlich!", dachte Sonia und rief gleich in der Kinderkrippe an. "Ich sagte ihnen, dass er nicht von einer Bombe sprach, sondern von einem Gemüse", aber die Kindergärtnerin entgegnete, dass es schon zu spät sei, der Fall sei bereits weitergeleitet worden.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihr vierjähriger Sohn nicht dem Sozialamt gemeldet worden war, sondern einem Regierungsprogramm, das Teil der britischen Anti-Terror-Strategie bildet. "Channel" ist eine Sparte von "Prevent" ( "Preventing Violent Extremism"), einem Programm, das die Radikalisierung von Individuen verhindern soll.
Das Terrorgesetz schreibt vor, dass alle öffentlichen Angestellten verdächtiges Verhalten von Patienten, Schülern und Studenten melden müssen.Es wurde unter der Regierung von Tony Blair eingeführt und ist seit 2006 in Kraft, wurde aber letztes Jahr, als die heutige Premierministerin Theresa May noch dem Innenministerium vorstand, stark ausgebaut: Das Terrorgesetz von 2015 ( Counter-Terrorism and Security Act 2015) schreibt vor, dass alle öffentlichen Angestellten - darunter Lehrer, Ärzte, Universitätslektoren, Sozialarbeiter und Kindergärtner - während der Arbeit die Augen offenhalten und verdächtiges Verhalten ihrer Patienten, Schüler und Studenten den Behörden melden müssen.
Stellt ein Arzt beispielsweise beim Plaudern mit einer Patientin fest, dass diese eine merkwürdige Sympathie für den Islamischen Staat an den Tag legt, stellt er einen Überweisungsantrag, einen sogenannten "referral", an den "Channel"-Ausschuss in seiner Gemeinde. In diesem Ausschuss sind Angestellte der Lokalbehörde sowie der Polizei vertreten, meist auch Mitarbeiter der Sozialämter. Diese prüfen den Antrag und arbeiten gegebenenfalls einen Plan zur Unterstützung der betreffenden Person aus, der sie vom Extremismus und von der Radikalisierung abbringen soll - zum Beispiel Aggressions- oder Verhaltenstherapie oder "theologische Unterstützung", alles auf freiwilliger Basis.
Das Gesetz wurde bereits vor der Verabschiedung scharf kritisiert: Universitätslektoren warnten, dass es zu einer Atmosphäre des Misstrauens führen würde, gerade in Instituten der höheren Bildung, wo die freie Meinungsäusserung gefördert werden sollte. Ärzte meinten, ihre Aufgabe bestehe nicht darin, die ideologische Makellosigkeit ihrer Patienten zu überprüfen, sondern für ihre Gesundheit zu sorgen. Und Lehrer kritisierten, dass Extremismus nicht verhindert werden könne, wenn man in der Schule nicht frei darüber sprechen dürfe - ohne die Angst im Nacken, dass der Lehrer die Schüler ausspioniert.
Trotz dieser verbreiteten Bedenken wurde das Gesetz durchs Parlament gepaukt. Seit Sommer 2015 müssen sich öffentliche Angestellte an die sogenannte "prevent duty" halten - die Verpflichtung, verdächtiges Verhalten zu melden. Und Abduls Zeichnung schien verdächtig.
Geschenke und "unangemessene Zeichnungen"Am Tag nach ihrem ersten Gespräch mit der Kindergärtnerin ging Sonia in die Krippe, um das Missverständnis zu entwirren. Erneut sagte man ihr, dass es dafür zu spät sei. "Ich fühlte mich unter Druck gesetzt und war nahe dran zur Polizei zu gehen. Ich wusste nicht weiter!"
Dann verwies sie jemand an die Sozialarbeiterin Ruhab Farooq*, die sie zu ihrer nächsten Unterredung mit der Leitung der Kinderkrippe begleitete. Farooq sitzt heute ebenfalls in Sonia Qassims Vorzimmer, gekleidet in einen dunklen Hidschab, und nippt Tee. Sie spricht schnell und ist es sich offensichtlich gewohnt, mit Leuten zu streiten - wenn auch auf eine sympathische Art, oft mit einem ironischen Unterton.
Das Treffen mit der Leitung der Krippe lief nicht gut, erinnern sich die beiden Frauen. Zu dritt sassen die Kindergärtnerinnen hinter dem Tisch, schüttelten immer wieder die Köpfe, sprachen von "unangemessenen Zeichnungen" und von Bomben. "Ich hatte ihnen wenige Wochen zuvor Weihnachtsgeschenke gebracht", sagt Qassim, "und jetzt soll ich eine Extremistin sein? Ich fragte die Kindergärtnerin: ‹Seh ich aus wie eine Terroristin?›" Worauf diese geantwortet habe, dass man dem BBC-Entertainer Jimmy Savile auch nicht angesehen habe, dass er ein Pädophiler war. ("Doch, hat man", sagt Farooq grinsend.)
Das Gespräch endete damit, dass gegenseitig Drohungen ausgesprochen wurden: Die Kindergärtnerinnen sagten, dass Qassims Kinder möglicherweise in die Obhut des Sozialamts gegeben würden, und Qassim drohte an die Presse zu gehen - was sie schliesslich auch tat.
Die meisten "referrals" dringen nicht an die Öffentlichkeit. Dabei hat ihre Zahl seit Inkrafttreten des Anti-Terror-Gesetzes im Juli 2015 dramatisch zugenommen: Waren im Vorjahr landesweit 1681 Individuen gemeldet worden, stieg die Zahl 2015 auf knapp 4000 - das sind im Schnitt elf am Tag. Die Religion muss bei einem "referral" nicht angegeben werden, deshalb sind keine Zahlen über den Anteil an Muslimen verfügbar.
Woran erkennt man eine radikale Gesinnung?"Prevent" richtet sich offiziell nicht gegen eine bestimmte Gruppe von Extremisten, aber die Polizei schreibt auf ihrer Website ausdrücklich, dass die grösste terroristische Gefahr derzeit von Tätern ausgeht, die im Namen des Islams handeln; deshalb konzentriere sich "Prevent" in erster Linie auf muslimische Communities. Doch die öffentlichen Angestellten, die unter dem Programm zu Anti-Terror-Agenten der Regierung werden, sehen sich einem grundlegenden Problem gegenüber: Woran erkennt man eine radikale Gesinnung?
"Prevent" folgt einer klaren Theorie, sagt Rizwaan Sabir, Kriminologe an der John Moores University in Liverpool - und diese Theorie sei falsch. "‹Prevent› ist eine moderne Manifestation eines historischen Diskurses, der von Muslimen verübten Terrorismus als religiös motiviert erachtet und Religion für die Wurzel von Gewalt und Terrorismus hält", sagt Sabir am Telefon. Sabir hat am eigenen Leib erlebt, wohin die Terrorhysterie führt - er wurde aufgrund seiner Studien zum Thema verhaftet. Später mussten ihm die Behörden dafür Schmerzensgeld bezahlen.
"Prevent" folgt einer klaren Theorie, sagt Rizwaan Sabir, und diese Theorie sei falsch. Der Kriminologe an der John Moores University in Liverpool muss es wissen, er war selbst Opfer. (Bild: Mark Kerrison / Alamy Stock Phot)
Das sei schlichtweg nicht korrekt: "Akademische Studien über politische Gewalt und Terrorismus haben gezeigt, dass Ideologie nicht die Ursache von Terrorismus ist. Es gibt keine empirischen, wissenschaftlichen Belege, die zeigen, dass politische Gewalt, die von Gruppen wie Al-Qaida verübt wird, durch Ideologie bedingt ist." Vielmehr diene die Ideologie dazu, Gewalt zu rechtfertigen, aber die Ursache sei in der Regel sozioökonomischer und politischer Natur.
Dies wird von Akademikern kaum bestritten, und auch Vertreter der Geheimdienste teilen diese Ansicht. Als die ehemalige Direktorin des britischen Inlandgeheimdienstes MI5, Eliza Manningham-Buller, 2010 vor dem Untersuchungsausschuss zum Irakkrieg aussagte, wurde sie gefragt, inwiefern der Konflikt die Gefahr des internationalen Terrorismus erhöht habe. "Erheblich", lautete ihre Antwort.
"Prevent" operiert im "vorkriminellen" Raum. Im Science-Fiction-Film "Minority Report" ist eine solche Methode der Verbrechensbekämpfung recht wirkungsvoll.Doch die "Prevent"-Strategie beruht genau auf dieser falschen Annahme, nämlich dass gewaltsamer Jihadismus mit konservativen religiösen Ansichten oder mit anderweitigem "nicht-gewaltsamem Extremismus" anfängt und dann zu terroristischen Aktivitäten "eskaliert". Entsprechend soll der Kampf gegen Terrorismus damit beginnen, religiösen Konservatismus zu unterbinden. Gleichermassen werden gewisse politische Ansichten als ein Indiz für "extreme" Überzeugungen gelesen, deren Anhänger sich einer Entradikalisierungs-Kur unterziehen sollten.
"Prevent" operiert also im sogenannten "pre-criminal space", dem "vorkriminellen" Raum, in dem die Verbrechen noch nicht stattgefunden haben und lediglich Anzeichen erkennbar sein sollen, dass jemand möglicherweise in Zukunft einen Gewaltakt verübt. Im Science-Fiction-Film "Minority Report" ist eine solche Methode der Verbrechensbekämpfung recht wirkungsvoll, und zwar dank der Unterstützung von hellseherischen Mutanten. Doch selbst hier wird Tom Cruise zum Opfer einer Manipulation, die ihn in arge Schwierigkeiten bringt. Im realen Leben sind die Folgen dieses rechtlich fragwürdigen Ansatzes verheerend.
"Wir haben es hier nicht mit kriminellen Akten zu tun", sagt Kriminologe Sabir, "sondern mit legalen und legitimen Aktivitäten - Ausdruck von Dissens, Protest, Kritik der britischen Aussenpolitik -, die als Indikatoren benutzt werden, um festzustellen, wer ein künftiger Terrorist ist. Und das führt zur Kriminalisierung von vielen unschuldigen Menschen, die demokratische Aktivitäten ausüben."
Bewaffnet mit einer nebulösen Definition von Extremismus, machen sich öffentliche Angestellte daran, radikal gesinnte Bürger ausfindig zu machen.Auch das Royal College of Psychiatrists, der britische Verband der Psychiater, stellt die wissenschaftlichen Grundlagen der Anti-Terror-Strategie infrage: "Bislang sind keine Instrumente entwickelt worden, um auf zuverlässige Weise Leute zu identifizieren, die radikalisiert worden sind, radikalisiert zu werden drohen oder möglicherweise terroristische Akte ausführen werden", schreiben die Autoren eines Positionspapiers, welches das College im September veröffentlichte.
Ohne eine handfeste, wissenschaftlich belegte Theorie und bewaffnet lediglich mit dem Werkzeug einer überaus nebulösen Definition von Extremismus - "lautstarker oder aktiver Widerstand gegen grundlegende britische Werte", wie die Regierung formuliert -, machen sich also über eine halbe Million öffentliche Angestellte daran, radikal gesinnte Bürger ausfindig zu machen; Studenten, Schulkinder oder ältere Frauen, die wegen Rückenschmerzen den Arzt aufsuchen.
Ein 17-Jähriger wurde dem "Channel"-Programm gemeldet, weil er eine Spendensammlung für Palästina organisieren wollte. Ein achtjähriges Schulkind, das ein T-Shirt mit der Aufschrift "Abu Bakr Al-Siddique" trug - der Name des ersten Kalifs nach dem Tod Mohammeds -, wurde von einem Sozialarbeiter ausgefragt ("Gehen Christen in die Hölle?"). Ein 16-jähriger Schüler, der in der Schulbibliothek ein Buch über Terrorismus ausleihen wollte, wurde vom Bibliothekar dem Rektor gemeldet, der wiederum den örtlichen "Prevent"-Beamten informierte.
"Prevent" bewirkt genau das Gegenteil von dem, was es erreichen sollte: Es bindet die Muslime nicht stärker in die Gesellschaft ein, sondern schliesst sie von ihr aus.Das seien keine Ausnahmefälle, sagt Arzu Merali von der Menschenrechtsorganisation Islamic Human Rights Commission. "Das sind die Fälle, die es in die Medien schaffen, aber auch hinter den Kulissen findet man ein solches Ausmass der Lächerlichkeit. Es ist surreal." Für die Organisation ist das "Prevent"-Programm Ausdruck der zunehmenden Islamophobie seitens der britischen Behörden: "Vor zehn Jahren hätte ich gesagt, dass sich Muslime in Grossbritannien im Belagerungszustand befinden. Heute ist es schlimmer. Heute wächst eine ganze Generation junger Menschen in einem Klima der Islamophobie auf, das sie für normal halten."
So bewirkt "Prevent" genau das Gegenteil von dem, was es erreichen sollte: Es bindet die drei Millionen Muslime im Land nicht stärker in die Gesellschaft ein, sondern schliesst sie von ihr aus. Es gibt ihnen das Gefühl, unter Generalverdacht zu stehen.
Im Londoner Bezirk Tower Hamlets, wo die grösste muslimische Community in Grossbritannien lebt - von den rund 300'000 Einwohnern sind 45 Prozent Muslime - verabrede ich mich mit Ifhat Smith, deren 14-jähriger Sohn ebenfalls ins Visier der Anti-Terror-Behörden geraten ist. Er hatte im Französischunterricht das Wort "Öko-Terrorismus" benutzt und daraufhin Besuch von zwei Beamten erhalten. Sie fragten ihn, ob er zum IS gehöre.
"Zuvor war er so gern zur Schule gegangen, er hatte sich im Debattierclub engagiert und in Prüfungen gut abgeschnitten", erzählt Smith. Doch seit dem Vorfall sei er viel introvertierter geworden, verbringe viel Zeit allein in seinem Zimmer und sei nicht mehr so selbstbewusst wie vorher. "Er fragt mich immer wieder: ‹Wieso ich? Weshalb glaubte die Lehrerin, dass gerade ich den IS unterstützen würde?›", erzählt sie.
Die Öffentlichkeit agiert bei der "Prevent"-Strategie als omnipräsentes Abhörgerät des Staates.Ihr Sohn konnte auf die Unterstützung seiner Mitschüler zählen - die meisten davon Nicht-Muslime -, und der Fall wurde von den Behörden nicht weiterverfolgt. Aber das Misstrauen sitzt tief, nicht nur bei Smiths Sohn, sondern auch bei seiner Familie. "Es hat uns paranoid gemacht", sagt Vater Kano, ein grossgewachsener Mann mit Ziegenbart und kurz geschorenen Haaren. "Wir sind viel vorsichtiger bei dem, was wir sagen - bei allem, was mit Islam zu tun hat. Wir wollen nicht einmal mehr Witze machen." - "Es ist Selbstzensur", fügt seine Frau hinzu.
Die Öffentlichkeit agiert bei der "Prevent"-Strategie als omnipräsentes Abhörgerät des Staates. "Ungeachtet der Art und Weise, wie Informationen beschafft werden, werden sie zusammen mit geheimen Daten verarbeitet", sagt Kriminologe Sabir. Was ein Lehrer den "Prevent"-Beamten über einen Schüler erzählt, hat also den gleichen Stellenwert wie das Transkript eines abgehörten Telefongesprächs.
Das Innenministerium meint auf Anfrage, dass alle Meldungen registriert werden, die Polizei jedoch keine Angaben mache, wie lange eine Information in den Akten liegt. "Ein solches Gefühl der Überwachung führt zu Angst", meint Sabir. "Die Leute kontrollieren ihre Gedanken und Aussagen. Sie hüten sich, am Freitagabend in der Moschee ein Gespräch über den bewaffneten Kampf in Syrien zu führen, weil diese Information an den Staat weitergeleitet werden könnte - auch wenn sie keinerlei kriminellen Inhalt hat."
Politische Überzeugungen müssen kaschiert werden, wenn sie als unpatriotisch interpretiert werden können. Und das braucht in Grossbritannien nicht viel.Auf diese Weise werden die alltäglichsten Handlungen suspekt. Ruhab Farooq erzählt von einer Mutter, die Angst hat, wenn ihre Kinder beim Einkaufen die Zutaten eines Produkts prüfen und - falls es Alkohol oder Gelatine enthält - sagen: "Das können wir nicht essen, das ist ‹haram›." - "Ich habe von vielen Eltern gehört, die ihre Kinder so zensieren und sie anhalten, ihre religiösen Ansichten für sich zu behalten", sagt Farooq. Auch politische Überzeugungen müssen kaschiert werden, wenn sie als unpatriotisch interpretiert werden können.
"Es ist durchaus möglich, dass ich die Regierung nicht mag und dennoch Britin bin", sagt Farooq. "Aber uns wird dieser Gegensatz verweigert. Patriotismus allein reicht nicht - wir müssen hurrapatriotisch sein. Wir müssen beweisen, dass wir britisch sind." Wenn sie ihre Verwandten in Pakistan besuche, habe niemand das Gefühl, sie sei Pakistanerin. "Sobald ich in ein Flugzeug steige, merke ich, wie britisch ich bin - ich lästere etwa über Leute, die sich nicht in die Schlange stellen. Aber wie Tausende Muslime lebe ich in einer Gesellschaft, die von mir konstant verlangt, meine Britishness unter Beweis zu stellen."
Unter Umständen kann "Prevent" dazu führen, dass Bürger in die Hände von Extremisten getrieben werden.Die ständige Überwachung der muslimischen Minderheit führt zu einem Gefühl der Machtlosigkeit, zu Angst und Paranoia - und das kann gefährlich sein, sagt Kriminologe Sabir: "Die Marginalisierung und Exklusion führen zu Wut und machen es leichter, die Leute davon zu überzeugen, dass das gegenwärtige System nicht funktioniert und durch ein anderes ersetzt werden muss, wenn nötig mit Gewalt." Unter Umständen kann also gerade dieses Programm dazu führen, dass Bürger in die Hände von Extremisten getrieben werden.
Genau diese Kritik erhob auch Maina Kiai, Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Versammlungsfreiheit, nachdem er Grossbritannien im April besucht hatte: Indem Teile der Bevölkerung stigmatisiert würden, könne Extremismus gefördert anstatt verhindert werden, sagte Kiai.
Eine wachsende Zahl von Politikern, Interessengruppen und Experten in Grossbritannien schliesst sich dieser Einschätzung an - der Widerstand gegen die "Prevent"-Strategie nimmt laufend zu. Die Liberaldemokraten haben sich beim diesjährigen Parteitag für eine Abschaffung des Programms ausgesprochen, und der parteiübergreifende Parlamentsausschuss für Menschenrechte forderte die Regierung im Juli auf, "Prevent" zu überdenken. Im vergangenen Monat unterzeichneten 140 Akademikerinnen und Akademiker einen offenen Brief, in dem sie ebenfalls für eine Revision des Anti-Terror-Programms plädieren.
Sonia Qassim weiss noch immer nicht, ob der Gurken-Vorfall Konsequenzen haben wird für ihren Sohn. Sie ist vorsichtig geworden, sieht schnell Gefahr, wo es keine gibt. Einmal sagte ihr die Kindergärtnerin, dass Abdul gern tanze. "Ich dachte: Was bedeutet das?", erzählt Qassim. "Ist das ein Problem? Die Gurke bereitete mir so viele Schwierigkeiten, dass ich mich fragte, was für einen Strick sie mir aus einer Vorliebe fürs Tanzen drehen können."
Sie fragte Ruhab Farooq, was die Kindergärtnerin damit wohl sagen wolle, und diese antwortete: "Wahrscheinlich will sie damit einfach sagen, dass er gerne tanzt."
- * Die Familie und die Sozialarbeiterin möchten anonym bleiben, deshalb wurden alle Namen geändert. Original