Hamm - Heinz Gräwe ist 30 Jahre alt, zwei Meter groß und wiegt ungefähr 110 Kilogramm. Beinahe täglich trainiert er im Fitessstudio und stemmt dort Hunderte Kilo. Und: Er ist unheilbar an Krebs erkrankt. Doch davon lässt er sich nicht unterkriegen.
Beim Trainieren im Fitnessstudio zieht er viele Blicke auf sich: Wegen seiner Krebserkrankung wurde Gräwe der rechte Unterschenkel samt Knie amputiert. Deshalb trägt er eine Prothese. Die versteckt er beim Trainieren nicht, sondern zieht immer eine kurze Hose an. „Ich werde beim Trainieren oft angequatscht. Manche sind geschockt, aber viele finden, dass das abgefahren aussieht", sagt er.
Die Prothese verbirgt er mit Absicht nicht. Er möchte anderen Betroffenen Mut machen und zeigen: Auch mit Prothese kann man ein normales Leben führen und Sport treiben. Bereits mit acht Jahren erkrankt der Hammer das erste Mal an Krebs. Die Diagnose: Knochenkrebs. Gräwe bekommt eine Chemo- und Strahlentherapie, eine Knochenmarktransplantation, muss im Rollstuhl sitzen.
"Die beste Entscheidung meines Lebens"Sein rechtes Schienbein wird wegen der Krankheit entfernt und durch das linke Wadenbein ersetzt. Richtig laufen kann Gräwe damit nicht, er muss eine Ganzbeinorthese, also eine Stützapparatur am Bein, tragen. Fußball will er trotzdem spielen. „Mit 11 Jahren habe ich mir dabei das Bein gebrochen."
Der Krebs verschwindet nicht, befällt weitere Knochen. Wieder eine Operation, ihm müssen Rippen entfernt werden. Mit 16 Jahren bekommt Gräwe außerdem Lymphdrüsenkrebs. „Irgendwann wog ich 160 oder 170 Kilo und konnte mich kaum noch bewegen", erinnert er sich. Mit der Orthese kommt er nur einige hundert Meter weit.
Vor sechs Jahre entscheidet er sich schließlich für eine radikale Maßnahme: die Amputation seines Beins. Heute sagt er: „Das war die beste Entscheidung meines Lebens." Innerhalb von sechs Wochen lernt er, mit Prothese zu laufen. „Allein dadurch habe ich schon etwas abgenommen". Zwei Jahre später meldet er sich im Fitnessstudio an, um „mal ein bisschen was zu tun."
400 Kilo auf der BeinpresseHeute ist er fast täglich im Fitnessstudio, trainiert aktuell im 5er-Split: Beine, Brust und Trizeps, Rücken und Bizeps, Schultern, Beine - und am sechsten Tag Wettkampfübungen. Denn: Gräwe nimmt an Strongman-Wettbewerben teil, belegte in diesem Jahr den dritten Platz bei „Germany's Strongest Disabled Man 2018".
Bei dem Sport geht es darum, seine körperliche Stärke unter Beweis zu stellen. Die „Strongmen" ziehen zum Beispiel Lkw und heben extrem schwere Gewichte. Seit einem halben Jahr trainiert Gräwe deshalb noch gezielter und bereitet sich auf Wettkämpfe vor. 400 Kilo stemmt er bei seinem Training beispielsweise auf der Beinpresse.
Viele Geräte kann er ohne Probleme auch mit der Prothese nutzen. Damit diese den enormen Belastungen des Sports standhält, ist sie aus zehn Lagen Kohlefasern, also Carbon, gefertigt. „Normal sind zwei Lagen", meint Gräwe. „Da könnte ein LKW über den Schaft fahren und der wäre noch ganz."
Positives Bild vom Leben mit ProtheseSeine Prothese stellt Gräwe selbst her. Denn aktuell macht er seinen Orthopädietechnik-Meister an der Bundesfachschule in Dortmund. Während der Arbeit hilft ihm seine Behinderung: „Das Vertrauen der Patienten ist ein komplett anderes", meint er. „Und ich kann mich sehr gut in Patienten hineinversetzen." Außerdem vermittle er ihnen ein positives Bild vom Leben mit Prothese: „Bei mir sehen sie: Das Leben geht weiter." Das helfe den Patienten bei der Genesung.
Vor der Ausbildung zum Orthopädietechniker studierte Gräwe Biologie in Münster: „Wenn einem so viel fehlt, will man wissen, was im Körper abgeht", sagt er. Er hat nicht nur sein rechtes Bein und sechs linke Rippen verloren, sondern auch Lymphbahnen. Außerdem hat er von den vielen Operationen einen gelähmten Mundwinkel und eine Trapeziuslähmung - der Trapezius ist ein Muskel im Nackenbereich.
Gesund wird Gräwe nicht mehr. Vor drei Jahren erkrankte er an Schilddrüsenkrebs. Die Schilddrüse wurde zwar operativ entfernt, der Krebs ist aber noch da. „Meine ganze Lunge ist voller Metastasen", sagt Gräwe. Mit einer Radiojodtherapie wird das Wachstum der Krebszellen gehemmt. Alle paar Monate ist Gräwe auf der nuklearmedizinischen Therapiestation der Uniklinik Münster und bekommt dort radioaktives Jod verabreicht.
Auf Dauer schädigt diese Therapie aber das Knochenmark und es kann zu Blutbildungsstörungen kommen. „Es ist, wie es ist", meint Gräwe gelassen. Er lässt sich vom Krebs nicht runterziehen.
Von Pauline Sickmann