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Fast 220 Neonazi-Straftaten mit NSU-Bezug

Der Terror des NSU ist für viele Neonazis offenkundig vorbildlich. Rechtsextreme beziehen sich viel öfter als bislang bekannt auf die Rechtsterroristen. Statistisch gibt es jeden vierten Tag in Deutschland eine entsprechende Straftat.

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Der Umgang der rechtsextremen Bewegung mit den Taten des NSU ist widersprüchlich: Einerseits werden die Morde als "staatliches Konstrukt" abgetan, der NSU als eine vom Verfassungsschutz aufgebaute Gruppe bezeichnet. Damit wollen die Neonazis die Verantwortung für die Verbrechen auf staatliche Stellen abwälzen, um die eigene Szene zu entlasten. Andere Neonazis verzichten aber auch auf solche taktischen Überlegungen und zeigen offen ihre Sympathie bis Bewunderung für die Rechtsterroristen.

Im Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz für das Jahr 2013 heißt es dazu, "vereinzelt" hätten die Sicherheitsbehörden Straftaten "mit positiver Bezugnahme auf den NSU" registriert. Doch so selten, wie es der Geheimdienst nahelegt, sind solche Straftaten keineswegs.

Fast 220 Straftaten registriert

Wie aus einer Antwort der Bundesregierung - die tagesschau.de exklusiv vorliegt - hervorgeht, hat es seit dem Bekanntwerden der Terrorgruppe im November 2011 fast 220 entsprechende Straftaten gegeben. Dabei handelt es sich überwiegend um Delikte wie Volksverhetzung, Nötigung, Sachbeschädigung oder Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Registriert wurden aber auch sieben Gewalttaten, darunter Brandstiftung, schwere Körperverletzung oder schwerer Raub. In Rostock griffen beispielsweise mehr als 30 Neonazis mit Eisenstangen eine Gedenkveranstaltung für den vom NSU ermordeten Mehmet Turgut an.

Dazu listet die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion noch weitere Vorfälle mit NSU-Bezug auf, die "teilweise strafrechtlich nicht relevant" gewesen seien, beispielsweise ein Drohbrief an die "Mitteldeutsche Zeitung", eine Bombendrohung in Velbert oder T-Shirts mit der Parole "NSU - sind wir nicht alle etwas mundlos?".

Martina Renner, Abgeordnete der Linksfraktion, sagte tagesschau.de, die Zahlen seien "erschreckend". Statistisch gesehen würden seit der Selbstenttarnung des NSU alle vier Tage in Deutschland Straf- und Gewalttaten mit NSU-Bezug verübt.

Die meisten der Vorfälle mit NSU-Bezug sind in den bevölkerungsreichen Ländern Bayern und Nordrhein-Westfalen registriert worden, bezogen auf die Einwohnerzahl liegen Sachsen und Thüringen an der Spitze - die Länder also, wo der NSU gegründet wurde beziehungsweise von wo aus die Rechtsterroristen agierten.

Hohe Dunkelziffer vermutet

Linken-Politikerin Renner betont, die hohe Zahl von derartigen NSU-Sympathieaktionen zeige, dass das Terrornetz für einen relevanten Teil der Neonaziszene Vorbild sei, dem nachgeeifert werde. Dies gelte umso mehr, da man bei den Zahlen der Sympathieaktionen von einer erheblichen Dunkelziffer ausgehen müsse.

Ein Vorfall, der in der Statistik beispielsweise bislang nicht auftaucht, betrifft Mücheln in Sachsen-Anhalt. Dort griffen laut Augenzeugen drei Männer einen türkischen Imbissbesitzer an und drohten ihm, dass er das nächste NSU-Opfer werde, wenn er nicht aus dem Ort verschwinde. Eine halbe Stunde lang mussten die verängstigten Imbissbetreiber nach eigenen Angaben verbarrikadiert in ihrem Laden warten bis die Polizei eintraf. Aus Angst vor weiteren Angriffen verließ die Familie Mücheln, die mutmaßlichen Angreifer wurden im November 2013 in erster Instanz freigesprochen.

Die mobile Beratung für die Opfer rechter Gewalt in Halle kritisierte die Freisprüche. Eine Sprecherin sagte, das Urteil sei an Verharmlosung und Ignoranz rassistischer Gewalt kaum zu überbieten. Staatsanwaltschaft und Nebenkläger sind zwar in Berufung gegangen, doch bislang taucht der Fall nicht in der Auflistung der Straftaten mit NSU-Bezug auf. Die Statistik könnte also noch weiter wachsen.

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