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Column

Der Kirchentag – eine Verteidigung

Die Aufregung war groß, als jemand im Programm des Dortmunder Kirchentags den Workshop „Vulven malen“ entdeckt und darüber berichtet hatte. Vor allem konservative Medien und Twitter-Konten sprangen darauf an. Den Tenor kann man sich vorstellen: „Was hat das mit Jesus zu tun?“, „Was macht die Kirche da?“ – manches klang auch nach einem leicht pubertären: „Höhöhö, Vulven...“. 

 

Sogar der damalige Kirchentagspräsident Hans Leyendecker musste sich dazu äußern. Als Journalist kennt er den Mechanismus von Medien, das Ungewöhnliche zu suchen. „Ich verteidige das Recht des Kirchentags auf Exotik, aber das Exotische allein steht nicht für den Kirchentag“, sagte er. Das ist der Punkt: Eine von über 2.000 Veranstaltungen war dieser Workshop. Es ist nur ein kleines Beispiel, aber insgesamt scheinen Kirchentage von außen betrachtet, oft nicht gut wegzukommen. Wer aber tatsächlich schon einmal einen besucht hat, weiß dass oft Zerrbilder gezeichnet werden. 

 

Nehmen wir mal Ulf Poschardt, Chefredakteur der „Welt“. Er hat vor einigen Jahren eine Debatte über eine Weihnachtspredigt losgetreten, weil er sie zu politisch fand, sie klinge nach Jungsozialisten und Grüner Jugend. Im Zuge dieser Debatte sagte er in einem Interview: „Ein Kirchentag ist kaum noch zu unterscheiden vom Grünen-Parteitag.“ Nun war ich persönlich noch nie bei einem Grünen-Parteitag, aber wie ein Kirchentag kann er eigentlich nicht sein. 

 

Meine Erfahrungen mit Kirchentagen sind ganz anders, anders auch übrigens als das ebenso falsche Bild einer Gruppe naiver Menschen, die fromme Lieder singen und der Welt entrückt sind. Meinen ersten Kirchentag habe ich als Jugendlicher besucht und seitdem immer wieder. Ich fand dort ein Forum für Diskussionen vor, die ich anderswo so nie erlebte. 

 

Vor Jahrzehnten blieb ich auf dem „Markt der Möglichkeiten“ – einer Art Messe von Gemeinden, Gruppen und Initiativen, am Stand der „Christen in der Bundeswehr“ hängen. Dort debattierten Soldaten intensiv mit pazifistischen Besuchern und Besucherinnen. Da stand der Satz von den Schwertern und den Pflugscharen der Idee von bewaffneter Sicherheit gegenüber – ähnlich wie heute wieder. Die Positionen waren unvereinbar und blieben es auch, aber die Diskussion wurde trotz aller Unterschiede fair und sachlich geführt; ganz anders als in mancher Talkshow heute oder in Sozialen Medien. 

 

In Berlin lagerte vor dem Kirchentags-Gelände eine Gruppe Jugendlicher, die auf Transparenten alles Mögliche, teilweise Abwegige, für sich forderte. Immer, wenn ich vorbeikam, standen Kirchentagsbesucherinnen und -besucher dort ins ernsthafte Gespräch mit den jungen Leuten vertieft. Eine Gesellschaft könnte davon lernen. 

 

Viele Jahre später war Thomas de Maizière, damals Innenminister, Gast auf einem Podium, Es ging um das Kirchenasyl, das de Maizière damals scharf kritisierte – auf einem Grünen-Parteitag wohl unwahrscheinlich. Heute ist er Präsident des Nürnberger Kirchentags. 

Der Kirchentag hat immer auch konservativen Politikern eine Bühne geboten, etwa Günter Beckstein (CSU), Christine Lieberknecht (CDU) und dem früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Und doch behauptete wiederum Poschardt 2019: „Beim Evangelischen Kirchentag wird die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden auf ein Minimum beschränkt.“ Richtig ist, dass die Kirchentagsleitung beschlossen hatte, auf Podien und in Veranstaltungen keine AfD-Politiker und -Politikerinnen zuzulassen. Ich finde diese Grenze bei einer Partei zu setzen, aus der immer wieder menschenverachtende Töne kommen, richtig. Aber man kann darüber streiten und das geschah ja auch reichlich. Und in diesem Jahr gab es eine Debatte über eine Palästinenser-Ausstellung und einen Stand von Abtreibungsgegnern – beide waren offenbar vom Kirchentag nicht zugelassen worden. 

 

Sicher stimmt es, dass das Kirchentagspublikum kein Abbild der gesamten Gesellschaft ist. Ich vermute sogar, dass es unter den Teilnehmenden mehr Zustimmung zu eher linken oder liberalen Positionen gibt als in der Allgemeinheit gibt (wenn man diese Kategorien denn bemühen möchte). Aber die anderen Positionen sind präsent, bekommen Zeit und Raum und die Gelegenheit, die Zuhörenden zu überzeugen. Diskutieren, abwägen, eine eigene Meinung entwickeln und Stellung beziehen – ist das nicht gut protestantisch? 

 

Abgesehen davon könnte man, wenn man den Kirchentag denn wirklich besuchte, schon am ersten Abend die Absurdität des Parteitags-Vergleich erkennen: Wenn es dunkel geworden ist, werden überall in der Gastgeberstadt Kerzen entzündet – zehntausende an der Zahl. Es wird gesungen, am Ende werden alle mit einem Segen in die Nacht geschickt. An den anderen Tagen drängen sich tausende zu Bibelarbeiten, sie sitzen in Gottesdiensten und Kirchenmusik-Konzerten, sie feiern Abendmahl und sprechen über die Zukunft der Kirche. 

 

All das gehört dazu und vieles, vieles mehr. Man mag manches komisch oder skurril finden, man mag manches Format für sich ablehnen. Man kann aber auch einfach sehen, was für einen Reichtum diese Kirchentage bieten, was für eine Vielfalt. Und dann sucht man sich das aus, was einen persönlich anspricht und bereichert, kulturell, spirituell oder intellektuell. Ich habe noch keinen Kirchentag erlebt, wo mir das nicht gelungen ist. 

 

Das Vulven-Malen war laut Medienberichten übrigens sehr beliebt, es kamen mehr Teilnehmerinnen als es Plätze gab.