Der Buchtitel macht natürlich neugierig: "Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben" ist in diesem November auf Deutsch erschienen, nachdem das Buch von Kristen Ghodsee in den USA schon länger ein paar Wirbel ausgelöst hatte. Bereits 2017 hatte die Professorin für Russische und Osteurpäische Studien in der New York Times einen Artikel mit demselben Titel - und den gleichen Thesen - geschrieben: Im Sozialismus geht es den Frauen besser als im Kapitalismus, der ihnen unendliche Freiheiten verspricht. Frauen waren im Realsozialismus wirtschaftlich weitaus unabhängiger, nicht nur von (ihren) Männern, sie hatten auch mehr persönliche Wahlfreiheiten, was Kinder und Beziehungen angeht - und dadurch letztlich auch besseren Sex. 2018 erschien dann das Buch auf Englisch. Bereits auf den Artikel hin hatten Autorin und Zeitung zahlreiche Zuschriften erhalten, ein paar neugierige und viele sehr wütende. Im Sozialismus soll es Menschen besser gegangen sein als im Hier und Jetzt, als im "Land of the Free"? Während diese Vorstellung dem Stammpublikum dieser Zeitung wenig revolutionär vorkommen wird, schien sie für viele des liberalen Zentralorgans, der New York Times, unfassbar zu sein.
Doch bei einer Vorstellung will es Ghodsee nicht belassen und unternimmt im Buch den Versuch, die Thesen ihres Artikels auch zu beweisen. Sie bezieht sich dabei auf zahlreiche soziologische Studien aus den (ehemals) sozialistischen Ländern. Interessant ist eine Untersuchung aus den Jahren 1997 und 2005 über die von der früheren Sowjetunion geprägte städtische Mittelschicht. Die in den 1920er Jahren geborenen ehemaligen Sowjetbürgerinnen gaben noch mehrheitlich an, wenig Lust auf Sex zu haben. Doch bereits bei den zwischen 1945 und 1965 geborenen, die ökonomisch viel unabhängiger von ihren Partnern waren als die Generationen zuvor, waren Romantik, Sympathie und Freundschaft Motivationen, mit einem Mann Sex zu haben. Besonders interessant ist hierbei der freundschaftliche Sex: "Dabei setzten die Partner Sex als ein Mittel ein, um gegenseitige Zuneigung und Respekt auszudrücken." Hier sieht Ghodsee teilweise die feministischen Visionen von Alexandra Kollontai, August Bebel und Clara Zetkin verwirklicht: Sie alle hatten nicht nur die Befreiung der Frau durch Veränderung der ökonomischen Grundbedingungen vorhergesagt, sondern auch andere, bessere, echtere, weniger warenförmige Beziehungen als im Kapitalismus.
Ein Vergleich zwischen der DDR und BRD scheint Ghodsees These ebenfalls zu bestätigen: In Westdeutschland waren (und sind, möchte man ergänzen) Frauen oft vom Partner finanziell abhängig, was ihre sexuelle Wahlfreiheit einschränkt. Vielen DDR-Frauen ging es da anders: Sie reichten nicht nur häufiger die Scheidung ein, schließlich waren damit kaum ökonomische Folgen verbunden, sie mussten sich auch nicht an einen Ehemann verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Das schien unter anderem auch dazu zu führen, dass Frauen sexuelle Befriedigung nicht nur einforderten, sondern auch bekamen. Eine 1990 durchgeführte Studie hatte zum Beispiel ermittelt, dass ostdeutsche Frauen Sex mehr genossen und häufiger Orgasmen hatten. So waren nur 52 Prozent der westdeutschen Frauen nach dem Sex glücklich, aber 82 Prozent der ostdeutschen. In einer anderen Untersuchung berichteten westdeutsche Männer davon, dass sie durch die Direktheit, mit der ostdeutsche Frauen nach der "Wende" sexuelle Wünsche äußerten, oft überfordert waren.
In allen sozialistischen Ländern ist mit den vielen Freiheiten der Frauen nach 1990 Schluss. Die staatlich geförderte Gleichberechtigung wurde mit der staatlichen Kinderbetreuung, dem staatlichen Mietenmarkt, den staatlichen Betrieben, in denen Frauen relativ gleichberechtigt mit Männern gearbeitet hatten, abgeschafft. Die Männer waren wieder in der Versorgerrolle, Frauen von ihnen abhängig und Sex eine Ware, die Frauen eintauschen konnten. In Ghodsees Buch geht es selbstverständlich nicht nur um guten Sex. Sie zeigt, dass staatliche Regulierungen Frauen weitaus mehr Wahlfreiheiten und Würde verschaffen können als die vermeintliche Freiheit des Kapitalismus, der Frauen in Beziehungen zwingt, über die sie oft genug nicht frei entscheiden können - und sei es eine Beziehung in der man bleibt, weil man sich keine andere Wohnung leisten kann -, bis hin zur Zwangsprostitution.
Doch was bedeutet das für unsere Zukunft? Was können wir vom Sozialismus lernen? Darauf vermag Ghodsee keine Antwort zu geben. Und leider auch keine relevanten Fragen zu stellen - danach, welche Beziehungen wir anstreben und wie wir sie erreichen können. Die wichtigste Erkenntnis des Buchs, dass wir durch Regulierungen auch unsere Beziehungen zueinander zum Besseren verändern können, dass die feministischen Vorstellungen früher Sozialistinnen tatsächlich teilweise verwirklicht wurden, führt nicht zu der Frage, welche Beziehungen wir haben wollen und durch welche politischen Prozesse und Maßnahmen wir diese erreichen wollen.
Vielleicht möchte Ghodsee aber auch gar nichts verändern? Gleich zu Beginn des Buchs stellt sie klar: "Nichts liegt mir ferner, als einer Art Rückkehr zu irgendeiner Spielart des Staatssozialismus des Wort zu reden, wie wir ihn aus dem 20. Jahrhundert kennen." Was möchte sie denn dann? Wahrscheinlich leider nur den Kapitalismus etwas optimieren. Sie empfiehlt Unternehmen, Maßnahmen zur Gleichberechtigung zu ergreifen, weil sich "diese Investition für sie auszahlen" werde. Bis auf die oben beschriebenen Kapitel, in denen Ghodsee die Maßnahmen der sozialistischen Länder auswertet, ihre Erfolge und Misserfolge darstellt, bleibt "Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben" leider ein wirres Buch ohne klare Zielsetzung. Sie selbst schafft es letztlich auch nicht, sich dem internalisierten Antikommunismus, gegen den sie anschreibt, zu stellen und Schlüsse daraus zu ziehen. Am Ende bleibt hier nur der schöne Titel übrig.