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Soziale Grenzen überwinden? Mythos freies Internet


Das Netz ist frei und für alle offen. Dort treffen sich Menschen, die sich offline nie begegnen würden. So lautet ein Versprechen, das von Anfang an mit dem Internet verknüpft war. Einerseits. Andererseits stehen Soziale Netzwerke aktuell massiv in der Kritik. In sogenannten Filterblasen würden verschiedene Milieus vor sich hin kommunizieren, ohne mit anderen ins Gespräch zu kommen. Was stimmt?

BlackLivesMatter: Das Internet kann Massenproteste bestärken

Im Netz verbreiten sich Nachrichten rasend schnell und unabhängig von traditionellen Medien. So kann ein Internetvideo in Sozialen Netzwerken Menschen zusammenbringen, die vorher nebeneinanderher gelebt haben. Eines der in diesem Zusammenhang meist genannten Beispiele ist Black Lives Matter, eine Bürgerrechtsbewegung in den USA: Im Winter 2012 wurde der junge Afro-Amerikaner Trayvon Martin, bekleidet mit einem schwarzen Kapuzenpullover, vom Security-Mitarbeiter George Zimmerman erschossen. Als die Polizei Zimmermann nach kurzem Verhör wieder entließ, kochte die Diskussion in Sozialen Netzwerken hoch. Im ganzen Land kam es zu Demonstrationen und Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt, die immer größer wurden. Wochen später wurde Zimmermann verhaftet, vor allem aber waren der Hashtag #BlackLivesMatter und eine Bewegung geboren.

Online ist nur möglich, was offline bereits vorhanden ist

Im Fall von Black Lives Matter spielen Sozialen Netzwerke also eine große, häufig aber auch überbewertete Rolle: Polizeigewalt war und ist ein großes Problem in Amerika, das sich in den letzten Jahren nochmals zugespitzt hat. Daher gab es auch schon früher lokale Bündnisse, die sich mit diesem und anderen Bürgerrechtsthemen beschäftigten. Vor allem im Zusammenhang mit Occupy Wallstreet hatte es schon einige ähnliche Proteste gegeben. Black Lives Matter hat also nur verstärkt, was schon da war. Ein ähnlicher Fall war der sogenannte Arabische Frühling, der von vielen Medien auch als ​„Facebook-Revolution" bezeichnet wurde. Gemeint ist damit eine Ende 2010 beginnende Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen in der arabischen Welt gegen dortige autoritäre Regime. Eine Besonderheit war, dass Aufrufe zu Demonstrationen, politische Forderungen und subversive Nachrichten über Facebook und Twitter geteilt, also verbreitet wurden. Viele der Protestierenden selbst haben sich jedoch gegen die Bezeichnung ​„Facebook-Revolution" verwehrt: Sie empfanden sie als eurozentrisch, weil für sie die entscheidenden Massenproteste auf der Straße stattgefunden haben und dass Netz daran nur kleinen Anteil hatte. Und genau wie bei Black Lives Matter diente das Internet hier lediglich zur Koordination und Verstärkung schon bestehender Unzufriedenheit und Unruhen. Die Demonstrationen - genauso wie die Toten auf der Straße - waren dabei überaus real und ganz und gar nicht virtuell.

Online Offline-Grenzen überwinden? Schwierig.

Ähnlich verhält es sich mit dem Mythos, das Netz könne reale soziale Grenzen tatsächlich und dauerhaft überwinden. Sicher war das früher einfacher als heute. Man muss sich einmal vorstellen, wie großartig diese ersten Begegnungen im Internet gewesen sein müssen, um zu verstehen, dass dieser Mythos der Offenheit bis heute nachwirkt: In den ersten Internetforen schrieben sich Menschen, die sich noch nie begegnet waren, beziehungsweise das nicht mit Gewissheit wussten, weil sie anonym mit Pseudonym und Avatar surften und von sich nur preisgaben, was die anderen wissen sollten. Alles schien möglich: Diverse Menschen am anderen Ende der Welt zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen, sich eine völlig neue Identität zuzulegen oder gleich mehrere. Doch auch damals trafen sich schon hauptsächlich Gleichgesinnte. Und damals waren ebenfalls schon kulturelle Codes, gemeinsame Interessen und ein Internetzugang Grundvoraussetzungen. Ein vorläufiges Fazit scheint also zu sein: geografische Grenzen zu überwinden, ist das Internet in der Lage, gegen die Grenzen sozialer Milieus kommt es jedoch nicht an.

Facebook und die Filterblasen

Heute ist es noch schwieriger seine Filterblase im Netz zu verlassen als früher, und das hat mit der Kommerzialisierung durch professionelle Soziale Netzwerke zu tun: In den Nuller Jahren erreichten die Sozialen Netzwerke, das sogenannte Web 2.0, den Mainstream und die Masse. Die erste große und bekannte Plattform war Myspace, die bald von Facebook abgelöst werden sollte. Es gibt zwar auch heute noch andere Soziale Netzwerke, doch Facebook ist zweifelsohne Monopolist in diesem Bereich. Twitter kämpft schon seit Längerem ums Überleben, und weitere Soziale Netzwerke wie Instagram wurden von Facebook aufgekauft. Bei Facebook aber bleibt man unter sich und seinesgleichen: Man bleibt unter ​„Freunden". Die Struktur von Facebook ist das Gegenteil der anfänglichen offenen Forenstrukturen. Und auch anonym wird kaum noch kommuniziert: Seit 2015 geht Facebook vielmehr massiv gegen Pseudonyme vor und setzt die Klarnamen-Pflicht durch. Die Zeiten, in denen man online neue Identitäten abseits der Offline-Biografie ausprobieren konnte, sind damit bis auf Weiteres vorbei.

Die Mär vom freien Internet

Das alles beantwortet jedoch nicht die Frage, warum sich die Mär vom offenen und freien Internet, in dem scheinbar alles möglich ist, so hartnäckig hält. Das hat mit den Gründervätern der Sozialen Netzwerke zu tun. Als Ende der 1980er, Anfang der 1990er die ersten Sozialen Netzwerke gegründet wurden, waren sie bevölkerte von Ex-Hippies und kalifornischen Libertären. Sie alle waren Anhänger des Netzwerk-Gedankens, von einer freien Welt. Sie alle glaubten fest daran, dass im virtuellen Raum alles möglich sei. Ihre Erzählungen und Pamphlete wirken bis heute nach und werden kolportiert. Doch die Wahrheit ist: Eine Online-Welt ist nur so gut oder schlecht wie ihr Offline-Pendant. Erst wenn wir das begriffen haben, können wir online kommunizieren, ohne überzubewerten, was wir da tun, und offline endlich etwas verändern, wo es wirklich nötig ist.

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