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Wie Luft auf der Haut

Manche Wunde will einfach nicht heilen – und belastet damit den ganzen Körper. Jetzt erprobt ein Wissenschaftler etwas Neues: Hilft kaltes Plasma gegen die infizierten Stellen?


Es riecht nach Raumschiff, findet Carsten Mahrenholz. Die anderen Anwesenden sind sich uneins: Vielleicht eher nach Hallenbad? Rasierwasser? Modelleisenbahn? Es ist der Duft von Plasma, einem energiereichen Gas, das neben fest, flüssig und gasförmig als vierter Aggregatzustand gilt. Die Oberfläche der Sonne besteht daraus, andere Sterne, Sonnenwinde und interstellarer Nebel ebenso. "Plasma ist ein Mix aus Licht, UV-Strahlung, geladenen Teilchen, reaktivem Sauerstoff und Stickstoff. Es existiert sowohl in heißer als auch kalter Form", erklärt Mahrenholz, 41, Wissenschaftler und Unternehmer, der mit diesem Cocktail Großes bewirken will und deshalb etwas Kleines gebaut hat. Sein würfelförmiges Gerät zur Erzeugung von Kaltplasma steht auf einem Tisch im Wundzentrum des MeckCura-Pflegedienstes in Güstrow bereit.

Auf der Liege daneben hat Manfred Steinfurt Platz genommen. Den Rentner plagt seit mehr als zehn Jahren eine offene Wunde an der rechten Fußsohle. Was unter seinem Verband zum Vorschein kommt, ist nichts für zarte Gemüter. Auseinanderklaffendes rosarotes Fleisch, tief eingesunkenes Gewebe, eine Wundfläche, fast so groß wie seine Sohle. Pflegedienstleiterin Antje Höppner ist trotzdem zufrieden: "Sieht schon viel besser aus, Herr Steinfurt", sagt sie, während sie die Wunde sorgfältig vermisst, reinigt und schließlich ein weißes Silikonkissen darüberstülpt. Über ein Kabel verbindet sie das Kissen mit dem würfelförmigen Gerät, drückt einen blauen Knopf und lächelt ihrem Patienten aufmunternd zu: "Jetzt heißt es zwei Minuten warten."

Von außen betrachtet passiert nichts Spektakuläres. Eine Behandlung mit Kaltplasma ist schmerzfrei, lautlos und nahezu unsichtbar. Nur der sonderbare Geruch verrät, dass aus der weißen Box Strom in die hauchfeinen Leitungen der Silikonauflage fließt und die Luft darunter ionisiert. So wirkt das Kaltplasma direkt auf der Wunde. "Das hat schon ein bisschen was von Star Trek", sagt Mahrenholz. Er ist großer Science-Fiction-Fan. Weil er nicht nur visionäre Romane, sondern auch Biologie und Wirtschaft studiert, in Chemie promoviert und lange als Rettungssanitäter gearbeitet hat, kann er heute Zukunftstechnologien praktisch anwenden.

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Plasma kommt seit einiger Zeit in der Raumfahrt, in Bildschirmen, Leuchtmitteln, Solarzellen und Schaltgeräten zum Einsatz. Dass Materie in dieser Form auch für die Medizin interessant ist, liegt an zwei ihrer physikalischen Eigenschaften: Kaltplasma tötet binnen Sekunden sämtliche Bakterien, Viren und Pilze ab. Selbst multiresistente Keime haben keine Chance gegen das ionisierte Gas. Den Körperzellen hingegen kann es nichts anhaben. Stattdessen kurbelt es wohl sogar die Mikrozirkulation im Gewebe an, was die Sauerstoffversorgung verbessert, Entzündungen lindert und die Teilung von Zellen und somit die Neubildung von Gewebe anregt. Wie genau Kaltplasma den Heilungsprozess fördert, wird noch erforscht. Die Tatsache an sich ist aber durch Studien bereits gut belegt.

Bei chronischen Wunden wie Druckgeschwüren, offenen Beinen oder durch Diabetes bedingten schlecht heilenden Infektionen kann Kaltplasma als ergänzende Therapie die Wundfläche verkleinern oder sogar schließen. Eine 2020 im Journal of the American Medical Association publizierte Studie etwa zeigt, dass sich die Wundoberfläche bei Patienten mit diabetischem Fuß nach 14-tägiger Behandlung mit Kaltplasma durchschnittlich um fast 70 Prozent reduzierte - bei Patienten, die auf die Standardtherapie allein nicht angesprochen hatten. Auch bei akuten Wunden, etwa nach Verbrennungen, Transplantationen oder chirurgischen Eingriffen, kann Kaltplasma die Wundheilung beschleunigen und Komplikationen vorbeugen. Aufgrund der überzeugenden Ergebnisse erhielt das von Mahrenholz entwickelte Verfahren im vergangenen Jahr die Kassenzulassung; seitdem kann die Behandlung von den Krankenkassen erstattet werden.

Bis dahin war es ein weiter Weg. "Obwohl man um das Potenzial von Plasma in der Wundbehandlung weiß, war es kompliziert, die Technologie in eine praxistaugliche Anwendung für die Medizin zu überführen", erklärt Mahrenholz. Am Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie in Greifswald tüftelten er und seine Mitstreiter so lange, bis aus der Idee 2015 das Start-up Coldplasmatech entstand. "Seitdem versuchen wir, die Wundbehandlung zu revolutionieren", sagt Mahrenholz. Ist diese Ansage nicht eine Nummer zu groß? Der Unternehmer schüttelt den Kopf. "Ich kann das mit gutem Gewissen genau so sagen. Im Wundzentrum Güstrow zum Beispiel sprechen 85 Prozent der Patienten auf die Behandlung an. Darunter einige Patienten, die als austherapiert galten."

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Und wie sehen andere das? Der Phlebologe Ullrich Katz gilt als einer der renommiertesten Spezialisten für Wundbehandlungen in Deutschland. Vor seiner Pensionierung war er unter anderem Chefarzt der Wundklinik am Ruhrpark in Bochum und Leiter des Wundzentrums der AOK Nordost in Berlin. "Kaltplasma ist ein sehr interessanter Ansatz. Ich bin tatsächlich weniger skeptisch als sonst", sagt er, was aus seinem Mund einem Lob gleichkommt. Denn die Art und Weise, wie chronische Wunden in Deutschland versorgt werden, kritisiert Katz seit Langem: "Da wird mehr verwaltet als geheilt." Patienten würden durch einen ewigen Kreislauf aus Spülen, Salben und Verbinden gelotst. "Das führt selten zu medizinischen Erfolgen, fördert aber den Absatz der rund 8000 Wundauflagen auf dem Markt." Tatsächlich ist die Versorgung chronischer Wunden auch ein großes Geschäft: Rund vier Millionen Betroffene gibt es schätzungsweise, jeder kostet das Gesundheitssystem rund 10.000 Euro im Jahr. "Einerseits bräuchte das System also dringend Entlastung, andererseits hat ein großer Geschäftszweig keinerlei Interesse daran", so Katz. Er selbst macht sich für den Einsatz von Kompressionsverbänden stark, die durch gezielten Druck auf die Blutgefäße die Wundheilung anregen. Eine Revolution hat auch er damit nicht geschafft. "Ich bin in der DDR aufgewachsen. Da ging es auch nicht von heute auf morgen, aber am Ende hat es geklappt."

Dass mit Kaltplasma nun eine zweite Methode auf Heilung abziele und auch Mahrenholz sich gegen das bestehende System stemme, findet er begrüßenswert. Bisher scheint es zu funktionieren: Große Kliniken wie die Berliner Charité, das Uni-Klinikum Essen oder das Kreiskrankenhaus Passau verwenden den Plasma-Cube und die Silikonauflagen bereits. Zunehmend werden auch Pflegedienste darauf aufmerksam. Und nicht zuletzt die Patienten selbst: "Nach Güstrow und Berlin gibt es einen regelrechten Wund-Tourismus. Da pilgern Menschen hin, die jahrelange Leidensgeschichten hinter sich haben", sagt Mahrenholz. Falsche Hoffnungen schüren will er aber nicht: "Kaltplasma ist kein Wundermittel. Es funktioniert nur, wenn Grunderkrankungen konsequent behandelt werden und das Wundmanagement stimmt."

In Güstrow ist Manfred Steinfurts Behandlung unterdessen abgeschlossen, der Fuß des Patienten frisch verbunden. Während er am Stock zurück ins Foyer humpelt, sinniert er über das Kaltplasma. "Was genau es macht, verstehe ich nicht. Aber ich weiß, dass mein Fuß zum ersten Mal seit Jahren besser statt schlechter wird", sagt er. "Ich brauche weniger Schmerzmittel, kann besser laufen, schlafen und bin sogar mal wieder Fahrrad gefahren." Deshalb riecht das Plasma für den Rentner nach etwas anderem - nicht nach Raumschiff, auch nicht nach Hallenbad, sondern: nach Freiheit.

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