Da kommt ein Mann, weiße Haare, ganz in Schwarz. Melina geht direkt auf ihn zu. Sie sagt:
"Der Herr in den Frühlingsfarben, einmal kurz stehen bleiben, bitte!"
Der Mann läuft an ihr vorbei.
Als Nächstes tritt eine Frau auf den Leipziger Platz, blond, Daunenjacke. Sie kommt aus der Mall of , trägt drei Einkaufstüten.
"Die Shoppingqueen, bitte, kurz stehen bleiben!"
Die Frau tippelt um Melina herum.
In den nächsten zwei Stunden wird niemand für Melina stehen bleiben. Obwohl sie immer genau so lächelt, wie es ihr beigebracht wurde. Nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen.
Wenige Tage vor Weihnachten ist der Himmel über Berlin eisblau, die Temperatur liegt bei minus sieben Grad Celsius. Trotz der Kälte wird Melina, 27, heute acht Stunden lang auf dem Leipziger Platz stehen. Zusammen mit Rachel, 24, und Freya, 19, sammeln sie Spenden für Amnesty International, die größte Menschenrechtsorganisation der Welt.
Insgesamt werden Melina Pfundstein, Rachel Siehoff und Freya Hansen um die 3.000 Menschen ansprechen. Wie viele davon werden ihnen ihre Kontonummer geben?
Spenden sammeln auf der Straße ist ein hartes Geschäft. Der menschliche Einsatz ist hoch, die Erfolgsquote niedrig. Daran ändert auch die Weihnachtszeit nichts, in der viele ja eigentlich noch etwas für ihr Gewissen oder für ihre Steuererklärung tun wollen. Wer sind die Menschen, die in Zeiten von Krise, Krieg und noch mal Krise dazu bereit sind, etwas abzugeben? Und wie geht es denen, die dieses einsammeln müssen?
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