Als Isabelle Bertges zu dem Casting fährt, das ihr Leben verändern wird, hat sie gerade ihr Schauspielstudium abgebrochen. Sie braucht deshalb einen Job, spricht für mehrere Rollen vor. Am 27. Juni 2015 fährt Bertges von Bochum mit dem Zug nach Ludwigsburg. Sie will für den Film eines heute 67-jährigen Schweizer Regisseurs vorsprechen.
An diesem Tag erlebt die 18-Jährige ein Casting, wie sie es aus ihrem jungen Schauspielerinnenleben noch nicht kennt. Sie habe am Set gesehen, wie Menschen, die vorsprachen, geschlagen und zwischen den Beinen und an den Brüsten angefasst worden seien, sagt Isabelle Bertges. "Die Castingcrew hat mehrere Frauen dazu genötigt, sich auszuziehen, sie wurden angeschrien und bedrängt." Auch sie selbst sei bei ihrem Vorsprechen angefasst worden, sagt sie im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Eine Schauspielerin, die von der Produktionsfirma angestellt worden sei, habe sie an der Brust und im Schritt berührt. All dies sei passiert, ohne dass es vorher abgesprochen worden sei. Sie habe sich gewehrt, aber die Frau habe trotzdem weitergemacht. Sie habe die Szene trotzdem fertig gespielt. Dann sei sie gegangen. Man habe ihr noch angeboten, für eine zweite Rolle vorzusprechen. "Aber ich hatte genug", sagt Bertges heute, "ich wollte da nur noch weg."
Die Regisseurin Alison Kuhn hat über dieses Casting einen Film gemacht. The Case You gewann 2021 den Deutschen Dokumentarfilmpreis in der Kategorie Kultur und ist nun im Kino zu sehen. Isabelle Bertges und vier weitere Frauen arbeiten darin auf, wie sie das Casting damals erlebt haben. Alle fünf Schauspielerinnen sprachen 2015 für denselben Film desselben Regisseurs vor. Auch die Regisseurin Alison Kuhn nahm 2015 als Schauspielerin bei einem der Vorsprechen teil.
ZEIT ONLINE hat den Regisseur der Castings um eine Stellungnahme gebeten. Weder er noch seine Produzentin meldeten sich auf diese Anfrage. Auch gegenüber anderen Medien hat er sich bis jetzt nicht zu den Vorwürfen geäußert. Für die Protagonistinnen dieses Textes war eine Bedingung für ihre Aussagen gegenüber ZEIT ONLINE, dass der Name des Mannes in diesem Text nicht genannt wird, da sie Angst haben, dass dies Auswirkungen auf ein derzeit anhängiges Verfahren gegen ihn haben könnte. Auch in The Case You wird sein Name nie genannt.
In seiner Heimat ist der Regisseur nicht unbekannt. Zeitungen nennen ihn "den bösen Buben" des Schweizer Kinos. Seine Erfolge liegen allerdings schon länger zurück. In den Neunzigern führte er Regie beim Tatort und Polizeiruf 110. Er ist für extreme Castingmethoden bekannt. Auf der Seite Moviepilot werden diese als eine "Herausforderung" beschrieben, "die Schauspieler entweder als Test der eigenen Stärke annehmen oder als nicht zu tragende Bürde ablehnen. Nackt, geohrfeigt, eingesperrt und von der Kamera bedrängt, werden die Vorsprechenden hier an ihre Grenzen gebracht."
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