Wenn Michael May ein Ding mit den Augen betrachtet, ist es für ihn nicht zu erkennen. Ein paar bunte Tupfer in einem Meer aus Farbe. Erst wenn seine Finger mit den Klecksen Fühlung aufnehmen, treten die Konturen hervor. Dann weiß er, ob da nun Schuh oder nur Schatten lauert. „Ich muss Sachen berühren ehe ich sie sehen kann", sagt May. „Genau wie früher."
Früher: Da war Mays Blick versperrt durch eine weiße, undurchsichtige Narbenhaut. Jetzt fällt wieder Licht ins Dunkel, ein paar Stammzellen und der intakten Hornhaut eines Toten sei Dank. Der 54-Jährige ist seit seiner Operation im Jahr 2000 ein vielbeachtetes Phänomen für die Wissenschaft: Kaum jemals hat ein Mensch, der so früh erblindete, so spät das Augenlicht wiedererlangt. Michael May war drei, als er es verlor - die Folge eines Unfalls mit ätzenden Chemikalien. Nach der Transplantation kann nun eines seiner Augen die Umwelt wieder aufnehmen, aber sein Kopf weiß nicht so recht, was er mit diesen Bildern anfangen soll.
Die Reise ins Licht ist ein AbenteuerFrüher konnte May den Raum um ihn herum orten wie eine Fledermaus, und seine Hände erschlossen ihm die Welt der Gegenstände. Er bewegte sich so frei, dass die meisten Menschen nicht bemerkten, dass da ein Blinder um sie herumsteuerte. Jetzt stolpert May über eine Treppe, weil sein Gehirn einen Schatten vermutet; Parkautomaten spricht er als Personen an. Wenn Menschen mit ihm sprechen, sieht er nichts als klappende Münder und flatternde Augenlider. Am Anfang überfrachtete ihn jeder Blick durch die neue Hornhaut mit einem Datensatz, den er erst mühsam analysieren musste.
„Es fließt nicht mehr", erklärte er seiner Frau. Er, der Vorzeigeblinde, glücklicher Familienvater, paralympischer Skirennfahrer und erfolgreicher Unternehmer, hat eine vernünftige Welt, in der alles Sinn ergab und eine Ordnung hatte, gegen ein verwirrendes, anstrengendes Fragezeichenland eingetauscht. „Meine Reise ins Licht ist ein großes Abenteuer", sagt er, „keines für schwache Nerven."
Die Idee der Dinge„Aus Mikes Fall können wir lernen, welche Rolle eigentlich das Gehirn übernimmt, wenn wir etwas sehen", sagt Ione Fine, Wahrnehmungsforscherin an der University of Washington in Seattle. „Oder, besser gesagt: zu sehen glauben. Die Welt um uns her ist nicht unbedingt so, wie sie uns erscheint. Wir sehen nicht die Dinge selbst, sondern die Idee, die wir von ihnen haben. Wenn man so will: eine Illusion von Wirklichkeit." Dem zweidimensionalen Bild, das einfallendes Licht auf einer Netzhaut zeichnet, fügt erst das Gehirn die dritte Dimension hinzu.
Der virtuellen Anordnung, die bei dieser komplizierten Kalkulation entsteht, entspricht zwar oft eine Realität, aber eben nicht immer. Das zeigen die beliebten Vexierbilder. So unterstellt das Gehirn unterschiedliche Größen nur, weil gleich große Objekte scheinbar weiter vorn und weiter hinten stehen. Es zeigt Gedrucktes aus der Papierfläche herausragend, weil es von einem Schatten begleitet wird. Und es verwandelt seltsame Fratzen in ebenmäßige Gesichtszüge, sobald sie auf dem Kopf stehen.
„Wir fallen auf alle diese optischen Täuschungen herein", sagt Fine. „Mike tut das nicht. Denn räumliches Sehen ist für ihn genauso wenig selbstverständlich wie das Erkennen von Objekten oder Gesichtern." Weil aus seinen Augenaufzeichnungen keine imaginären dritten Dimensionen entstehen, sieht er etwas, das dem reinen Netzhautbild sehr nahe kommt. Ohne die Illusion von Raum fehlt dieser puren Seh-Art aber auch die Wirklichkeitstauglichkeit.
Die Entzauberung der vorgestellten WeltErst sein Wissen, schrieb der englische Psychologe Richard Gregory bereits vor 50 Jahren, ermöglicht dem Menschen, den vagen Schemen auf der Netzhaut eine Bedeutung abzugewinnen. Damals beschäftigte er sich mit einem ähnlichen Fall: Der 52-jährige Schuster Sidney Bradford hatte nach 51 Jahren Blindheit eine neue Hornhaut erhalten. Zu Gregorys Verblüffung konnte er sofort nach der Operation die Zifferblätter der Uhren lesen. „Er übertrug die Erfahrungen seines Tastsinns auf die Augen", erklärt Gregory. „Damit konnte er die neuen Seheindrücke kalibrieren."
Doch Perspektive war für den sehenden Blinden ein Buch mit sieben Siegeln. Gemalte Szenen, Landschaft und Himmel, alles, was sich der Berührung entzog, war undeutbar, ja sogar abstoßend für Bradford. Einmal sagte er, da habe er sich die Welt so wunderschön ausgemalt, und nun sei sie so wirr und hässlich. Wenige Monate nach der Operation starb er an einer Lungenentzündung - an Heimweh, glaubt Gregory.
Der Blick ist von Erinnerung durchzogenZu 90 Prozent besteht visuelle Wahrnehmung aus wiederauferstandenen Erinnerungen, davon ist Gregory heute überzeugt. „Das, was tatsächlich aktuell in unserem Gesichtsfeld erscheint, findet sich nur in einem Zehntel des Bildes wieder, das in unserem Geist als vermeintliche Realität auftritt." Es sind die Neuronennetze in der Hirnrinde, die das Unsichtbare sichtbar machen. Der primäre visuelle Cortex, in dem die Informationen aus dem Augenhintergrund eintreffen, umfasst schon 15 Prozent der gesamten Rinde. Von ihm aus führen breite Nervenautobahnen und verschlungene Pfade zu über 30 weiteren Sehzentren. 60 Prozent aller Nervenzellen im Großhirn sind an der Verarbeitung von Augensignalen beteiligt.
Wie genau diese Netze zusammenspielen, ist erst im Ansatz verstanden. Doch einen wesentlichen Beitrag dazu liefern seit sieben Jahren Ione Fine und Mike Mays regelmäßige Treffen am Kernspintomographen: Anders als vor 50 Jahren können Forscher heute in Echtzeit beobachten, was in einem Gehirn passiert, das eben nicht ganz selbstverständlich dreidimensionale Bilder herbeizaubert.
Wie sich ein Bild ergibtWenn das Auge die Kamera ist, die unsere Umwelt aufzeichnet, dann übernimmt die primäre Sehrinde im Hinterkopf mit einer Art Bildbearbeitungsprogramm die Aufgabe, zum Beispiel die Kontraste in diesem Datenstrom zu verstärken. Ihre Neuronen sammeln die Informationen aus der Netzhaut beider Augen. Jeder Quadratmillimeter beherbergt Untergruppen von Nervenzellen, die jeweils auf bestimmte einfache Reize reagieren, horizontale oder vertikale Ausrichtung, dichte oder weitläufige Anordnung, einzelne Farben. Es sind ganz simple Muster, die hier aus dem Gewirr optischer Informationen herausgefiltert werden.
„Bis dahin ist das gut erforscht. Und bis dahin funktioniert es bei Mike offenbar auch", sagt Fine. „Danach wird es kompliziert." Der Datenstrom aus beiden Augen, kaum vereinigt, teilt sich wieder. Einige Impulse wandern an der äußeren Hirnrinde entlang scheitelaufwärts, ein anderer Teil fließt Richtung Schläfen. „Der Scheitelpfad kümmert sich um das Wo, der Schläfenpfad um das Was", sagt Fine. Je weiter ein Signal stromabwärts fließt, desto spezieller werden die Muster, auf die die einzelnen Nervenzellgruppen reagieren. Erst unterscheiden sie im Was-Strom vielleicht Kreise von Quadraten, dann Gesichter von Objekten und schließlich die Gesichter einzelner Personen. Im Wo-Strom dagegen könnten auf Nervenzellen, die sich auf Vorwärtsbewegungen spezialisiert haben, solche folgen, die Galopp und Trab unterscheiden.
Umbesetzung der HirnpotentialeStromabwärts häufen sich Verbindungen, die vom linearen Strom visueller Daten abzweigen. Sie können Bewegungsbefehle an Augen und Hände geben, Informationen einholen bei den anderen Sinneszentren oder die beiden Seh-Ströme untereinander rückkoppeln. Wer sich mit Hologrammen auskennt, der weiß, dass diese Scheinkörper nur entstehen können, wenn sich mindestens zwei Wellenfelder überlagern. Auch die Hologramme, die wir beim Sehen in die äußere Welt projizieren, speisen sich aus verschiedenen Quellen: die Datenströme in den visuellen Hirnrindenarealen.
„Die Rückkopplungen sind entscheidend, wenn wir die Wahrnehmung von Blinden oder ehemals Blinden verstehen wollen", sagt Fine. Wie sie bei ihren Messungen herausgefunden hat, spricht eine Region kurz vor Ende des Wo-Stroms (der sogenannte MT-Komplex) bei May nicht nur auf optische, sondern auch auf akustische Reize an - eine Erklärung für seine Fähigkeit zur Echoorientierung. „MT ist ein äußerst fein gestimmtes Instrument, um gesehene Bewegungen einzuordnen", sagt Fine. „Mikes Gehirn hat nach der Erblindung offenbar gelernt, dieses Potential auch für gehörte Bewegungen zu nutzen. Dazu wurden wahrscheinlich bestehende Querverbindungen zu den akustischen Arealen ausgebaut." Nach der Hornhauttransplantation konnten die Augendaten diesen vielbenutzten Pfad für sich nutzen: „Mikes optischer Sinn für Bewegungen ist ausgezeichnet."
Nur durch das Tasten kann man SehenAuch Farben konnte Michael May von Anfang an wieder erkennen. „Probleme bereitet es ihm, Objekte zuzuordnen, Gesichter zu erkennen und alles andere, bei dem es komplexer und vernetzter wird", sagt Fine. „Je komplexer die Aufgabe einer Nervenzellgruppe ist und je mehr Verbindungen in andere Hirnareale sie unterhält, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Gruppe von einem anderen Dienst okkupiert wird, wenn sie ihr ursprünglicher Auftraggeber nicht mehr braucht." Für vielfältige Umnutzung nach Mays Erblindung spricht, dass die dritte Dimension nur so lange fehlt, wie er ein bislang ungesehenes Objekt mit den Augen betrachtet.
Sobald er seine Hände ins Spiel bringt, läuft auch seine Hologrammmaschine an, und das ertastete Objekt erhält eine dreidimensionale Projektion. Nicht nur zufällig erinnert das an ein Kleinkind, das alles anfassen muss. „Es sind eben auch bei Normalsichtigen nicht die Augen, die das optische Signal so aufbereiten, wie es in unserem Bewusstsein auftaucht", sagt Richard Gregory. „Die optischen Abbilder sind nicht mehr als Gespenster, die erst durch unsere Erfahrungen mit den nichtvisuellen Eigenschaften der Dinge einen Körper bekommen. Ohne unsere anderen Sinne würden wir nicht sehen können."
Das Sehen wie eine Fremdsprache lernenJede neue Lutsch- und Tasterfahrung von der Gestalt eines Objekts hinterlässt bei Kindern einen eigenen Pfad im Schläfenstrom. „Es gibt dort ein pictuales Lexikon", sagt Fine. „Jedes einzelne Ding, das wir kennen, hat seinen gesonderten Eintrag, spezielle Nervenzellen, die nur darauf reagieren. Ein Katalog der Vorstellungen, die wir uns von der Welt machen." Bei May ist dieser zwar vorhanden, aber es waren dort ursprünglich nur Tast- und Hörerfahrungen gespeichert. Die Verknüpfung zu optischen Eindrücken fehlte oder war verlorengegangen.
„Am Anfang hatte Mike einen Picasso-Blick", sagt Fine. „Wo wir eine Galerie aus gegenständlicher Kunst betrachten, sah er nur abstrakte Gemälde." Inzwischen ist es schon besser, das Lexikon füllt sich: Immer öfter reckt sich etwas aus der planen Leinwand hervor. Mal ist es die Stufe zur Lieblings-Eisdiele, mal ist es das Telefon in seinem Büro. „Sehen ist für mich immer noch eine Fremdsprache, aber ich lerne täglich ein paar neue Vokabeln", sagt May selbst. „Unbekannte Dinge berühre ich so oft, bis mein Gehirn weiß, welches Bild zu dieser Gestalt gehört."
Meistens fühlt er sich schon zu Hause im Land des Lichts, wenn die Bilder endlich einmal fließen. Aber ganz ankommen wird er wohl nie. Manchmal, wenn er Sehnsucht nach früher hat, schließt Michael May einfach die Augen. Dann betrachten seine Hände den Tisch, seine Ohren den Raum. Die undurchsichtigen Farbozeane sind verschwunden, alles hat wieder eine Ordnung, und alles macht Sinn.