Bild: NIH
Rund um die Frage, wann ein angeblich gesundheitsförderndes Mittel als zulassungspflichtiges Arzneimittel, als Medizinprodukt oder als Genussmittel zu klassifizieren ist, herrscht Durcheinander. Das verunsichert die Entwickler neuer Produkte und die Verbraucher gleichermaßen.Die Gemüter laufen heiß in Bochum. In einem Laden nahe der Innenstadt treffen sich die "Dampfer" und ereifern sich über "die da oben, die ihre eigenen Gesetze nicht verstehen". Dabei wird es im Laden immer feuchter: Die Versammlung zieht aufgeregt an bunten Plastikröhrchen und stößt mit jedem erregten Wort weiße Nebelschwaden aus. Ein bisschen wie eine Lindwurmversammlung, die sich warm laufen lässt für das große Feuerspeien. Nur dass der weiße Dunst nicht aus einer Drachenlunge, sondern aus sogenannten E-Zigaretten aufsteigt - elektrische Nikotinverdampfer zur Rauchentwöhnung und zum geruchsneutralen Paffen, die sich seit ein paar Jahren wachsender Beliebtheit erfreuen. Die Gemüter kochen aber nicht nur in dem Elektrozigaretten-Laden in Bochum, sondern bundesweit. Denn zwischenzeitlich sah es so aus, als könnte es bald vorbei sein mit der vermeintlich gesunden Zigaretten-Alternative.
Jedenfalls wenn es nach Barbara Steffens geht, Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerin. Kurz vor Weihnachten brandmarkte sie die E-Zigaretten als "illegal". Ihr Argument: Weil die verdampften Lösungen den Tabakstoff Nikotin enthalten, der nicht nur ein Suchtmittel, sondern auch ein pharmakologischer Wirkstoff ist, hätte die Nikotinlösung aus den Verdampfern als Arzneimittel eingestuft und eine Zulassungsprüfung durchlaufen müssen. Genauso wie Asthmasprays oder inhalierbare Chemotherapien gegen Lungenkrebs. Diese Medikamente mussten vor ihrem Marktgang erst einmal unter Beweis stellen, dass sie den gesundheitlichen Zustand ihrer Anwender verbessern, nicht verschlechtern.
"Es gibt derzeit keine wissenschaftlichen Belege, dass der Dampf der elektronischen Zigaretten ungefährlich ist", argumentierte Steffens. Würden die E-Zigaretten zulassungspflichtig, wäre der Verkauf bis zum abschließenden Urteil verboten. Zwar äußerten sich die meisten anderen Landesgesundheits-minister inzwischen ähnlich. Doch gerade weil die Nikotinapplikatoren bisher nicht als Arzneimittel definiert waren, sind die Landesminister gar nicht zuständig. Sie können lediglich ihre Meinung äußern. Beim Aussprechen von Verkaufsverboten haben kleine und kleinste Behörden den Hut auf: die Regierungen der Städte etwa oder in Großstädten wie Berlin die der Bezirke. Doch in der Causa E-Zigaretten kratzten sich viele verwirrt am Kopf. Und nicht nur in diesem Fall.
Die Abgrenzung von Arzneimitteln zu Genussmitteln wie Tabakprodukten, aber auch zu Nahrungsergänzungsmitteln und vor allem zu Medizinprodukten verursacht wegen nicht eindeutig auszulegender Regularien allenthalben Kopfzerbrechen. Im Extremfall landen die Fälle vor Gericht, doch auch Juristen sind sich bei der Einordnung oft uneins, Fehlurteile in die eine wie die andere Richtung werden beklagt. Das verunsichert einerseits die Entwickler innovativer Produkte, weil völlig unkalkulierbar wird, ob und wie viel finanzieller Aufwand für klinische Studien betrieben werden muss: Wenn selbst Geräte und Methoden, die nur indirekt oder gar nicht auf den Stoffwechsel einwirken, per Richterspruch zum Arzneimittel erhoben werden können, dann gerät die Entwicklung zum riskanten Glücksspiel. Andererseits sind, weil die rechtliche Grauzone manchen Hersteller zum Tricksen verleitet, auch die Verbraucher betroffen: Sie bekommen dann entweder Arzneien serviert, in denen mehr Werbestrategie steckt als Wirkstoff; oder fragwürdige Mittel, deren Wirkung klinisch geprüft gehört hätte.
De jure verwandelt sich laut Europäischem Gerichtshof ein Produkt dann in ein Arzneimittel, wenn seine Inhaltsstoffe eine sogenannte "pharmakologische Wirkung" zeigen. Allerdings sind Tabakerzeugnisse laut dem deutschen Arzneimittelgesetz ausdrücklich vom Arzneimittelstatus ausgenommen und bisher als Genussmittel definiert - obwohl sie den Stoffwechsel massiv verändern. Das Nikotin der E-Zigaretten wird ebenfalls aus Tabak extrahiert und hat sogar ähnliche Verunreinigungen wie Tabakrauch. Das sieht allerdings nicht jede Behörde als Problem: Während das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) der NRW-Ministerin in einer eigenen Stellungnahme den Rücken stärkte, ordnete das Berliner Landesamt für Gesundheit auf Anfrage der Bezirke die E-Zigaretten weiterhin den tabakähnlichen Produkten zu.
Tun sich die lokalen Behörden dabei schwer, ein bereits erhältliches Produkt nachträglich zum Arzneimittel hochzustufen, können sie beim BfArM einen Prüfantrag stellen. Im Fall der Elektrokippen geschah das mehrmals, zweimal beschied die Behörde, es handle sich um Arzneimittel. Den Herstel- lern schmeckte die negative Publicity naturgemäß nicht; einem von ihnen gelangen Anfang April 2012 mit Anwaltshilfe vor dem Verwaltungsgericht Köln zwei Etappensiege: die Zulassungsbehörde BfArM darf die Bezeichnung "Arzneimittel" für E-Zigaretten nicht mehr verwenden, und das Gericht deutete zudem an, dass es die Einordnung der Technikglimmstängel als Genussmittel favorisiert.
"Da herrscht komplettes Definitionschaos", sagt Robert Kazemi, der in Bonn eine Kanzlei für Heilberuferecht betreibt und viele Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln und Medizinprodukten berät. Beide Produktklassen sind ebenfalls im Grenzbereich zu Arzneimitteln angesiedelt. Die Abgrenzung ist allerdings kompliziert. Sie hat weniger mit den Inhaltsstoffen oder der Darreichungsform eines Produktes zu tun, als mit dem, was der Hersteller zu diesen Inhaltsstoffen behauptet.
Sobald ein Produkt therapeutische Versprechen macht und ihm eine konkrete Heilwirkung zugeschrieben wird, gilt es als Arzneimittel. Dann muss es ein wissenschaftlich aufwendiges und teures Zulassungsverfahren mit Studien an Tausenden von Testpersonen durchlaufen. Medizinprodukte hingegen dürfen zwar auch therapeutische Versprechen machen, bei ihnen reichen aber eine Hypothese zum Wirkprinzip und eine CE-Siegel-Prüfung zur Sicherheit und medizinischen Wirksamkeit durch den TÜV. Statt einer Zulassung werden sie einfach registriert. Das ist teurer, als ein Nahrungsmittel herzustellen, aber ein Schnäppchen im Vergleich zur Arzneimittelzulassung.
Ob ein Heilmittel Medizinprodukt sein darf, soll seine Wirkungsweise entscheiden: Diese darf nach der zuständigen "Meddev"-Richtlinie der EU "weder pharmakologisch, metabolisch noch immunologisch" zustande kommen. Doch vor allem am Begriff "pharmakologische Wirkung" scheiden sich die beteiligten Geister. Nach einer verbreiteten Auslegung der EU-Richtlinie liegt eine solche Wirkung nur dann vor, wenn das Produkt mit menschlichen Zellkomponenten interagiert. Klingt zunächst einfach, ist aber dennoch Gegenstand unzähliger juristischer Scharmützel, die derzeit vor europäischen Gerichten geführt werden. Meistens verklagt ein Hersteller den anderen, weil er ihn als Arzneimittelbetrüger entlarvt wissen will. Oder ein Hersteller klagt gegen die Behörden, die von ihm eine Zulassung für sein Produkt verlangen.
Eigentlich sei das Gesetz gar nicht so unklar, sagt der Medizinrechtsanwalt Christian Fulda von der Münchner Kanzlei Jones Day. Er hat für das "Medizinproduktejournal" die jüngsten Urteile zur sogenannten Arzneimittelabgrenzung unter die Lupe genommen. Sein Fazit: "Haarsträubend". Seit die Meddev-Richtlinie 2002 in Kraft trat, wurden immer wieder Produkte falsch eingeordnet, oft bei neuartigen Kombinationspräparaten. So sei zum Beispiel 2010 eine sogenannte photodynamische Krebsbehandlung verkehrt als Arzneimittel eingestuft worden: Bei dieser Therapie wird ein Wirkstoff, der sich in Tumoren anreichert, per Laserlicht angeregt. Er überträgt seine Energie auf die Sauerstoffmoleküle in den Krebszellen, die in eine für den Tumor schädliche Form übergehen und die Krebszellen abtöten.
Für den Bundesgerichtshof, der den Fall verhandelte, machte es keinen Unterschied, dass nicht der verabreichte Wirkstoff selbst den heilenden Effekt auslöst. Laut Fulda ist aber genau die indirekte Wirkung durch den Sauerstoff Grund für eine Einordnung als Medizinprodukt. In einem umgekehrt gelagerten Fall sei ein Krebspräparat mit dem leicht strahlenden Isotop Yttrium-90 fälschlich als Medizinprodukt klassifiziert worden. Die Begründung des angerufenen Bundespatentgerichts: Die Hauptwirkung ginge von den winzigen Glaskügelchen aus, auf deren Oberfläche geheftet der Wirkstoff verabreicht wird, weil die Kügelchen die hauchdünnen Tumorkapillaren verstopfen und die Blutversorgung unterbinden können.
Ein weiteres Lieblingsbeispiel Fuldas ist die Posse um zwei Abführmittel - nicht gerade Musterbeispiele für innova-tive Produkte, aber für vollends aberwitzige Gerichtsurteile zur Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten. Beide Präparate bestehen chemisch identisch aus dem Glibberstoff Polyethylenglycol; beide wurden als Medizinprodukte mit der Begründung auf den Markt gebracht, dass Polyethylenglycol den Stoffwechsel von menschlichen Zellen nicht beeinträchtige, wie aus anderen Anwendungen bekannt sei.
Beide wurden vor Gericht zitiert. "Nachdem zwei unterschiedliche Gerichte für die Prozesse zuständig waren, ist jetzt das eine ein zulassungspflichtiges Arzneimittel, das andere darf Medizinprodukt bleiben", kritisiert Fulda. Für einen Richter am Landgericht Frankfurt war die Wirkung physikalisch, weil die Volumenänderung im Darm bekanntermaßen die Ursache der abführenden Wirkung solcher Gele darstellt. Der Kollege am Verwaltungsgericht Köln sah eine pharmakologische Wirkung darin, dass die Darmzellen bei der durch die Volumenänderung erzwungenen Ausscheidung ihren Stoffwechsel verändern.
"Da gibt es im Moment nichts, worauf man sich verlassen kann, das sind alles extreme Einzelfallentscheidungen vor Gericht", sagt der Bonner Anwalt Kazemi. Nach seiner Erfahrung sind inzwischen sogar die Hersteller verunsichert, die ihr Geld mit klassischen Medizinprodukten machen - Geräte und Hilfsmittel, die äußerlich angewendet werden und deren Zuordnung eigentlich unstrittig sein sollte. "Wenn die indirekte Wirkung etwas zum Arzneimittel macht, dann werden demnächst auch Herzschrittmacher und Defibrillatoren zu Arzneimitteln - schließlich reagieren die Herzzellen auch auf den Strom."
Nach Fuldas Meinung lässt die Gesamtschau der aktuellen Urteile vor allem eines vermuten: Viele Richter haben heimlich Bauchschmerzen mit den aktuellen Medizinproduktegesetzen der EU. "Es ist, als würden sie sich bei vielen Produkten mit gründlichen klinischen Studien à la Arzneimittelrecht sicherer fühlen." Dabei ist die vereinfachte Zulassung von Medizinprodukten durch EU-Gesetze ausdrücklich gewollt. Wozu das allerdings führen kann, zeigt eindrücklich der im vergangenen Jahr ausgebrochene Skandal um marode Brustimplantate: Der französische Unternehmer gab inzwischen zu, den deutschen TÜV bewusst über die Sicherheit seiner Silikonkissen getäuscht zu haben. Wären bei Medizinprodukten wissenschaftliche Studien nötig, wäre auch schon früher aufgefallen, dass verschmutztes Industriesilikon verwendet wurde, das sich mehr oder weniger schnell zersetzte.
Die Situation wird dadurch verschärft, dass immer mehr Hersteller von klassischen Arzneimitteln - Salben, Tinkturen oder Tabletten - die Turbo-Zulassung als Medizinprodukt nutzen. Medizinrechtsanwalt Fulda bestätigt: "Diese Kategorie ist für Hersteller besonders dann attraktiv, wenn sie annehmen müssen, bei der Arzneimittelzulassung durchzufallen." Wahrscheinlich nicht so sehr wegen einer schädlichen, sondern einer nicht belegbaren Wirkung: Der derzeit beliebteste Trick für die Pseudo-Arzneimittel besteht eben darin, eine physikalische Wirkungsweise zu behaupten. Wird sie in den Registrierungsunterlagen postuliert, müssen die Behörden das Gegenteil beweisen, nämlich dass doch eine pharmakologische Wirkung vorliegt - und was das ist, ist juristisch völlig offen.
Unternehmen wie die Teutopharma GmbH, die ihren angeblich Erkältungen und Grippeviren vorbeugenden Zistrosenextrakt auch nicht mehr als Medizinprodukt verkaufen darf, hoffen darauf, dass die gesamte Kategorie der Medizinprodukte aufgrund der Querelen neu geordnet und klarer gefasst wird - oder für stoffliche Zubereitungen wie ihr Produkt sogar nicht mehr gilt, damit es unter die Kosmetika fällt. Die Meddev-Richtlinie befindet sich gerade bei der EU in der Revision, deren Abschluss für die erste Jahreshälfte 2012 erwartet wird. Teutopharma-Anwalt Volker Lücker will unabhängig davon den Gang vor den Europäischen Gerichtshof betreiben: "Wir beantragen noch einmal die Zulassung als Medizinprodukt und klagen dann gegen den ablehnenden Bescheid", sagt er. "Hoffentlich verweist der nächste Richter das dann an die europäischen Kollegen. Nur so können wir endlich erfahren, was der Gesetzgeber uns eigentlich in der Richtlinie sagen wollte."
Berufskollege Christian Fulda erwartet dagegen in der Frage der Abgrenzung keine maßgeblichen Änderungen: "Das steht da nicht im Fokus." Bleibt also alles beim Alten? Das wäre ein enttäuschendes Signal für die Entwickler innovativer Produkte, die immer häufiger an der schwer auszumachenden Grenze zwischen pharmakologischer und physikalischer Wirkung scheitern. Eine bessere Einordnung tut Not.
Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 05/2012 von Technology Review entnommen. Der Artikel steht auch als kostenpflichtiges pdf im Artikel-Archiv zum Download bereit.