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Alles was uns fehlt ...

... ist die Solidarität. Doch warum eigentlich? An Reden über sie mangelt es schließlich kaum.


Suchmaschinenbefragung. Wer »Google-News« zu Rate zieht, kann den Eindruck gewinnen, es läge etwas in der Luft. Solidarität, wohin man nur blickt. Ein kleiner Ausschnitt aus den Verlautbarungen der vergangenen Tage: »Solidarität in der EU«, fordert Jean-Claude Juncker. Für »Solidarität statt Heimat« spricht sich ein linker Aufruf aus, den 17 000 Menschen unterschrieben haben. »Solidarität, endlich«, betitelt die »Zeit« einen Text über das Chemnitzer Konzert gegen Rechts. Peter Steudtner wirbt am Tag des Berlin-Marathons für Solidarität mit den Gefangenen in der Türkei. Ein Regionalblatt nennt den neuen »Fairkauf-Laden« der Caritas in Aalen »Laden der Solidarität«. »Solidarität muss Vorfahrt haben« (es geht um Organspenden), »Militärische Solidarität« (es geht um Idlib/Syrien). Die Stadt Strausberg beschließt, zur Demonstration ihrer »Solidarität mit den im Einsatz befindlichen Bundeswehrsoldaten« gelbe Schleifchen an exponierten Stellen im Stadtbild zu befestigen. Und manch einer vermisst auch Solidarität - wie Max Eberl, Sportdirektor des Männerfußball-Vereins Borussia Mönchengladbach, der es als »unsolidarisch« empfindet, sich »bei der ersten Kritik aus der Verantwortung zu stehlen«. Dazwischen hallen die alten linken Schlachtrufe und -lieder im Ohr. »Hoch die internationale Solidarität«, »Solidarität ist eine Waffe«, das Solidaritätslied von Bertolt Brecht und Hanns Eisler; der 1915 gedichtete US-amerikanische Gewerkschaftssong »Solidarity Forever« von Ralph Chaplin; Ton Steine Scherben und - unvermeidlich - Che-Guevara-Postkartensprüche.

Bemerkenswert ist daran zunächst ein eklatanter Widerspruch: Den ubiquitären Solidaritätsimperativen steht eine bis in die Grundfesten entsolidarisierte Gesellschaft gegenüber. Vereinzelung und aus der Privatisierung von Not resultierende Überforderungen treffen auf wenig praktische Erfahrungen mit dem Zusammenstehen für eine gemeinsame Sache, dem Einstehen füreinander - auch wenn die Sehnsucht nach Gemeinschaftlichkeit riesig ist. In dem durch diesen Widerspruch entstehenden Raum kann die Solidarität ein Eigenleben als das führen, was in der Hegemonietheorie »leerer Signifikant« heißt. Gemeint ist ein Begriff, der, wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vor Jahrzehnten in Anlehnung an Michel Foucault herausarbeiteten, zwar allgegenwärtig, dabei aber so unbestimmt ist, dass sogar konträre Überzeugungen in ihm Platz finden. Ein Begriff, der einerseits selbstverständlich erscheint, dem jedoch »ein stabiler Bedeutungsinhalt entzogen« ist. Oder, um es mit dem Soziologen Serhat Karakayali zu sagen: »Bei dem Wort Solidarität denken nicht alle an dasselbe.« Gegenwärtig erlebt die Rede von der Solidarität eine neue Hochkonjunktur - sie soll als Gegengift zu Rechtsruck und dem Aufstieg der AfD wirken. Aber viele, so scheint es, wissen nicht so recht, wovon sie eigentlich reden.

Deutlich wird diese Offenheit beispielsweise, wenn es um »Charity« geht. Der Rückbau des Sozialstaates in den vergangenen Jahrzehnten hat dazu geführt, dass in westlichen Gesellschaften überwunden geglaubte karitative Hilfsstrukturen wiederauferstanden - bei der Versorgung von Flüchtlingen oder bei der Milderung von Armut, wie der Boom der »Tafeln« eindrücklich belegt. Mancher mag hier ebenfalls Solidarität am Werke sehen. Doch müsste für eine Aneignung des Begriffes als konkrete Handlungsanleitung philanthropische Hilfe unterschieden werden von einer sich gegenseitig unterstützenden Verbindung, die Menschen eingehen, um im Widerstreit mit einem gemeinsamen Gegner und auf Grundlage geteilter Interessen etwas durchzusetzen. Solidarität gibt nicht mildtätig von oben nach unten weiter, sie beschreibt vielmehr ein Bündnis auf Augenhöhe. Der Philosoph Kurt Bayertz konstatierte schon 1997, der »aktuelle Sprachgebrauch« tendiere dahin, jede beliebige Hilfsleistung als »Solidarität« zu bezeichnen. Es erscheine daher sinnvoll, so Bayertz, »den Solidaritätsbegriff an materielle und symbolische Hilfe für jene zu binden, die für ihre Rechte kämpfen«.

Die Grenzen verschwimmen natürlich immer wieder. Wenn sich Menschen helfen, die in der Gesellschaft an den Rand gedrängt sind, unterläuft dieses Handeln die neoliberale Rede von der »Eigenverantwortung«. Wer Menschen aus dem Mittelmeer vor dem Ertrinken rettet, wendet sich damit deutlich gegen die Abschottungspolitik der EU.

Dass zwischen unterschiedsloser, karitativer Hilfe und Solidarität dennoch keine kleine Differenz besteht, es hier also nicht nur um Präzision bei der »Begriffsarbeit« geht, zeigt diese Begebenheit: Im Herbst 2015, auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, die vielmehr ein inszeniertes Staatsversagen war, das viele Tausend ehrenamtliche Helfer mit Aufopferungs- und Spendenbereitschaft kompensierten, traf sich die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zu ihrem Kongress. Die Halle, in der dieser abgehalten wurde, lag in Leipzig neben einer Massenunterkunft für Flüchtlinge - dort fand eine selbstorganisierte Protestaktion gegen die miese Situation vor Ort statt. Ein paar junge Delegierte der Gewerkschaft wurden darauf aufmerksam und holten zwei Flüchtlinge auf die Bühne des ver.di-Kongresses. Diese sprachen dort ins Mikrofon zu den Gewerkschaftern - über ihren Kampf, für den sie sich Unterstützung, also Solidarität, wünschten. Die ver.di-Führung aber hatte schon einen auf eine überdimensioniert große Pappe gedruckten Scheck über Zehntausend Euro an den Betreiber der Flüchtlingsunterkunft vorbereitet, den man pressewirksam überreichte. Die Situation war hochgradig absurd. Es gab Applaus, die Männer zogen wieder in »ihre« Halle ab - und der ver.di-Kongress setzte seine Arbeit fort.

Was die Flüchtlinge eingefordert hatten - einen konkreten gemeinsamen Kampf auszufechten - rekurriert auf einen Bedeutungsinhalt von Solidarität, wie er sich im 19. und 20. Jahrhundert herausgebildet hatte und beispielsweise in den Gewerkschaften mit ihren Streikkassen institutionalisiert worden war: ein, mitunter auch temporäres, Bündnis, das Lohnabhängige schlossen, um etwas zu verteidigen oder durchzusetzen, indem man sich gegenseitig den Rücken stärkte und füreinander Opfer brachte - sich abgrenzend von einem gemeinsamen Antagonisten. Der Begriff ist indes schon viel älter: »Solidarität« leitet sich vom lateinischen »solidus« (fest, echt) ab und hat seinen Ursprung im Römischen Reich. Dort bezeichnete »obligatio in solidum«, dass die Einzelnen einer Gemeinschaft für die Schulden dieser haften sollten, während gleichzeitig die Gemeinschaft für die Schulden eines Einzelnen aufzukommen hatte. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde »diese Rechtsfigur über den schuldrechtlichen Kontext hinaus verallgemeinert und auf das Gebiet von Politik, Gesellschaft und Moral übertragen«, schreibt Kurt Bayertz. Im 19. und 20. Jahrhundert erfuhr die Solidarität dann vor allem durch die aufstrebende Arbeiterbewegung die Neubestimmung als Beschreibung einer (Klassen-)Kampfstrategie, die sich unter anderem auch gegen die Illusion wandte, dass gemeinsame Interessen sich in der Nation verdichteten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte die Bezugnahme auf Solidarität dann zunächst legitimierend für den nationalen Wohlfahrtsstaat, in dem ja die Gemeinschaft für den Einzelnen aufkommen soll. Sie wurde - wie auch die Arbeiterbewegung im sozialpartnerschaftlich basierten Fordismus - in den offiziellen Wertekanon der bürgerlichen Gesellschaft eingehegt. Dort verlor der Begriff gewissermaßen seinen Klasseninhalt - und damit an Schärfe. Zum »leeren Signifikanten« abstrahiert blieb die Rede von der Solidarität auch dann allgegenwärtig, als mit der neoliberalen Wende der Sozialstaat Stück um Stück abgebaut wurde und die daraus folgende Fragmentierung beispielsweise von Belegschaften konkrete Solidarität erschwerte. Dies bedeutet nicht, dass es heute keine praktizierte Solidarität mehr gäbe. Die gegenseitige Unterstützung der Beschäftigten von Ryanair oder auch jahrelange Kampagnenarbeit, um der Forderung von Krankenhausbeschäftigen nach mehr Pflegepersonal Geltung zu verschaffen, sind Beispiele dafür, dass Füreinander einstehen nicht nur in linken Räumen stattfindet. Ebenso wie politische Initiativen, die Flüchtlinge und andere im Kampf für gleiche Rechte zusammenbringen - wie die »United we stand«-Parade, die am vergangenen Samstag Zehntausende in Hamburg auf die Straße brachte.

Und doch: Erfolgreich praktizieren Solidarität im Sinne einer Durchsetzungsstrategie heute vor allem solche, die sie am wenigsten nötig haben. Diejenigen, die schon über Ressourcen verfügen und denen es dadurch leichter fällt, sich zusammenzuschließen und schamlos Interessen gegenüber anderen geltend zu machen. Seien es Männer, die sich gegenseitig die Stange halten, um Frauen von Machtpositionen fernzuhalten; Bosse, die sich in Arbeitgeberverbänden gegenseitig beraten, wie mit widerspenstigen Betriebsräten umzugehen sei; oder Wohnungseigentümer, die in Berlin Prenzlauer Berg gemeinsam einen Klub schließen lassen, um ihre Ruhe zu haben.

Man könnte sich hier etwas abschauen: Solidarität funktioniert nur dann, wenn sie in gewissem Maße ausschließend ist, um so gleichzeitig Vereinzelung zu überwinden - beim Streik sind die Arbeitgeber »die anderen«, beim Mieterprotest die Immobilieneigner, beim Kampf um gleiche Rechte für alle ist es die Legislative, der dies abgetrotzt werden muss. Die sich im Protest zusammenfindende Gemeinschaft unterstützt den Einzelnen - der Einzelne die Gemeinschaft. Zusammen kann man etwas erreichen.

Solche Solidarität kann es vor allem lokal geben. Und transnational dann, wenn sie vermittelt wird durch verlässliche und real existierende Bindungen. Nicht umsonst unterscheidet beispielsweise die US-Soziologin Beverly Silver, die seit Jahrzehnten Arbeitskämpfe untersucht, zwei Formen transnationaler Verbundenheit: Solidarität und Verbreitung (»diffusion«). Während Zweitere das sich räumlich und zeitlich getrennte Aufeinanderbeziehen von Belegschaften, die Verbreitung und Übernahme von Ideen und Aktionsformen beschreibe, erfordere Solidarität »den persönlichen Kontakt und die Entwicklung sozialer Netzwerke«, so Silver.

Solidarität braucht also neben Ausschluss auch Nähe, abstrakt solidarisch mit der gesamten Menschheit zu sein, funktioniert nicht. Oder ist, besser gesagt, zur Folgenlosigkeit verdammt. Damit bliebe die Solidarität, was sie heute vor allem ist: ein schillerndes, allgegenwärtiges, doch bis zur Grenze der Bedeutungslosigkeit verallgemeinertes Label.

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