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„Amalgam war die teuerste Zahnfüllung, die wir je hatten“

Fordert ein Umdenken im Gesundheitswesen: der Umweltmediziner Dr. Kurt E. Müller. Foto: Michaela Schneider

Pestizide, Nanopartikel, elektromagnetische Felder oder auch Lärm: Laut einer aktuellen Studie verursachen neun Umweltfaktoren sieben Prozent aller Krankheiten in Europa. Klinische Umweltmediziner sehen durch die tatsächlich sehr viel größere Zahl der Umweltfaktoren  gar bis zu ein Drittel aller Erkrankungen beeinflusst. Im Interview spricht Dr. Kurt E. Müller (67 Jahre) aus Kempten im Allgäu, Umweltmediziner und Vorsitzender der „European Academy für Environmental Medicine e.V.“ über verschiedene Umweltfaktoren, die sich negativ aufs menschliche Herzkreislaufsystem und die Gesundheit im Allgemeinen auswirken. Im Sommer tagte der Verband in Würzburg.

Umweltmedizin: Was genau ist das eigentlich?

Dr. Kurt E. Müller: Praktische Umweltmedizin hat – anders als man vielleicht zunächst vermuten könnte – nichts mit einer ökologischen oder politischen Bewegung zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine wissenschaftlich ausgerichtete Disziplin der Medizin. Die Idee hinter der Umweltmedizin: Krankheiten entwickeln sich nicht von heute auf morgen. Bis sie durch Symptome tatsächlich erkennbar sind, geht ihnen meist eine lange Vorlaufzeit voraus. Ärzte werden jedoch erst tätig, wenn der Patient an die Praxistür klopft. Dabei könnten wir schon lange vorher eingreifen. Umweltmediziner gehen davon aus, dass bei vielen Krankheiten Umwelteinflüsse als auslösende Faktoren zugrunde liegen. Dafür spricht: Trotz gestiegener Aufwendungen und medizinischen Fortschritten, nehmen selbst die klassischen Volkskrankheiten weiterhin zu.

Fangen wir doch einmal mit der Ernährung an. Wie steht es hierzulande ums gesunde Essen?

Müller: Das Problem ist: Es ist gar nicht so leicht, sich gesund zu ernähren. Zum einen schränkt die Reduktion des Realeinkommens. Zum anderen wird es schlichtweg immer schwerer, Qualität zu durchschauen. Nehmen wir als Beispiel herkömmlichen Salat. Wer diesen kauft, geht doch eigentlich davon aus, seiner Gesundheit damit etwas Gutes zu tun. Was suchen da zwölf verschiedene Pestizide auf einem Salatkopf, die nirgends deklariert sind? Die Politik überträgt hier dem Verbraucher eine  Verantwortung, der er nicht nachkommen kann, weil die nötige Transparenz fehlt.

Damit sind wir aber schon bei der Politik angekommen…

Müller: Ja, zum Teil ist die Verbandsarbeit natürlich politisch. Aktuell machen wir uns zum Beispiel für ein Quecksilberverbot stark. Aber: Hier sind wir mit den Interessen der Industrie konfrontiert. Quecksilber befindet sich in Messinstrumenten wie Thermometern oder Barometern. Es wird im untertätigen Abbau von Kalisalz verwendet. Und: Jede Zahnfüllung aus Amalgam beinhaltet Quecksilber.

Wie wirkt sich Quecksilber auf die Gesundheit aus?

Müller: Quecksilber wirkt nerventoxisch und enzymblockierend. Es ist ein Strukturzerstörer und verändert die Eiweiße als Funktionsträger in den Zellen. Da es sich besonders gut an Eiweiße bindet, löst es vielfältige krankheitsauslösende immunologische Reaktionen aus. Es gibt zudem inzwischen Publikationen, die die Alzheimer-Demenz auch mit Quecksilberbelastungen in Verbindung bringen. Letztlich wirken sich alle Metalle, die wir unserem Körper chronisch zuführen, negativ auf das Herz-Kreislaufsystem aus. Quecksilber aber ist im Vergleich mit allen nicht im Körper natürlich vorkommenden Metallen besonders deshalb gefährlich, weil es ab 20 Grad Celsius gasförmig wird und sich deshalb im Organismus besonders leicht verteilt.

Was machen Metalle mit unserem Körper?

Müller: Sie können auf Gefäßwände einwirken und dort  Entzündungen auslösen. Arteriosklerose zum Beispiel beginnt mit einem entzündlichen Prozess der Gefäßwand. Nach und nach degenerieren die Arterienwände, unter anderem lagert sich Cholesterin ein. Statt die eigentliche Ursache zu bekämpfen, werden Medikamente mit hohen Nebenwirkungen verschrieben, die das Cholesterin senken, aber an der eigentlichen Krankheit nichts ändern. Für die Pharmaindustrie ist das ein Weltmarkt von 60 Milliarden Euro, der sich da auftut…

Und was empfehlen Sie als Umweltmediziner stattdessen?

Müller: Wir müssten die eigentlichen Ursachen solcher  Entzündungen in den Griff bekommen – das beginnt unter anderem in der Zahnmedizin und der Endoprothetik. Als Umweltmediziner sage ich: im Körper nicht natürlich verwendete Metalle haben im menschlichen Organismus nichts verloren. Der medizinische Trend geht aber dahin, den Menschen immer mehr mit fremdem Material aufzufüllen. Unser Körper erkennt Fremdstoffe und fragt: Muss ich handeln? Dabei haben manche Menschen einen Pudel, andere indes einen Schäferhund als Immunsystem - das eine wehrt sich mehr, das andere weniger.

Aber in manchen Fällen geht’s doch schlichtweg nicht anders – habe ich ein Loch im Zahn, muss dieses gefüllt werden. Und manchmal muss auch das künstliche Hüftgelenk her…

Müller: Ja, natürlich. Aber dann sollte man auf Keramik, statt auf Metall zurückgreifen. Denn:  Keramik kann – anders als Metall – mit den körpereigenen Strukturen keine Verbindungen eingehen. Keramik liegt im Körper sozusagen einfach nur herum, ohne Zellveränderungen auszulösen. Das Problem ist: Kassen erstatten in vielen Fällen bis heute nur Metalle. Dabei würden sie mit Blick auf die Folgekosten langfristig erheblich sparen, käme mehr Keramik zum Einsatz…  

Umweltmediziner befassen sich zudem mit den Auswirkungen von Feinstpartikeln auf unseren Körper. Was hat es damit auf sich?

Müller: Feinste Partikel bieten technische Vorteile, um im menschlichen Körper Stoffe an ihren Gebrauchsort zu transportieren. Eingesetzt wird diese Methode zum Beispiel in der medikamentösen, gezielten Bekämpfung von Tumoren. Das Problem bislang ist: Die Feinstpartikel bleiben anschließend im Körper übrig und können bis in die feinsten Strukturen der Zellen eindringen. Wie Metalle sind diese Partikel später Entzündungsfaktoren. Ziel der Forschung muss es deshalb sein und ist es bereits, Partikel zu schaffen, die biologisch abbaubar sind und im Körper am Ende komplett verschwinden. Bei technischem Einsatz dieser Technologie muss sichergestellt werden, dass die frei werdenden Partikel nicht in den menschlichen Körper gelangen können. Ich bin übrigens überzeugt, dass die Burnout-Problematik auch mit den chronischen Entzündungsprozessen zu tun hat, die bei chronischer Feinstaubbelastung ausgelöst werden können.

Das ist spannend: Was haben Partikel und Metalle mit Burnout zu tun?  

Müller: Laut einer Erhebung der AOK ist die Rate der chronisch Erschöpften von 2004 bis 2011 um 1100 Prozent gestiegen. Fast jeder Zehnte AOK-Versicherte ist davon inzwischen betroffen. Diese Erkrankungen werden gern auf psychische Faktoren wie Stress im Alltag und bei der Arbeit geschoben. Aber: Partikel und Metalle im Körper sind ein erheblicher Risikofaktor und können die Energieerzeugung der Zellen ausbremsen. Durch die Psychiatrisierung der Krankheitszusammenhänge versäumt es die Medizin, die wesentlichen Ursachen zu erforschen. Eigentlich ist der Mensch sehr krisenresistent, das zeigt uns ein Blick in die Geschichte: Es gab Zeiten, da war das Leben wesentlich härter und belastender  – trotzdem nehmen erst in der jüngeren Vergangenheit Burnout-Erkrankungen dramatisch zu.

Ein weiterer Umweltfaktor, der krank machen kann, ist die Schimmelpilzbildung in den eigenen vier Wänden…

Müller: Tatsächlich können Schimmelpilze Substanzen bilden, die zu den  giftigsten natürlich vorkommenden Stoffen zu zählen sind. Ihre Wirkschwelle ist mit hochwirksamen Schlangengiften vergleichbar.  Tödlich wirken sie nur deshalb nicht, weil sie nicht wie Schlangengift hochkonzentriert in den Körper eingeführt, sondern in kleinen Dosen eingeatmet werden. Aber: Schimmelpilze sind Auslöser von Allergien wie Asthma, können aber auch chronische Entzündungen auslösen und auf die Funktion von Herzkreislaufsystem oder  Verdauungstrakt einwirken.

Wie lässt sich Schimmel bekämpfen?

Müller: Der Griff zum Sprühmittel hieße, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Manchmal taugt ausgiebiges Lüften oder ein  Entfeuchtergerät, oft hilft nur noch eine Sanierung. Das Problem heute ist: Durch eine immer bessere Wärmedämmung steigt häufig die Luftfeuchtigkeit in den Räumen und damit auch das Schimmelpilzrisiko. Meine Empfehlung: Eine Sanierung und Wärmedämmung muss immer gut durchdacht sein. Es ist sinnvoll, einen kompetenten Baubiologen um Rat zu fragen.

Weniger greifbar als Schimmelpilze im Bad sind elektromagnetische Felder. Was machen diese mit unserem Körper?

Müller: Die Schwierigkeit in der Forschung ist: Jeder ist heute elektromagnetischen Feldern ausgesetzt. Es gibt schlichtweg keine unbelasteten Vergleichsgruppen mehr. Folgt man unseren eigenen Resultaten, sind letztlich auch elektromagnetische Felder bei empfindlichen Personen Auslöser von chronischen Entzündungen, denn: Auch unter ihrem Einfluss können sich unsere Gefäßwände verändern. Diese sind eigentlich glatt und selbst elektrisch geladen. Mit diesen elektronegativen Ladungen stoßen sie Störobjekte wie Cholesterin oder Entzündungszellen ab. Durch elektromagnetische Felder kann nun die abstoßende Fähigkeit, der Gefäßwände geschwächt werden. Chronische Entzündungen des Gewebes sind möglich. Bisher hat man sich in diesem Zusammenhang nur mit den thermischen Effekten befasst und ihre Bedeutung als geringfügig eingeschätzt. Das Dramatische ist: Es gibt eigentlich keine Möglichkeiten, sich gegen elektromagnetische Felder zu schützen. Lehm taugt im Prinzip ganz gut – die Fenster im Lehmhaus bleiben trotzdem durchlässig und müssten durch Folien besonders geschützt werden.

Wie steht es um den Schutz vor der Strahlung durch drahtlose Netzwerke?

Müller: Wlan ist eine Dauerbelastung, die ich mit einem Kabel ganz einfach vermeiden kann – zumindest zuhause kann ich mich unkompliziert vor solcher  Strahlung schützen. Telefoniere ich mit dem Handy, steigt das Risiko mit der Gesprächsdauer. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich erste Veränderungen am Gehirn nach 15 bis 20 Sekunden abzeichnen. DECT-Telefone haben früher rund um die Uhr gesendet, hier sind in den letzten fünf Jahren jedoch jede Menge bessere Geräte auf den Markt gekommen. Wer ganz sicher gehen will, sollte trotzdem auf Schnurtelefone zurückgreifen.

Vielleicht zuletzt noch ein Blick auf den altbekannten Umweltfaktor Lärm. Was kann dieser bewirken?

Müller: Lärm löst Stress im Körper aus – die Fähigkeit der Stressbewältigung ist bei Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Das Stressmanagement ist genetisch programmiert. Bei den schnell einsetzenden Stressreaktionen ist ein bestimmtes Enzym zuständig. Das heißt: Es gibt zwar Dezibelrichtlinien, dabei handelt es sich aber um Mittelwerte. Sie berücksichtigen kein individuelles Lärmempfinden. Generell ist festzustellen, dass die Fähigkeit, Stressreaktionen auslösen zu können, nicht grundsätzlich unerwünscht ist. Viele Leistungen können wir nur unter ihrer Zuhilfenahme erbringen. Das Risiko entsteht dann, wenn Stress dauerhaft und nicht mehr kompensierbar einwirkt.  Es ist mit dem Autofahren vergleichbar. Beim Überholen müssen wir in den schneller beschleunigenden kleinen Gang herunter schalten und kräftig Gas geben. Dabei ist auch der Benzinverbraucher höher und Motor und Motoröl werden stärker belastet. Nach dem Überholmanöver schalten wir wieder in den Sparmodus. Das soll im Organismus ganz ähnlich ablaufen. Nimmt der Stress aber überhand und das System muss permanent auf vollen Touren laufen, geht irgendwann der Motor kaputt.

Was wünschen Sie sich für die medizinische Zukunft?

Müller: Ärzte müssen künftig Vorreiter sein in der Risikominimierung. Wichtig ist vor allem,  Patienten gut aufzuklären und die Gesundheit des Einzelnen über finanzielle und wirtschaftliche Aspekte wie die Interessen der Pharmaindustrie zu stellen. Und das Versicherungswesen muss begreifen, dass sich hohe Anfangskosten durch niedrige Folgekosten rentieren.  So bin ich überzeugt: Amalgam war und ist die teuerste Zahnfüllung, wenn man die Folgekosten berücksichtigt. Eine effiziente Senkung der Ausgaben im Gesundheitswesen kann man durch Verminderung der erstatteten Leistungen und Erhöhung der sozialen Ungerechtigkeit nicht erreichen, das haben die Maßnahmen der jüngsten Zeit gezeigt. Nur die Verringerung der steuerbaren Krankheitsrisiken erlaubt eine sozialverträgliche Kostenreduktion. Die Klinische Umweltmedizin ist unverzichtbar, wenn man das erreichen will.

 

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