Badische Zeitung | 05.07.2014 Frankreichs berühmter Chocolatier Patrick Roger erschafft mit Schokolade Tiere in Lebensgröße. Eine sinnvolle Verschwendung.
Braune Elefantenohren stehen senkrecht auf dem Boden,
eingewickelt in Karton. Ein lebensgroßer Elefant reckt sich in die Höhe. Drei
Orang-Utans blicken stumm vor sich hin. Löwen liegen auf Stahltischen. Patrick
Roger hat sie alle geschaffen. Sie sind aus purer Schokolade.
Mit Krücken steht der Chocolatier in seinem Atelier in Sceaux inmitten seiner
Schokoladentiere. Einer Halle einer ehemaligen Druckerei, zwanzig Kilometer vor
den Toren von Paris. Roger hatte einen Motorradunfall. Es ist noch mal gut
gegangen. Seit seiner Jugend fährt er gerne Motorradrennen, auch Hubschrauber
kann er fliegen. Er mag den Kitzel. Man befinde sich immer ein wenig auf der
Kippe, wisse nicht, ob man lebendig oder tot am Ende ankommt, sagt er.
"Ich stoße an Grenzen – das ist genauso wie hier bei meiner Arbeit mit der
Schokolade."
Die Schokoladenwelt verdankt Roger edle Pralinen mit Namen wie Instinct,
Borneo, Corsica, Opium, Abeille, Amour oder Sauvage. Zum Schoko-Star wurde er
aber auch, weil er Schokolade als Rohstoff für seine lebensgroßen
Tierskulpturen verwendet. Seine sechs Filialen in vornehmen Arrondissements von
Paris erkennt man sofort. Die Tiere des Schoko-Fanatikers stehen in den
Schaufenstern. Mit ihren groben Oberflächen wirken sie fast wie braune
Bronzefiguren. Sie locken die Kunden, lassen sie staunen und verführen sie zum
Naschen.
Viele Stunden spachtelt Roger jede Woche an seinem Schokozoo herum. Auf einem Arbeitstisch liegt ein Bildband über Elefanten: Ein paar Fotos reichen ihm für seine Bildhauerei – besser: seine Schokohauerei. Und er braucht ein gutes Gefühl für die Schwerkraft, das ihn allerdings manchmal im Stich lässt. Einmal ist ihm ein Elefantenohr um die eigenen Ohren geflogen, es wollte nicht halten. Sollte wirklich einmal ein Chocolatier von Schokolade erschlagen werden, dann wohl Patrick Roger.
Atelier gleicht einem Schokomeer
"Stefano, komm her", ruft er einem seiner angestellten Chocolatiers zu und fuchtelt dabei mit der Krücke herum. In einem Topf köchelt eine dunkle Flüssigkeit. Eine gute Idee habe er da gehabt für diese Ganache. Der Füllflüssigkeit für eine seiner Pralinensorten fügt er Bier hinzu. "Wir reduzieren Guinness-Bier, wir müssen die Feuchtigkeit entziehen, es darf kein Wasser drin sein." Am Tisch daneben zerteilt ein Mitarbeiter mit Hilfe eines Drahtgitters eine Pralinenplatte in kleine Würfel. Millimetergenaue Pralinenarbeit zum einen. Große, ungeschliffene, teils abstrakte Skulpturen aus Schokomasse zum anderen – diesen Gegensatz liebt Roger: "Das gehört für mich zusammen, das ist wie ein Paar", sagt er.
Der schlanke Mann mit Bart und Zöpfchen fasziniert die Franzosen auch deshalb,
weil er aus einfachen Verhältnissen stammt und sich hochgearbeitet hat. Roger
ist 1968 geboren, aufgewachsen im Dorf Le Poislay in der Landschaft des Perche,
einem hügeligen Landstrich im Westen des Pariser Beckens. Als "Arschloch
von Junge, der nur herumhängt", so hat er sich mal beschrieben. Ein
schlechter Schüler, um den sich seine Eltern große Sorgen machen. Das Einzige,
was ihn in der Jugend interessiert, sind Mädchen und Motocross-Rennen. Sein
Vater ist Dorfbäcker, und er drängt den 15-jährigen Sohn dazu, eine Bäckerlehre
zu machen.
Er muss um zwei Uhr morgens anfangen, 27 Tage pro Monat arbeiten. Was damals
für ihn sehr hart war, habe ihm das Leben gerettet, sagt Roger heute.
Denn er kommt dadurch von zu Hause raus, wird Klassenbester, dann sogar einer
der besten Azubis des Departements. Ein Patissier in Paris wird auf ihn
aufmerksam und stellt ihn ein. Doch die Konditorei langweilt Roger immer mehr.
Jeden Tag dieselben süßen Stückchen. Er darf daraufhin mit den Chocolatiers
arbeiten und merkt: Das ist der Stoff, der zu ihm passt. Die Schokolade habe
ihm geholfen, seine Fähigkeiten ans Licht zu bringen.
Später bekommt er seine erste Stelle in Monaco, dann lebt er für kurze Zeit in
Bulle in der Schweiz, bevor er 1997 in Sceaux sein Atelier und einen Laden
aufmacht. Schon bald lieben die Kunden seine Pralinen und Schokotafeln.
2000 erhält er die begehrte Auszeichnung "Bester Chocolatier
Frankreichs". Stolz trägt er in seinem Atelier zur ausgewaschenen Jeans
einen weißen Kochkittel mit einem Kragen in den Farben der französischen
Trikolore. Die drei Buchstaben "MOF" sind eingestickt – sie stehen
für Meilleur Ouvrier de France.
Vor drei Jahren reist Roger nach Venezuela. Sieht, wie jahrhundertealte Bäume
gerodet und Tierarten bedroht werden durch den brutalen Eingriff des Menschen.
Die Erde gerate aus dem Gleichgewicht und Tierarten würden ausgerottet, weil
wir brutal in die Pflanzenwelt eingriffen, sagt er. Er beschließt, den Tieren
einen Platz zu geben. Seither stehen Jahr für Jahr in den Schaufenstern seiner
Filialen Orang-Utans, Pinguine oder Nilpferde aus Schokolade.
Als die Nilpferde entstanden, glich sein Atelier einem Schokomeer. Einige
rissen ihre Mäuler auf, wirkten, als lägen sie im Schokoschlamm. Sie bedeckten
eine Fläche von fast acht Metern Länge und 2,50 Metern Breite. Patrick Roger
wollte daran erinnern, dass sich die Wüste in Afrika ausbreitet und den
Lebensraum der Tiere vernichtet. Ein halbes Jahr schnitzte und kratzte er mit
Messern an seiner Nilpferdwelt. Nutzte große Schokoeier als Hohlräume für die
Körper. Klebte mit flüssiger Schokolade die Schokoplatten zusammen,
schokoschweißte sie mit einem Bosch-Heißluftfön zusammen. Kühlte mit
Vereisungsspray die Nahtstellen. Tonnenweise Kuvertüren-Schokolade verschlang
das Projekt. Manchmal, wenn Leute mit ihm telefonieren, hören sie es kratzen
und klopfen. Dann ist der Schokogott in seinem Element.
Graffiti aus pulverisierter Kakaomasse
Ein Schokoholic, der sich dem Tier-
und Umweltschutz verpflichtet fühlt? Gar ein politischer Chocolatier? So weit
will Roger nicht gehen. "Wenn dadurch eine kleine politische Botschaft
rüberkommt, ist es gut." Aber er habe vor allem Spaß an dieser Arbeit. Und
sorgt damit freilich landesweit für Aufsehen: Etwa, als er zum 20. Jahrestag
des Mauerfalls eine Berliner Mauer baute. 17 Meter war sie lang, zirka einen
Meter hoch. Darauf Graffitis aus pulverisierter Kakaomasse und
Lebensmittelfarben. Eine Mauer, die manche sicher gerne mit den Zähnen
eingerissen hätten.
Sieht er sich als Künstler? Immer wieder wird Roger diese Frage gestellt. Immer
wieder will er darauf nicht gern antworten. Er stemmt sich auf seine Krücken
und grinst. "Nein, ich bin kein Künstler. Ein Künstler muss ausstellen und
seine Kunst verkaufen." Er verweist auf seine kunstlose, einfache
Herkunft: Mit Mitte zwanzig sei er das erste Mal in ein Museum gegangen. Er
wusste nichts von seinen Bildhauerfähigkeiten. Er hat sich die Schokohauerei
selbst beigebracht, herumprobiert. Nie einen Zeichen- oder Bildhauerkurs
gemacht. Wenn er ein Künstler sei, dann ein Geschmackskünstler. Und seine
Schokoboutiquen werden durch seine Skulpturen und farbigen Pralinen ein wenig
zu Galerien.
Doch die Schokolade hält nicht ewig, und einige seiner Tiere sollen überleben.
Viele seiner Schoko-Skulpturen hebt er auf, manche sind zehn Jahre alt, andere
werden vernichtet – denn aus Hygienegründen ist die Schokolade nicht
wiederverwendbar. In Deutschland würde daran vielleicht Kritik laut, hier in
Frankreich nicht. Andere Schokoskulpturen wiederum bekommen einen Abguss
verpasst. In einem Nebenraum des Ateliers stehen Teile eines Schokoelefanten,
zwei Männer pinseln sie mit einer Silikon-Kautschukmasse ein. Aus den
Negativformen werden in einer Kunstgießerei in Deutschland Metallskulpturen aus
Bronze gemacht. Im ersten Stock seiner Filiale gegenüber der Madeleine in Paris
kann man einige zu Metall gewordenen Schokowerke besichtigen, ebenso im
Internet. Also doch ein Künstler? "Ich weiß nicht, wie ich mit dieser
Frage umgehen soll, ich bin schüchtern", sagt er und grinst.
Von wegen schüchtern. Roger humpelt weiter zum fünf Meter langen Pralinentisch
am anderen Ende des Ateliers. Ein Mitarbeiter gießt aus einer Plastikwanne
Schokoladenmasse auf den Tisch, ein anderer streicht sie glatt. "Schlaft
Ihr?", herrscht er die jungen Männer an, "das geht nicht, ihr seid zu
langsam". Er macht ihnen Tempo, denn in zehn Minuten wird die
Schokoladenmasse hart. Er tippt mit dem Finger darauf, findet ein kleines
Plastikteilchen von der Schutzfolie und schüttelt den Kopf. "Ich hab von
dem Plastikzeug was im Maul", sagt er unzufrieden.
Der feine Chocolatier, er gibt gerne den Exzentriker und das Raubein. Er
spricht schnell, mimt den Rebellen voller Leidenschaft, mag eine derbe Sprache.
Seine beiden Töchter, fünf und zehn Jahre alt, rügen ihren Vater da schon mal.
"Sie sagen, dass ich ein schlechter Chef bin."
Er verlangt nichts anderes als Perfektion von seinen 16 angestellten
Chocolatiers, die unter anderem aus Italien, Spanien, Japan und Rumänien
stammen. Sie helfen mit, die fünf bis zehn Tonnen Schokolade im Monat hier im
Atelier zu verarbeiten. Timing, Beharrlichkeit, Zeit – das seien Zutaten für
gute Schokolade, sagt Roger. Sehr viel Handarbeit. Beste Zutaten. Keine
Konservierungsmittel. Draußen, im Kräutergarten neben dem Atelier, wachsen
verschiedene Minzsorten, Salbei, Eisenkraut, Basilikum, Thymian. Dort wie auch
auf dem Dach stehen einige Bienenvölker. Der Honig daraus wandert ebenfalls in
die Pralinen-Produktion. Roger zeigt ein paar selbst geschossene Fotos von
Mandelbäumen – von seinen Plantagen in der Nähe von Perpignan. Kein Wunder,
dass seine Schokolade nicht gerade billig ist. Hundert Gramm kosten zehn Euro
und mehr.
Pralinen duften nach Johannisbeere und Fenchel
Wie kommt er auf Pralinen, bei denen sich der Geschmack von Verveine und
Yuzu (eine Zitrusfrucht) verbinden, Johannisbeere mit Fenchel und Süßholz?
Thymian und Zitrone? Roger sagt von sich, dass er einen hypersensiblen
Geschmacksinn habe. Geschmack hänge immer mit der Natur zusammen, die Zutaten
finde er in der Umgebung. In seiner Jugend habe ihn der Kräuter- und
Gemüsegarten seiner Eltern sehr inspiriert. Die Apfeltaschen seines Vaters
schmeckten nach den Äpfeln im eigenen Garten. Eigentlich sei in all seinen
Produkten auch sein Heimatort Le Poislay drin.
"Ich weiß, wie das am Ende schmecken muss", sagt er kurz. Seine
Pralinenkreationen seien Instinkt, ein Gefühl, kein Herumexperimentieren.
Ständiges Probieren gehört zu seinem Job. Täglich isst er beim Arbeiten bis zu
100 Gramm Schokolade. Seine ersten Pralinen hat er auf dem Küchentisch in
seinem Elternhaus hergestellt.
Die erste Kreation war der "Rocher", ein im Mund zerschmelzender
kleiner Schokowürfel aus Noisette, gerösteten Mandeln und karamellisiertem
Zucker. Er ist der Star unter den Roger-Pralinen. In den Geschäften packen die
Mitarbeiterinnen die Rochers sorgsam in türkisfarbene Schachteln: Diese Farbe
gehört zu seinem Markenzeichen.
Dann erblickt er den Totenkopf, der auf dem Arbeitstisch liegt. "Ja, über
den mache ich mir schon dauernd Gedanken." Will der Ich-bin-kein-Künstler
etwa ein typisches Motiv der Literatur und Kunst aufgreifen – die Vanitas, die
Vergänglichkeit alles Irdischen? Einen Riesenschädel etwa aus Schokolade bauen?
Oder Minischädel aus Krokant? Patrick Roger schweigt und humpelt weiter. Die
Vergänglichkeit alles Schokoladischen in Menschennähe, wer kennt das nicht.