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Organspende: Schatz, ich geb dir meine Niere - Beobachter

Wenn ein Mann eine Niere braucht, bekommt er sie oft von seiner Frau. Ein Paar erzählt, was das mit einem macht.

TEXT: MATTHIAS VON WARTBURG FOTO: MATTHIAS WILLI

Noch eine letzte Zigarette. Beide rauchen stumm. In ihren bald 30 Jahren Ehe mussten sie noch nie so auseinandergehen. Nebelfetzen wehen über die Terrasse des Unispitals, hinaus in die schwarze Januarnacht. Ursula und Hanspeter Pürro haben eine aufreibende Zeit hinter sich. Im Unispital Basel soll das Leiden nun ein Ende nehmen. Sie drücken die Zigarette aus und stehen auf.

Er muss auf sein Zimmer im Klinikum 2, sie ins Klinikum 1. Sie drückt ihm einen Abschiedskuss auf die Lippen. «Bis in drei Tagen.» Wenn sie sich wieder sehen, wird er ihre linke Niere in sich tragen. Wenn alles gut geht.

Immer mehr Wasser im Körper

Angefangen hat alles vor Jahrzehnten. Schon als junger Mann litt Hanspeter Pürro unter Schlafapnoe. Durch die regelmässigen Atemaussetzer hatte er permanent einen viel zu hohen Blutdruck. Das machte über die Jahre den Nieren zu schaffen.

Erst kam die Müdigkeit, dann ein aufgedunsenes Bein. Dann zwei dicke Beine. Der Hausarzt verschrieb Tabletten gegen Bluthochdruck und Wasser im Körper, doch Müdigkeit und Wasser nahmen nicht ab. «Plötzlich brachte ich die Uhr nicht mehr übers Handgelenk.» Erst als der ganze Körper anschwoll, schickte ihn der Arzt zum Spezialisten. Diagnose: Die Nierenarbeiteten noch zu 30 Prozent.

Kurz darauf wird Hanspeter Pürro notfallmässig ins Spital eingeliefert. Akutes Nierenversagen. «Ich konnte keine 20 Meter mehr gehen, ohne eine Pause einzulegen. Ich war schlicht am Ende», sagt der 58-Jährige heute. Die Ärzte setzen ihm einen Katheter in die Hauptschlagader und hängen ihn ans Dialysegerät. Es zieht in drei Stunden 14 Liter Wasser aus dem Körper.

Als Ursula Pürro im Spital ankommt, liegt ihr Mann völlig verkabelt im Bett, die Beine wegen des Wassers hochgelagert. «Dieser Anblick war ein Schock», sagt sie. Kurz darauf wird sie vom Arzt ins Büro gebeten und hört die zwei Sätze, die ihre nächsten Monate prägen werden: «Frau Pürro, Ihr Mann braucht eine neue Niere. Sind Sie bereit, ihm eine zu spenden?»

Ursula Pürro erinnert sich, als wäre es gestern gewesen: «Es fühlte sich an, als hätte mich jemand ins kalte Wasser gestossen.» Die Lebendorganspende war ihr bis dahin kein Begriff. Und so sagt sie: «Ich weiss es nicht.»

Von da an hängt die Frage nach der Niere ständig in der Luft. Auch sonst ist der Alltag der Pürros nicht mehr der gleiche. Ursula muss ihren Mann die ersten Wochen jeden Montag, Mittwoch und Freitag zur Dialyse bringen. Nach drei Monaten erlaubt ihm der Arzt, an den dialysefreien Tagen wieder als Lastwagenchauffeur zu arbeiten. Das gibt zwar Hoffnung, raubt aber auch Energie, so dass er an den Wochenenden ausruhen muss. «Das war kein Leben mehr», erinnert sich Ursula Pürro.

Niere spenden oder nicht? Mitten ins Abwägen und Zweifeln platzt die Info, dass Hanspeter und Ursula Pürro nicht die gleiche Blutgruppe haben. Das erschwert die Transplantation. Sie beginnen schweren Herzens in der Familie herumzufragen, ob jemand zur Spende bereit wäre. Die Schwägerin lässt sich untersuchen. Auf einer ihrer Nieren wird aber eine kleine Zyste entdeckt, damit kommt sie als Spenderin nicht in Frage. Und auch bei Hanspeter Pürros Brüdern ist eine Organspende medizinisch nicht möglich.

Damit liegt der Ball wieder bei Ursula Pürro. Sie sagt zu – auch aus Eigennutz: «Ich wollte meinen Mann wieder zurück.» In dieser Zeit habe Hanspeter entweder ferngesehen oder sei im Bett gelegen. «Seine Energie und seine Lebensfreude waren weg. Sogar zur Weihnachtsfeier der Familie musste ich allein.»

Das schwere Los der Spenderin

Auf Ursula Pürros Einwilligung folgen unzählige Tests: Sind überhaupt zwei Nieren vorhanden? Dann Ultraschall, Röntgen, MRI, Urinprobe, Blutuntersuchungen, Kontrolle bei der Frauenärztin und mehrere Gespräche mit einer Psychologin. Dabei soll unter anderem festgestellt werden, ob die Spenderin aus freien Stücken handelt oder ob sie gedrängt wird.

Schliesslich geben die Ärzte grünes Licht. Sie darf die Niere spenden.

Damit beginnt für Ursula Pürro die «happigste Zeit» ihres Lebens. «Es war schrecklich, wirklich schrecklich», erzählt die 57-Jährige. Je näher die Operation kam, desto mehr rückte der Fokus auf ihren Mann. «Alle erkundigten sich nur noch nach ihm. Wie kommt er mit der Dialyse zurecht? Wie ist seine mentale Verfassung? Wie es mir geht, fragten die wenigsten.»

Dabei ging es ihr schlecht. Je näher die Operation rückte, desto grösser sei der Druck geworden. «Das merkte ich auch bei der Arbeit. Ich war überhaupt nicht mehr belastbar.» Ursula Pürro arbeitet als Logistikassistentin in der Metallverarbeitung. «Wegen jedes kleinen Zwischenfalls musste ich gegen die Tränen kämpfen.»

Hinzu kamen plötzlich Zweifel. «Am Anfang dachte ich nur ans Helfen und an meinen Mann. Erst als alles fix war, dachte ichan mich. Und plötzlich bekam ich Angst um mich.» Ursula Pürro zweifelte an ihrer Entscheidung. Doch sie behielt alles für sich: «Mein Mann war damals so auf seine Krankheit fixiert, tiefgründige Gespräche waren gar nicht mehr möglich.»

Als die baldige Organspenderin ihre Zweifel abgeschüttelt hatte, kam die Angst, dass ihr vor der Operation noch etwas zustossen könnte. «Ich dachte: ‹Jetzt nur keinen Unfall, jetzt einfach nicht krank werden.›»

Dann ist es so weit: Hanspeter Pürro muss fünf Tage vor der Operation ins Spital. Seine Frau hat drei Tage vorher noch einmal letzte Kontrollen zu überstehen. Dann die Abschiedszigarette. Der Abschiedskuss. «Bis in drei Tagen.» Das ist am Sonntagabend.

«Wie geht es meinem Mann?»

Am Montagmorgen wird Ursula Pürro um sieben Uhr in den Operationssaal gefahren. Ihr Mann ist um neun Uhr dran. «Als ichaus der Narkose erwachte, war es draussen schon wieder dunkel», sagt Ursula Pürro.

Sie sieht die Ärzte an ihrem Bett und hat nur die eine Frage: «Wie geht es meinem Mann?» Die Ärzte nicken und meinen, es sei alles bestens, der Mann habe die Operation gut überstanden, die Niere tue ihre Arbeit. Erleichtert und erschöpft schläft Ursula Pürro sofort wieder ein.

Am Tag darauf gilt für beide Bettruhe. Aber am nächsten Morgen kann Ursula Pürro nicht mehr warten. Sie zieht sich an und macht sich auf den Weg zu ihrem Mann. Als sie sein Zimmer betritt, traut sie ihren Augen kaum: «Ich kann es nicht anders sagen, das war so ein geiles Gefühl. Mein Mann strahlte mich an, da war wieder ein Glänzen in den Augen, er hatte wieder Farbe im Gesicht.»

Die ganzen Schläuche und Kabel sind in diesem Moment egal, Ursula Pürro hat ihren Mann zurück. «In diesem einen Moment machte es plumps, und die ganze Last, der enorme Druck der letzten Monate fiel runter.» Bei beiden fliessen die Freudentränen. «Es war wie eine zweite Geburt, ich habe ein zweites Leben erhalten», sagt Hanspeter Pürro. Das erste Mal seit über einem Jahr lachen sie wieder herzhaft gemeinsam.

Langsam kehrt der Alltag zurück. Doch Hanspeter Pürro kommt ins Grübeln. «Meine Frau hat mir ein neues Leben geschenkt. Und ich fragte mich die ganze Zeit: Wie kann man das vergelten?»

Derweil kämpft Ursula Pürro mit ihrem Gefühlschaos. «In mir drin wirbelte alles durcheinander: Angst, Hoffnung, Freude. Ein riesiges Durcheinander.» In dieser Zeit sitzt sie oft auf dem Sofa, starrt an die Wand und schluchzt. «Die letzten Monate liefen immer wieder wie ein Film vor meinem inneren Auge ab.»

Während der Vorabklärungen hat ihr die Psychiaterin angeboten, sie stehe auch nach der Operation zur Verfügung. Ursula Pürro ruft an: «Das Gespräch hat mir sehr geholfen, wieder Ordnung in mein Gefühlschaos zu bringen.»

Vier Wochen nach der Transplantation fängt Ursula wieder an zu arbeiten. Nach drei Monaten Erholungszeit und unzähligen Nachkontrollen darf auch Hanspeter wieder ans Steuer seines Lastwagens.

Auf einer Fahrt kommt Hanspeter Pürro plötzlich die Idee für das Geschenk. Er organisiert alles, und einen Tag vor ihrem Geburtstag eröffnet er ihr: «Ich habe morgen frei, es gibt eine Überraschung.»

Zum Dank gibts einen Helikopterflug

Am nächsten Tag hebt seine Frau mit dem Heli ab: Emmental, Brienzer Rothorn, vorbei an der Eigernordwand und Zwischenlandung auf dem Kanderfirn. «Es war genial, eine super Überraschung», schwärmt sie. Und ihr Mann sagt etwas verlegen: «Es war nur ein kleines Zeichen meiner Dankbarkeit. Was meine Frau für mich getan hat, kann man mit keinem Geschenk aufwiegen.» – «Ich bin einfach nur dankbar, dass es uns beiden gut geht», sagt Ursula Pürro. Durch die Organspende sei ihre Beziehung viel intensiver geworden.

Seit der Transplantation haben die Pürros auch einen Organspenderausweis. «Wir wissen jetzt, was ein neues Organ bewirken kann. Darum ist es für uns keine Frage mehr, dass wir im Fall der Fälle unsere Organe spenden würden.»

Lebendspenden in der Schweiz

Bei sogenannten Lebendorganspenden werden am häufigsten Nieren transplantiert – rund 100 pro Jahr. Zwei Drittel der Nierenspender sind Frauen. Spenderin und Empfänger sind meist ein Paar. Man kann auch einen Teil der Leber spenden. Das Teilstück wächst im Körper des Empfängers zum funktionsfähigen Organ nach. Von 2008 bis 2016 wurden 50 Leberspenden registriert.

Im Ausland werden auch Teile der Lunge, des Dünndarms und sehr selten der Bauchspeicheldrüse von Lebendorganspendern transplantiert.

Infos: www.lebendspende.ch

QUELLE: SCHWEIZER LEBENDSPENDERGESUNDHEITSREGISTER

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