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Somalia hat Zukunft

Veränderung liegt in der Luft. Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren hat Somalia die reelle Chance, den Sumpf seiner Vergangenheit hinter sich zu lassen und eine Zeitenwende einzuleiten. Im August 2012 machte das Land einen wichtigen Schritt in diese Richtung. Das Parlament in Mogadischu wurde vereidigt und damit ein Zustand der Regellosigkeit beendet, der bereits 1991 mit dem Sturz des Diktators Siad Barre begonnen hatte.

Der politische Transformationsprozess ist damit wohl formal beendet. Die Übergangsregierung hat ihren Dienst getan. Somalia hat nun eine provisorische Verfassung und ein gewähltes Parlament. Erstmals kontrolliert die somalische Regierung überhaupt wieder einen Einflussbereich, der über die Grenzen der seinerzeit heftig umkämpften Hauptstadt hinausgeht. Die bewaffnete Rebellengruppe Al-Shabaab wurde im Oktober 2012 auch aus ihrer letzten Hochburg, der Hafenstadt Kismayo, vertrieben. In Mogadischu herrscht wieder reger diplomatischer Verkehr. Botschaften sprießen aus dem Boden und Vertreter internationaler Institutionen geben sich die Klinke in die Hand. Statt Maschinengewehrsalven ließen sich im März und April 2013 die Klänge des "Mogadishu Music Festival" vernehmen, des ersten Ereignisses dieser Art seit mehr als 25 Jahren. Es herrscht Aufbruchsstimmung, eine neue Normalität.

Trotzdem bleiben die Herausforderungen für Somalia gewaltig. Die somalische Armee ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen verschiedener Milizen, der schlecht bezahlt wird und immer wieder schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen beschuldigt wird. Die Mission der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) konnte Al-Shabaab zwar aus weiten Teilen des Landes vertreiben und die Anhänger zerstreuen, die Mitglieder der Gruppe greifen dafür aber nun zu schwer einzudämmenden Guerilla-Taktiken. So sind Autobomben- und Selbstmordanschläge im April und Juni 2013 auf hohe politische Einrichtungen im Herzen Mogadischus eine blutige Erinnerung daran, dass noch ein langer Weg zu beschreiten ist und bringen damit die noch junge Regierung in Bedrängnis.

Ein kopfloser Staat kann sich nicht wehren

Damals wie heute ist die divergierende Interessenpolitik ausländischer Akteure in somalische Angelegenheiten ein erhebliches Problem. Fast alle haben sie mitgemischt am Horn von Afrika: Die Vereinten Nationen, Europäische und Afrikanische Union, die USA, Russland, die Türkei, Äthiopien, Uganda, Burundi, Dschibuti, Eritrea und Kenia, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und Iran, außerdem etliche private Sicherheitsunternehmen sowie Dschihadisten aus der ganzen Welt.

Denjenigen, die sich ernsthaft aber die meiste Zeit vergeblich um eine Stabilisierung des Landes bemühten, stand immer eine mindestens ebenso große Anzahl derer gegenüber, die von der herrschenden Unsicherheit massiv profitierten. Ein kopfloser Staat kann sich eben kaum dagegen wehren, wenn beispielsweise sein maritimer Raum leergefischt oder als Abladeplatz für toxischen und radioaktiven Müll missbraucht wird. Für die vermeintlich "Guten" schien Somalia eine Art Spielwiese für internationale Experimente in Sachen state-building, Friedenssicherung und Katastrophenhilfe zu sein.

Nachdem die internationale Gemeinschaft Mitte der 1990er Jahre mit dem Scheitern der UNOSOM-Friedensmissionen, spätestens aber nach der so genannten "Schlacht um Mogadischu" erkannte, dass sie sich an Somalia die Finger verbrannt hatte, wurde es in den folgenden Jahren ruhig um das Land. Im wissenschaftlichen Diskurs geisterte es als Paradebeispiel für einen so genannten "failed state" umher, ein Titel, der fast wie eine Verurteilung anmutet.

Maßnahmen der Folgezeit konzentrierten sich stumpfsinnig vor allem auf die Errichtung einer Übergangsregierung, später sollte Al-Shabaabs in Schach gehalten werden. Wirklich gehandelt wurde aber fortan nur wenn die Ausgeburten des "Molochs Somalia" die eigene Hemisphäre zu beeinträchtigen drohten. Und auch dann wurde vor allem an der Oberfläche des Konflikts gekratzt - ohne den tieferen Ursachen auf den Grund zu gehen.

So wurde, beginnend mit den Anschlägen auf US-Botschaften in Nairobi und Tanzania im Jahre 1998, spätestens aber seit dem 11. September 2001, Somalia vorherrschend unter dem Aspekt der Terrorbekämpfung betrachtet. Wenige Zeit später wurden Piratenangriffe vor der Küste Somalias mehr und mehr zum Ärgernis.

Lernen vom Modell Somaliland

Somalia darf sich trotzdem Hoffnungen für einen Neuanfang machen: Zwar muss ein ganzer Staat von Grund auf neu aufgebaut, Sicherheit und Frieden nachhaltig wiederhergestellt und ein nationaler Versöhnungsprozess eingeleitet werden. Sollte all dies gelingen, stehen die Chancen für die Zukunft aber gut, denn die Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Prosperität sind denkbar günstig: eine international vernetzte, exzellent ausgebildete Diaspora steht in den Starlöchern, um am ersehnten Neubeginn teilzuhaben, Somalia liegt am strategisch wichtigem Golf von Aden, jenem Nadelöhr, das jährlich 15.000 bis 20.000 Handelsschiffe passieren und neuere Untersuchungen lassen nur erahnen, welche Öl- und Gasreserven auf somalischem Staatsgebiet auf ihre Erschließung warten.

Eine im Mai dieses Jahres in London abgehaltene Konferenz sollte die Leitlinien für die weitere Entwicklung vorgeben und den Weg für neue Hilfszahlungen ebnen. Etwa 130 Millionen US-Dollar wurden auf der Konferenz zugesichert. Und doch ist Skepsis angebracht - allein schon ob der Tatsache, dass sich diese Zusammenkunft in eine Kette von dutzenden vorherigen und erfolglosen Initiativen einreiht. Nicht stören ließ man sich offensichtlich auch von der Tatsache, dass die Vertreter der autonomen Regionen Somaliland und Puntland - um nur die größten der unzähligen de facto selbstregierten Regionen zu nennen - erst gar nicht zu dieser Konferenz erschienen.

Denn vor allem Somaliland macht mit Worten und Taten mehr als deutlich, dass es viel eher die Unabhängigkeit denn nach einer Wiedervereinigung mit Somalia verfolgt. Dieses Streben ist jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Alle beteiligten Akteure lehnen eine Anerkennung - aus unterschiedlichen Gründen - ab. Zumeist wird jeder Ansatz, der in diese Richtung geht, im Ansatz erstickt, indem man das Schreckgespenst der Balkanisierung Somalias heraufbeschwört.

Infolgedessen bleibt die autonome Region von all jenen regulären Hilfsmechanismen abgeschnitten, die Staatlichkeit voraussetzen, ist damit aber bisher mehr als gut gefahren. Somaliland ist in weiten Teilen ein Erfolgsmodell, hat sich damit arrangiert, dass die Anerkennung international verweigert wird und reagiert auch in der gegenwärtigen Situation mit relativer Besonnenheit, indem es Zusammenarbeit mit der somalischen Regierung propagiert, anstatt einen Konfrontationskurs zu fahren. "Ein stabiles und befriedetes Somalia, das in der Lage ist, solide staatliche Institutionen aufzubauen und zu bewahren, das Terrorismus und gewalttätigen Extremismus bekämpft und das [zum Aufbau] einer funktionierenden Wirtschaft stimuliert, liegt im nationalen Interesse Somalilands", so der Präsident der autonomen Region, Ahmed Mohamed Mohamoud Silanyo, anlässlich einer Rede vor dem US-amerikanischen Expertenkommission "Atlantic Council of the United States".

Warum also nicht ein wenig vom Erfolg Somalilands lernen und übernehmen? Zumindest sollten zukünftige Ansätze den seit nunmehr einem Jahrzehnt relativ stabilen Norden Somalias nicht weiterhin derart stiefmütterlich behandeln.

"Eine ganze Nation im Trauma, die nur auf den Moment wartet, endlich gemeinsam zu trauern"

Denn die internationale Gemeinschaft hat sich schon in der Vergangenheit keinen Gefallen damit getan, sich auf politischer Ebene ausschließlich auf ein Handlungsfeld zu konzentrieren. So verschwendete man jahrelang (finanzielle) Unterstützung für Übergangsregierungen, die letztlich Potemkinschen Dörfern ähnelten. Sie waren zwar auf dem Papier legitimiert, konnten aber die meiste Zeit nicht einmal einen Bruchteil Mogadischus unter ihre Kontrolle bringen.

Große Hoffnung setzt das Ausland auch auf die somalische Diaspora. Etwa 1,5 Millionen Somalis leben außerhalb ihrer Heimat. Mehr als eine Milliarde US-Dollar überweisen sie jährlich ins Mutterland. Durch direkte familiäre Verbindungen konnte die Diaspora in Bereichen erfolgreich sein, in denen die internationale Gemeinschaft versagte und nicht nur in Krisenzeiten (humanitäre) Hilfe leisten, sondern auch langfristig in Wiederaufbau und Entwicklung investieren. Wenn es nach westlichen Wünschen geht, sollen die Exilanten eine tragende Rolle in der weiteren Entwicklung Somalias spielen.

Viele junge Somalis leben bereits in zweiter Generation in ihren neuen Heimatländern. Somalischen Boden haben sie oftmals noch nie in ihrem Leben betreten. Die Menschen vor Ort betrachten die Rückkehrer hingegen nicht immer als die Heilsbringer, als die sie die westliche Welt gerne verkaufen würde, sondern befürchten, von einer neuen Elite dominiert werden, mit der man eigentlich kaum etwas gemein hat.

Und doch ist es wohl am effektivsten, wenn es Somalis sind, die den Somalis helfen und das offensichtlich fatale Herumdoktern der zig externen Akteure ein Ende findet. Denn eine der schwierigsten Aufgaben steht noch bevor: Die Somalis müssen einen Weg finden, die Bürgerkriegserfahrung mit all ihren brutalen Nebenerscheinungen, die sich nunmehr zwanzig lange Jahre ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, aufzuarbeiten. Somalias wohl bedeutendster Literat, Nuruddin Farah, resümiert: "Die Menschen in Somalia verschließen die Augen vor der Wahrheit. Bis jetzt hat es keinen Versuch der Versöhnung gegeben, keinen Versuch, über das, was geschehen ist zu sprechen, keinen Versuch, das Trauma zu analysieren, das die Menschen durchlebt haben. Eine ganze Nation im Trauma, die nur auf den Moment wartet, endlich gemeinsam zu trauern."

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