Ein Montagabend im November, kurz vor sechs am Abend, die letzte Vorlesung ist gerade vorbei, draußen geht ein feiner Nieselregen nieder, es ist viel zu kalt, viel zu nass und viel zu dunkel. Da ist doch die naheliegenste Idee, eine Breisgau-S-Bahn nach Hugstetten zu nehmen, um sich dort mit einigen anderen Mädels im Schlamm zu wälzen und das „Rugby" zu nennen. Ich jedenfalls kann mir kaum etwas Schöneres vorstellen. Zur moralischen Unterstützung habe ich trotzdem eine Freundin mitgenommen, was sich als weise Entscheidung herausstellt, als wir am Rugbyplatz in Hugstetten ankommen: Außer uns sind noch zwei andere Mädels da, mehr werden wir auch nicht mehr.
Die Flugeigenschaften unter Kontrolle bringen
Haram - the Captain - schreibt gerade ihre Doktorarbeit in Medizin und steht dafür viel im Labor. „Man kann sich hier gut auspowern", sagt sie. „Manchmal ist es zwar schon schade, dass es eine Randsportart ist, wir bekommen zum Beispiel nicht mal einen Platz auf dem Unisportgelände, weil jede popelige Fußballmannschaft vorgezogen wird. Aber es macht einfach wahnsinnig viel Spaß, ich spiele jetzt seit zweieinhalb Jahren und finde die Truppe hier echt super." Von der ist grade außer ihr nur Fibi da, die seit zweieinhalb Wochen spielt, am Donnerstag, sagt Haram, ist normalerweise mehr los.
Nach einer Dreiviertelstunde Ausdauertraining mit Laufen, Hüpfen, Springen kommen wir erst in den Genuss von Ball- und schließlich auch Körperkontakt. Das Werfen des eierförmigen Balls liegt im Bereich des Möglichen, soweit man grobmotorisch nicht absolut unterentwickelt ist - bis ich so einen schönen Dreh reinbekomme wie Trainer Coram und „Captain" Haram, dürfte es allerdings noch etwas dauern.
Dann geht's ans Eingemachte. Wir sollen mit dem Ball unterm Arm auf Coram zustürzen; uns in den Tackle Bag werfen, den er hält; versuchen, ihn einige Zentimeter nach hinten zu schieben; und dann zu Boden gehen - Knie, Hüfte, Schulter - um den Ball der nachrückenden Spielerin zu präsentieren. Voilà, los geht's. Wir stellen schnell fest, dass man bei dieser Übung besonders gut aufgestaute Aggressionen abbauen kann und rufen vor jedem Tackle den Namen einer unliebsamen Person.
Da mit vier Spielerinnen die Möglichkeiten doch etwas begrenzt sind, üben wir dann nur noch das Laufen mit Ball und verschiedene Kicks. Ich kann mir vorstellen, dass man zu diesem seltsamen Ei ein sehr liebevolles Verhältnis aufbauen könnte, wenn man seine Flugeigenschaften erst einmal einigermaßen unter Kontrolle hat. Ich schaffe es, eine Handvoll Bälle durch die beiden Stangen zu kicken und fühle mich gut. Haram sagt, ich soll am Donnerstag wieder kommen, dann sind mehr Mädels da und die Jungs auch.
Donnerstagabend, kurz vor sechs am Abend, Uni rum, die Dinge wiederholen sich: Es ist dunkel, es ist kalt, es ist nass, ich fahre nach Hugstetten. Am Rugbyplatz ist tatsächlich ordentlich was los: Ein Dutzend Mädels ist am Start, dazu eine ganze Horde Männer, von denen nicht wenige die Maße von Billy-Regalen haben, sie sind bärtig und laut; und später wollen sie Suppe kochen, um sich nach dem Training etwas aufzuwärmen. Wie sagt man auf diversen Rugby-dominierten Inseln so schön? „Football is a gentlemens' sport played by hooligans. Rugby is a hooligans' sport played by gentlemen." Irgendwas wird schon dran sein.
Auf in den Matsch. Zwar regnet es gerade mal nicht, der Boden ist trotzdem ausreichend nass, um beim Tackeln innerhalb weniger Minuten von Fußsohle bis Scheitel schmutzig zu werden. Es ist wie früher im Kindergarten, nur ohne Matschhose und Gummistiefel, dafür mit Ball und Stollenschuhen. „Tiefer tackeln!", ruft Coram. Wir tackeln tiefer. „Schneller!" Wir laufen schneller. „Ich muss Angst vor euch haben!" Aussichtslos.
Was die Männer ein paar Meter weiter machen, ist mir im Übrigen nicht so ganz klar. Sie robben und krabbeln durch den Matsch, bleiben auf Kommando stehen und krabbeln dann weiter. Für mich sieht es aus, als würden sie eine Schützengrabenszene aus dem Ersten Weltkrieg Hollywood-gerecht nachspielen, aber es hat bestimmt alles einen tieferen Sinn, so wie viele Dinge einen tieferen Sinn haben, die etwas seltsam anmuten. Bestes Beispiel im Rugby: Der Scrum, eine Formation aus je drei Spielerinnen pro Mannschaft, die um den Ball am Boden in der Mitte kämpfen, wobei die beiden äußeren jeweils versuchen, die mittlere so nah an den Ball zu schieben, dass sie ihn mit dem Fuß nach hinten raus schieben kann.
Wo wir schon mal so viele Mädels sind, starten wir auch ein kleines Spiel. Die Mädels spielen 7er Rugby, zwei mal sieben Minuten, was nach einhelliger Meinung anstrengender ist, als man sich vorstellen kann. Bevor es los geht, werde ich kurz in die mir zugedachte Position eingewiesen: Ich bin der Hooker - das heißt ich bin für Einwürfe verantwortlich und der mittlere Teil des Scrums, der den Ball nach hinten raus hakeln soll.
Im Spiel ist es etwas gewöhnungsbedürftig dauern nach hinten zu laufen, weil der Ball nicht nach vorne geworfen werden darf. Ich stehe dauern zu weit vorne, für mein Fußballstürmerherz ist hinten zu weit weg vom Tor. Irgendwann stehe ich zufälligerweise allein mit dem Ball in der gegnerischen Hälfte, weiß nicht, wie ich in diese aussichtsreiche Position gekommen bin, laufe los, lege den Ball hinter der Linie ab - my first try. Ganz okay soweit. Meine Ärmel sind inzwischen nicht nur von außen, sondern auch von innen matschig, meine Muskeln sind gut ausgelastet, der Vierzehnminutenlauf am Ende muss trotzdem noch sein.
Sich im Schlamm wälzen wird hierzulande unterschätzt
Nach dem Training versammeln sich alle im Vereinsheim - einer improvisierten, ungeheizten Bretterbude, deren Wände behängt sind mit Postern von Sébastian Chabal (einem französischen Rugby-Idol, das aussieht wie eine seltsame Kreuzung aus Tarzan und King Kong) und Fotos vergangener Rugby-Sternstunden der Hugstettener. Der Spiegel an der Wand ist beschlagen vom Dampf der Suppe sowie Atem- und Schweißschwaden einer Horde matschiger Gestalten.
In den nächsten beiden Tagen werde ich blaue Flecken auf meiner linken Tackle-Seite entdecken und meinen Muskelkater in Nacken und Oberschenkeln pflegen, aber das weiß ich gerade noch nicht, ich fühle mich ausgeglichen und zufrieden. Ich habe dieses Spiel noch nicht ganz verstanden und den Ball nicht unter Kontrolle, aber die Genugtuung, die davon ausgeht, sich mal wieder ausgiebig im Schlamm zu wälzen und dabei um ein seltsames Ei zu streiten, wird hierzulande definitiv unterschätzt.
Donnerstagabend, kurz vor halb zehn, irgendwo im Wald bei Hugstetten. Es ist kalt, es ist nass, es ist dunkel. Der Ball ist unberechenbar und ein Spiel dauert 14 Minuten. Meine Rugbywoche ist vorbei. Vielleicht komme ich wieder. Mud'n'Tackles!
Foto-Galerie: David Cibis