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Trendvulkan Grafenberg: So war das Open Source Festival 2016

Maurice Ernst, Sänger von Bilderbuch beim Open Source Festival 2016, Pressefoto: Marco Schlinger

Ein sonniger Samstagmittag in Düsseldorf-Grafenberg. Heute versammeln sich nicht etwa Pferde-Wettgemeinschaften oder Golfer an der Galopprennbahn, sondern die unabhängige, indieeske Musikszene. Denn schließlich steigt heute das mittlerweile 11. Open Source Festival. Die Anreise per Bahn und Shuttlebus verlief wie immer reibungslos. Hervorzuheben ist hier die schnelle Taktung des Shuttles, sodaß man nicht lange warten musste, wenn einer der gutgelaunten Busfahrer mal keinen mehr reinlassen konnte.

Vor den Toren angekommen, gehen wir zum Presseschalter und finden uns wenige Minuten später schon im Backstage wieder, wo es Limo, Bier und gute Speisen gibt. Also schnell hydriert und auf zu Oiro, die gleich auf der Main Stage auftreten. Ihr schnörkelloser Deutschpunk überzeugt die punkaffine Redaktion auf Anhieb. Außerdem finden wir es bemerkenswert, eine Punkband auf das Indie- und Electro Festival zu buchen. Sänger Jonny Bauer bedankt sich sodann brav nach dem ersten Lied: „Vielen Dank an den Bürgermeister, an die Sparkasse und an die Commerzbank.“ Dass die 2001 gegründete Fünferkombo aus Düsseldorf 2013 zusammen mit den von uns geschätzten duesenjaegereine Split namens HERBSTMANÖVER veröffentlichte, lässt sie in unserer Sympathieskala weiter nach oben schnellen. Auch Jens Rachut durften sie schon auf ihrem ersten Album als Featuregast begrüßen. Doch zurück zum Auftritt: Während das Publikum verhalten, aus sicherer Entfernung lauscht und wahrscheinlich traurig ist, dass es keinen 500 Euro-Schein mehr gibt, zieht die Truppe mit den schicken Shirts („YO MTV Raps“- und The Police) ihr kraftvolles Set durch. Zum Abschluß bedankt sich Sänger Jonny ebenso freundlich, wie er kam: „Dankeschön ihr Arschlöcher!“


Oiro Sänger Jonny Bauer, Pressefoto: Marco Schlinger


Eine halbe Stunde Zeit bis zu dem von uns sehnsüchtig-erwarteten, eigentlichen Highlight des Line Ups: Schnipo Schranke. Zeit, um sich nochmal mit einem Getränk einzudecken. Dabei treffen wir auf das Filmduo von Treehouse, die einen Moodclip zum Festival drehen. Den präsentieren wir euch an dieser Stelle, sobald er fertig ist. Zurück zum Grün, wo Schnipo Schranke die Bühne betreten, die mit ihrem 2015 erschienenem Album SATT einen Achtungserfolg in der deutschen Presse feiern konnten. Mit dem „Schnipo-Song“ beantwortet das weibliche Duo gleich die wichtigsten Fragen über sich, live verstärkt durch Danielas Freund Ente: „Lebensmotto: Drauf geschissen/ Lieblingssportart: Zungenküssen/ Und sorgt es auch für Augendrehen/ Berufswunsch: Irgendwas mit Fame“. Nach einer kleiner Aufforderung seitens Sängerin Daniela Reis rückt das Publikum an die Absperrung der ersten Reihe. Das gute Wetter berschert uns erste Sonnenbrände, aber der „HipHop-Chanson-Fuck“, wie das Kennermagazin Intro sie mal einordnete, lässt uns das schnell vergessen. Eigentlich spielen die beiden lupenreinen Indie-Pop mit Keyboards, Schlagzeug oder gar Blöckflöten-Soli, dafür aber ganz ohne Gitarren. Was die Kombi jedoch so besonders macht, ist die explizite Sprache, für die ebenjenes Genre nicht gerade bekannt ist. Lyrics wie: „Oh Baby, dein Sperma schmeckt so intensiv“ oder „Komm in meine Arme, komm in meinem Mund“ beleuchten auch mal schonungslos den körperlichen Part der Liebe. So prangt dann auch der güldene Schriftzug „Pi$$e“ als Plastik-Kette von Fritzis Hals, der natürlich auf ihren größten gleichnamigen Hit verweist. Das Set besteht aus Songs wie „Ich küss dich tot“, „Ja nun“, „Intensiv“, dem famosen „Club Urlaub“ und natürlich zum Abschluss den Szenehit „Pisse“, in dessen Video Ente in eine Tasse uriniert. Fritzi und Daniela präsentieren die Songs unaufgeregt, aber voller Inbrunst, was auch das mittlerweile recht zahlreiche Publikum zu schätzen weiß. Unsere Vorfreude war also berechtigt.



Daniela Reis von Schnipo Schranke, Pressefoto: Marco Schlinger


Wir begeben uns zu den Open Squares, in dessen einzelnen Boxen verschiedenste kreative Projekte präsentiert werden. Halt machen wir beim FFT, wo in kleiner Location immer wieder Hochkaräter aus der unabhängigen Musikszene auftreten. Ansonsten zocken wir selbstverständlich wieder eine Runde Retro-Games bei den Konsolenkindern. Dort gibt’s neben Urvätern der heute riesigen Videospieleindustrie mit Pixel-Panzern (ich hab gegen Fotograf Marco verloren...) und Controllern aus grauer Vorzeit auch den unvermeidbaren Sonic oder erste Lightgun-Spiele. Die Veranstaltungen sollte man als Düsseldorfer im Auge behalten. Zum Schluss lächelt uns noch ein überdimensionierter „Tinder“-Riegel an, neben dem ein Shirt mit der Aufschrift „Ein Herz für Tinder“ hängt. Dahinter steckt Kiosk.to, die nicht nur einen bewußt trashigen Flyer, sondern auch eine mysteriöse Selbstbeschreibung bei Facebook haben: „Wie sieht ein digitaler Kiosk aus, der wie ein Pop-Up-Fenster nur für eine Nacht all die Dinge anbietet, die sonst weder als Einsen noch Nullen vorhanden sind? Ein Ort an dem sich jeder trifft, die digitale Avantgarde und der SPAM-Pöbel.“ Denn hinter der verlinkten Homepage verbirgt sich erstmal nichts. Vielleicht kommt da ja noch was. Oder das ist einfach Kunst. Jedenfalls sprach uns ein „Dealer“ mit langen Mantel voller „Teile“ an, der die Verwirrung, was Kiosk.todenn nun eigentlich ist, perfekt machte.



Zusammenkunft der Generationen bei den Konsolenkindern, Pressefoto: Marco Schlinger


Dieses Jahr kann das Open Source einen Besucherrekord von 6500 Besuchern aufstellen. Werfen wir also ein Auge auf ebenjene. Das Publikum zeichnet sich wie immer dadurch aus, keine homogene Masse zu bilden, sondern eine Übersicht der musikaffinen Gesellschaft darzustellen: So gibt es die Kleinfamilien, die ihre kleinen Kinder über die Wiesen jagen lassen, die Studenten, die ohne weite Anreise auch etwas Festivalluft schnuppern wollen, die Indienerds und vor allem die Berlin-Mitte Hipster, die sich mit lässigen Moves und Fjällräven-Rucksäcken, Sidecut und/oder Man-Bun vor der Carhartt Stage tummeln und gefühlt den größten Anteil an der Rennbahn ausmachen. Die schauen sich die Acts natürlich an, bevor sie richtig groß werden und setzen durch gute Resonanz vielleicht den nächsten großen Trend. 


Ein kurzer Abstecher zur Young Talent Stage führt uns zu den Hip Hoppern der Balkonien Gang (nein, sie sind im Gegensatz zu uns keine Fans der Antilopen Gang), die schon auf dem Newcomercontest 2015 im Zakk positiv im Gedächntis blieben und hier einfach mal die Hütte abreißen. Die Ansagen zwischen den Songs sind Absagen auf das Düsseldorf-Klischee: Sinngemäß: „Hier gibt’s nicht nur Schickimicki, sondern auch dreckige Ecken. Grüße an Garath, Oberbilk und Reisholz!“ Wir haben zwei der Jungs auf Getränketour im Backstage auf ein paar Worte getroffen und kurzerhand ein Interview geplant, dass ihr bald hier lesen könnt.


Balkonien Gang, Pressefoto: Marco Schlinger


Als nächstes folgt Get Well Soon, das Musikprojekt des deutschen Sängers, Songschreibers und Multiinstrumentalisten Konstantin Gropper, unter dem er bereits seit 2003 unterwegs ist. Mit seinen zahlreichen Live-Musikern spielt er seinen komplexen, entschleunigten Indierock, der durch seinen schwermütigen Gesang bestimmt wird. Angereichtert wird das durch den gekonnte Einsatz von Geigen. Trotz des langsamen Drives finden sich exaltische Parts, die einen Gegenpol zum ruhigeren Gewand bilden und gegen Ende des Sets nimmt er sich Elementen des Postrock an. Der riesengroße LOVE-Schriftzug zeigt, dass heute viele Songs aus dem aktuellen gleichnamigen Album zum Besten gegeben werden.



In der Mitte: Konstantin Gropper von Get Well Soon, Pressefoto: Marco Schlinger


Damit wir auch noch was den vielfach gelobten Stabil Elite sehen, die uns vor Jahren noch nicht so wirklich überzeugen konnten, machen wir uns um kurz vor sieben und eine halbe Stunde vor Ende des Sets auf Richtung Cahartt WIP Stage, wo genau...niemand spielt. Durch die Absage von GAIKA haben sich die Stagetimes auf dieser Bühne nämlich verschoben. Die neuen Zeiten wurden zwar am Morgen des Festivaltags über Facebook per Link kommuniziert, der für Smartphones optimiert ist und deshalb am Rechner etwas unübersichtlich daherkommt, jedoch lief es so, wie es bei unbezahlten Facebookposts immer läuft: Die Reichweiten beschränken sich auf ca. 10% aller Liker und somit hat lange nicht jeder von den geänderten Spielzeiten mitbekommen. Unter anderem wir sind verwirrt, ob das Elektro-Pop-Quartett nun schon gespielt hat oder nicht. Wir beschließen uns im Pressebereich mit besten Speisen zu versorgen und verpassen somit dann letztendlich die Band, die erst um 19:30 Uhr auftrat. Mario Lasar vom Kaput Magazin schrieb über das aktuelle Album SPUMANTE: „Dieses neue Album von Stabil Elite aus Düsseldorf gehört zu den überzeugendsten und aufregendsten Simulationen des süßen Lebens und 80er Glamour, die ich seit langem gehört habe [...]“. Bei der nächsten Gelegenheit werden wir die Band also nochmal nachholen.


Pressefoto: Marco Schlinger


Es wird später, Co-Headliner Bilderbuch bitten zum Tanz und heißen uns „Willkommen im Dschungel“. Ihr verspielter Indie, der sich das Beste aus den Genres Art-Rock, Progressive Rock und Hip-Hop schnappt, zieht das Publikum schnell in seinen Bann. Das mag zu großen Teilen an Sänger und Gitarrist Maurice Ernst liegen, der mit viel Charisma und Bühnenpräsenz auftrumpfen kann und die Menge in der Hand hat. Als Kenner des Bühnen Einmaleins weiß er natürlich, dass man in seinen Ansagen möglichst oft den Namen der Stadt, in der man gerade spielt, erwähnen sollte und so werden wir den Eindruck nicht los, dass die Band pro Düsseldorf-Erwähnung einen Euro kassiert. Das Publikum freut's und so dauert es nicht lange, bis die Menge anfängt im Takt zu klatschen. (Dieses Phänomen werde ich wohl nie so recht nachvollziehen können.) Als sie die groovige Kiffer-Ode „Spliff“ spielen wollen, wird erst gefragt, ob Verbrecher und Banditen anwesend sind, was natürlich der Fall ist (; wir tippen spontan auf Steuervergehen) und dann darf auch das Publikum laut „Spliff“ im Refrain rufen. Die flirrend hohen Gitarren und die hohe Gesangsstimme gepaart mit dem österreichischen Dialekt erzeugen das ganze Set über einen regelrechten Zuckerschickschock. Uns fällt auf, dass die Band einen Swag versprüht, ähnlich wie der ebenfalls österreichische Money Boy, ähm pardon wir meinen Why SL Know Plug, das nun seit vielen Jahren versucht. Bei der Band klappt's allerdings. Aus dem Nähkästchen plaudert Maurice außerdem: So haben sie zuvor Golf auf dem Green innerhalb der Galopprennbahn gespielt und sich dort als Wölfe im Schafspelz aufgeführt. Grüße an den Golfclub an dieser Stelle, schickt er noch hinterher. Dann fragt er, was ein Düsseldorfer mache, wenn er bereits Porsche und Yacht besitzt. (Ja, die Schickimicki-Klischees halten sich hartnäckig.) Er gönnt sich selbstverständlich einen Pool. Komische Reihenfolge, findet ihr? Wir auch, aber die Ansage ist natürlich nur ein Vorwand, um ihre Sommer-Single „Plansch“ anzukündigen, die jetzt folgt. Inklusive Seifenblaseninferno. Als Höhepunkt gibt das Quartett, das seit 2005 unterwegs ist, ihren Überhit „Maschin“ zum Besten. Maurice lässt das Publikum die erste Strophe singen, das sogleich den Text verhaut, worauf die Band abbricht und er darauf hinweist, dass es „so aber nicht“ ginge. Egal, kurz neu aufgerafft und wieder gestartet. Jetzt sitzt auch der Text auf den Lippen der Besucher und alle feiern einen würdigen Auftritt der Indieband, die auch bei Yuppies Anklang finden dürfte.


Maurice Ernst von Bilderbuch zeigt, was er hat. Pressefoto: Marco Schlinger


Für ein paar Bilder schauen wir bei Oddisee & Good Company vorbei, die Rap mit mordernen Jazzeinflüssen kombinieren und so die zahlreichen Köpfe mitwippen lassen. Danach geht’s zu Headliner und Zugpferd Hot Chip, die jetzt eigentlich anfangen sollten. Achja, Zeitplanverschiebung. Nach 30 Minuten Ausharren vor der Bühne betreten die fünf Musiker aus London das mittlerweile in nächtliches Dunkel gehüllte Open Source. Zugegeben, ich kenne zwar nur „Over and Over“, doch trotzdem überzeugt die Band auf Anhieb durch ihre ausgesprochene Tanzbarkeit. Fette Beats, eingängige Gitarrenspuren und der gekonnte Einsatz der Synthies bringt die Stimmung zum Kochen. Bemerkenswert ist die ausgefallene Kopfbedeckung von Sänger und Gründer Alexis Taylor, die famose Lichtshow tut ihr Übriges, um den Publikum noch einmal die letzten Im-Takt-Hüpfkräfte abzuverlangen. „Over and Over“, „Ready for the Floor“ und „One Life Stand“ gehen direkt in Mark und Bein über und eignen sich hervorragend für den Abschluss eines gelungenen Tages.



Alexis Taylor von Hot Chip in der Mitte, Pressefoto: Marco Schlinger 


So geht abermals ein sehr gutes Open Source zu Ende, dass vor allem durch die familiäre Atmosphäre, die wundervolle Location und das Präsentieren der Kreativszene NRWs glänzt. Auch, wenn einen (wie mich) das Line Up im Vorfeld nicht unbedingt anspricht: Entdecken und Überraschenlassen lohnt sich! Denn der nächste Trend wir hier gesetzt. 

(Marc Braun)

Unsere komplette Galerie findet ihr hier


Links:
www.open-source-festival.de
www.facebook.de/opensourcefestival

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