Stellen Sie sich vor, Sie sind sechs Jahre alt und Ihre Mutter erzählt Ihnen, Bäume seien lila und die Nachbarin ein Spion. Das war für mich Alltag. Meine Mutter leidet unter einer bipolaren Störung, mit manischen und depressiven Phasen. Ihr Gemüt fährt quasi mit ihr Achterbahn. Erst hoch hinaus und dann plötzlich steil bergab.
In ihren Hochphasen war meine Mutter euphorisch und emotional. Dann verliebte sie sich ständig in Männer, die es manchmal gab, manchmal nicht. Wenn sie einen neuen imaginären Ehemann hatte, schickte sie meine Schwester und mich mit kleinen Liebespaketen los. Meistens für Helmut Schmidt, der war ihre große Liebe. Die beiden hatten 330 Kinder, zur Hochzeit schenkte er ihr 137 Kleider und 36 Milliarden Mark für die Stromrechnung. Ihre Geschichten waren kreativ, aber als Kind war ich damit total überfordert. Ständig haben wir uns gestritten, weil ich ihr erklären wollte, dass sie Unsinn erzählt.
Dazu kam ihr Verfolgungswahn. Weil sie dachte, dass unsere Nachbarin uns abhört, drehte sie die Anlage im Wohnzimmer auf. Howard Carpendale, jede Nacht, monatelang. Ich machte in der Zeit kein Auge zu, ging übermüdet zur Schule. Ich war oft einsam, traute mich nicht, mit meinen Freunden darüber zu reden. Es war mir peinlich. Was sollte ich auch sagen? Dass meine Mutter verrückt ist? Damals habe ich mir gewünscht, dass jemand auf mich zugeht, ein Lehrer vielleicht. Aber die meisten ignorierten meine Augenringe, obwohl sie wussten, was zu Hause los war. Mein Vater tat alles, um uns zu versorgen, uns ein gutes Leben zu ermöglichen. Aber auch er geriet an Grenzen.
Wenn es zu schlimm wurde, wiesen wir sie in die Psychiatrie ein. Die Medikamente halfen, solange sie sie nahm. Irgendwann allerdings spülte sie die Tabletten immer im Klo runter, dann folgte oft eine depressive Phase. Als sei ihre unendliche Energie plötzlich verpufft, ging sie nur noch vom Bett ins Bad, in die Küche und zurück. Wochenlang habe ich sie kaum gesehen. Mit 17 zog ich schließlich von zu Hause aus. Es folgte eine Familientherapie, und meine Geschwister und ich lernten endlich, mit ihrer Krankheit umzugehen. Dass es nicht hilft, ihr zu widersprechen. Dass sie uns nicht weniger liebt, wenn sie depressiv ist. Dass sie für immer krank sein wird, dass es ihr aber gut damit gehen kann.
Inzwischen lebt meine Mutter in einem Pflegeheim. Wenn wir sie einmal in der Woche besuchen, erzählt sie uns von ihrem letzten Gespräch mit Helmut Schmidt, der gegenüber im Baum sitzt, und von der Frau mit dem Holzbein, das aus lauter kleinen Schubladen besteht. Statt zu widersprechen, sagen mein Bruder und ich dann grinsend: Ach, Mama, du wirst alt, das hast du uns doch letzte Woche schon erzählt.
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