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The Pegasus Project: Mexiko außer Kontrolle

Cristina Bautista und Andrés Manuel López Obrador haben nicht viel gemeinsam, außer dass beide in den vergangenen Jahren ins Visier einer der mächtigsten Cyberwaffen der Welt gerieten. Bautista, eine kleine Frau zwischen vierzig und fünfzig Jahren mit brauner Haut und schwarzem Haar, stammt aus einem winzigen Dorf im Bundesstaat Guerrero. Sie wähnt sich glücklich, dass ihr Haus aus Beton und nicht aus Holz ist. Das konnte sie sich nur leisten, weil sie ein Jahr lang als Wanderarbeiterin in den USA geschuftet hat. López Obrador, ein 67-Jähriger mit grauem Seitenscheitel, lebt in einem Prachtbau mit einer Fassade aus Vulkangestein im Zentrum von Mexiko-Stadt. Sein Zuhause ist seit Dezember 2018 der Nationalpalast, denn er ist heute der Präsident - der offiziell mächtigste Mann des Landes.

Bautista und der aktuelle Präsident haben sich nie getroffen. Doch beide verbindet, dass sie unter der Regierung des früheren Präsidenten Enrique Peña Nieto, der Mexiko von 2012 bis 2018 regierte, ins Visier der Sicherheitsbehörden gerieten. Cristina Bautista, weil sie demonstrierte und Aufklärung vom Staat forderte: Ihr Sohn war einer von 43 Studenten, die im September 2014 unter bis heute ungeklärten Umständen verschwanden. Sollte ihr tatsächlich die Spionagesoftware Pegasus des israelischen Unternehmens NSO aufs Handy gespielt worden sein, dann konnte Pegasus jede Nachricht von ihr mitlesen, jedes gesprochene Wort mithören. Dass sich die Sicherheitsbehörden für sie interessierten, legen Recherchen des vom Verein Forbidden Stories koordinierten Pegasus Projects nahe, an dem sich die ZEIT und weitere sechzehn Medien aus zehn Ländern beteiligten. Auslöser der Recherchen ist eine Liste potenzieller Überwachungsziele mit mehr als 50.000 Telefonnummern. Bautistas Nummer ist darunter.

Auch der heutige Präsident López Obrador wurde offenbar von Behörden eingekreist - als er für das Präsidentenamt kandidierte. Eine persönliche Telefonnummer von ihm selbst taucht zwar nicht in der Liste auf. Dafür aber die von 50 Personen aus seinem Umfeld. Betroffen sind unter anderem seine Frau, seine drei ältesten Söhne und drei seiner Brüder.

Nicht jede Nummer in der Liste steht für eine Überwachung des dazugehörigen Telefons. Doch nach Angaben der gemeinnützigen Organisation Forbidden Stories wurden die Nummern für eine mögliche Überwachung vorausgewählt. Ob die Handys rund um den Präsidenten sowie das Handy von Bautista tatsächlich von der Software befallen wurden, ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Einige der Betroffenen hatten ihre alten Geräte nicht mehr, andere Überprüfungen scheiterten aus technischen Gründen. In etlichen anderen Fällen konnten forensische Analysen aber belegen, dass eine Infektion mit der Spähsoftware erfolgte. Diese Analyse unternahmen Experten des Security Labs von Amnesty International. Auch ohne Forensik ist das Leak zudem ein guter Indikator dafür, für wen Polizeibehörden oder Geheimdienste sich interessierten, insbesondere wenn sich Muster offenbaren.

Die gemeinsame Geschichte des heutigen Präsidenten und der Mutter, die ihren Sohn sucht, zeigt auf dramatische Weise, in welcher Frequenz unter der vorherigen zentristischen Regierung Peña Nieto in Mexiko jahrelang politische Gegner ins Visier genommen wurden - egal, ob arm und unbekannt wie Cristina Bautista oder vergleichsweise mächtig und berühmt wie der damalige Präsidentschaftskandidat López Obrador. Aus keinem Land finden sich mehr Nummern in dem Leak als aus Mexiko: rund 15.000 von insgesamt 50.000 Handynummern. Sie wurden 2016 und 2017 eingegeben. Viele von ihnen gehören Politikern, Aktivistinnen, Gewerkschaftern, Anwälten und Menschenrechtlern. Und Journalisten - so findet sich beispielsweise auch die Nummer des New- York- Times-Korrespondenten Azam Ahmed in der Liste, der selbst zu Pegasus recherchierte. 2017 hatte das Citizen Lab der Universität Toronto bereits 25 erfolgreiche Infiltrationen durch Pegasus in Mexiko gefunden. Recherchen der Forbidden-Stories-Kooperation zeigen nun: Das Ausmaß der Überwachung im Land unter Peña Nieto ähnelte dem in autoritären Regimen.

The Pegasus Project

Seit Monaten recherchieren Reporterinnen und Reporter aus zahlreichen Ländern, wo, wie und gegen wen die Spionagesoftware Pegasus des israelischen Unternehmens NSO von Geheimdiensten und Polizeibehörden weltweit eingesetzt wird. Ausgangspunkt war eine Liste mit mehr als 50.000 Handynummern aus rund 50 Ländern, die dem gemeinnützigen Verein Forbidden Stories sowie Amnesty International zugespielt wurde.

Koordiniert von Forbidden Stories, waren die folgenden Redaktionen an der Recherche beteiligt: Le Monde und Radio France aus Frankreich, The Washington Post aus den USA, The Guardian aus Großbritannien, DIE ZEIT, Süddeutsche Zeitung, der NDR und der WDR aus Deutschland, Direkt36 aus Ungarn, Knack und Le Soir aus Belgien, Haaretz aus Israel, The Wire aus Indien, Daraj Media aus dem Libanon, Proceso und Aristegui Noticias aus Mexiko. Außerdem die investigative Rechercheplattform OCCRP.

Die Analyse der Daten übernahm das Security Lab von Amnesty International. Ein ausführlicher Bericht zur Methodik der Untersuchung und wie das Lab Spuren von Pegasus auf den Handys nachweisen konnte, findet sich hier. Die Ergebnisse wurden in einer unabhängigen Untersuchung vom kanadischen IT-Sicherheitslabor Citizen Lab der Universität Toronto bestätigt. Die Sicherheitsforscher untersuchen seit Jahren Cyberangriffe auf Dissidenten und Journalisten, auch solche mit Pegasus. Sie stellten in ihrem Zweitgutachten fest, spezifische Spuren auf den untersuchten Handys seien bisher nur auf Geräten beobachtet worden, bei denen man davon ausgehe, dass sie mit Pegasus infiziert worden seien.

Die Handynummern wurden nach Angaben von Forbidden Stories in ein System der NSO Group eingespeist, eines Unternehmens, das seine Spähsoftware Pegasus weltweit an Polizeibehörden und Geheimdienste verkauft. Die Liste reicht von 2016 bis in die Gegenwart. Die Nummern wurden aus mehr als zehn Staaten eingespeist, die Kunden von NSO sind.

Vor einer geplanten Überwachung mit Pegasus identifizieren die Überwacher in der Regel, ob ein Mobiltelefon online ist und in welchem Land es sich befindet. Der Einsatz von Pegasus ist laut NSO nicht in allen Ländern möglich.

Der Ort, an dem ein Handy bei einem Mobilfunkbetreiber eingebucht ist und ob es online ist, sind Informationen, die Netzbetreiber weltweit in einem System namens Home Location Register (HLR) speichern. Damit Handykommunikation international funktioniert, müssen Mobilfunkbetreiber unter anderem Daten aus diesem HLR miteinander austauschen. Wer Zugang zu diesem System hat, kann Informationen über jedes Handy weltweit abrufen. Neben der Rufnummer ist das auch die Hardware-Identifikationsnummer der SIM-Karte.

Die Liste der mehr als 50.000 Nummern umfasst demnach Abfragen des HLR-Systems. Das bedeutet nicht, dass jede der 50.000 Nummern anschließend angegriffen oder von Pegasus infiltriert wurde. NSO legt Wert auf die Feststellung, dass man "keinen Zugang zu den Daten der Zielpersonen seiner Kunden" habe. Die Eingabe einer Nummer bedeutet aber zumindest, dass Polizeibehörden und Geheimdienste ein Interesse an den Menschen hatten, denen die Handynummer gehört.

Dem Pegasus Project ist es gelungen, auf den Smartphones von verschiedenen Betroffenen digitale Spuren des Angriffs zu finden, auch wenn der Trojaner sich selbst gelöscht hatte. Das war möglich, weil die an der Recherche beteiligten Reporter und Reporterinnen potenzielle Opfer kontaktiert und sie gebeten haben, die Daten ihrer Mobiltelefone für eine Untersuchung durch das Security Lab von Amnesty zur Verfügung zu stellen. Insgesamt konnten 67 Smartphones von Menschen, die auf der ursprünglichen Liste auftauchten, vom Security Lab analysiert werden.

Laut den Amnesty-Cyberexperten fanden sich bei insgesamt 37 Geräten Spuren von Pegasus-Aktivitäten: 23 Handys waren erfolgreich mit der Schadsoftware infiziert und 14 zeigten Spuren eines versuchten Angriffs mit der Cyberwaffe. Auf einzelnen untersuchten Geräten war das Programm demnach noch bis in den Juli aktiv. Selbst neueste iPhones mit aktuellen Betriebssystemen waren betroffen. Dabei konnte in 15 Fällen nachgewiesen werden, dass die Geräte weniger als eine Minute nach der in den geleakten Daten dokumentierten Abfrage mit der Pegasus-Schadsoftware infiziert worden waren.

Die Ursprünge liegen im Jahr 2011. Damals kämpfte die mexikanische Armee bereits im fünften Jahr gegen die Drogenkartelle des Landes, die Lage war unübersichtlich. Amnesty International warnte: Es gebe Berichte, dass das Militär Menschen "verschwinden" lasse. Dass Soldaten Menschen folterten und widerrechtlich töteten. Dennoch verkaufte NSO das Pegasus-Programm damals an das mexikanische Verteidigungsministerium. Mexiko wurde NSOs erster Kunde. Später kauften mindestens zwei weitere Behörden das Programm: Die Generalstaatsanwaltschaft, die dafür 32 Millionen Dollar bezahlte. Und der Geheimdienst. Das zeigen Dokumente, die das mexikanische Investigativmedium Aristegui Noticias veröffentlichte. Handynummern von Mitarbeitern dieser Redaktion befinden sich ebenfalls auf der Liste möglicher Überwachungsziele. Laut Aristegui Noticias unterhielt ein Bekannter des NSO-Firmenchefs Shalev Hulio auch ein Büro in Mexiko-Stadt, in dem ebenfalls Pegasus eingesetzt wurde. Dort hätten Mitarbeitende persönliche Ausspäh-Aufträge des 2012 gewählten Präsidenten Peña Nieto entgegengenommen. NSO widerspricht dieser Darstellung: Pegasus werde nur für zuvor geprüfte Regierungen lizensiert und an diese geliefert. Die Annahme, dass dieses empfindliche Werkzeug aus einem privaten Büro heraus bedient werden könne, sei "weit hergeholt".

Eigentlich ist Pegasus reserviert für den Einsatz im Kampf gegen Terroristen und Kriminelle. NSO weist in mehreren Stellungnahmen auch darauf hin, dass Kunden sich verpflichten müssten, die nur für solche Zwecke zu gebrauchen. Die Firma habe jedoch "keinen Zugang zu den Daten der Zielpersonen seiner Kunden". Alle "glaubhaften Behauptungen über Missbrauch" der Software würde NSO untersuchen, versicherte das Unternehmen. Bei festgestelltem Missbrauch werde Kunden der Pegasus-Zugang gekappt. Dies sei in der Vergangenheit bereits mehrfach geschehen und NSO werde dies auch wieder tun, "wenn die Situation es erfordert".


"LEBENDIG wollen wir ihn zurück!"

In Mexiko ist der Eindruck, dass Pegasus missbraucht wird, allerdings schwer von der Hand zu weisen. Der bekannteste Fall begann am 26. September 2014 an der Hochschule in Ayotzinapa. Die Hochschule liegt im Bundesstaat Guerrero, in dem ein mächtiges Drogenkartell agiert. Wer hier lernt, wie zu dieser Zeit Cristina Bautistas Sohn Benjamín, damals 19 Jahre alt, möchte ein besseres Leben. Die Studenten gelten als links und aufrührerisch. Wie Benjamín kommen fast alle aus armen und indigenen Familien. Weil sie kein Geld für Bustickets haben, haben sie für längere Fahrten eine etwas rabiate Tradition entwickelt: Die Studenten kapern ganze Linienbusse, um ans Ziel zu kommen.


An diesem Septembertag besetzten etwa 80 bis 100 Lehramtsstudenten gleich mehrere Busse. Sie brachten die Fahrer dazu, in Richtung Mexiko-Stadt zu fahren, wo sie auf eine Demo gehen wollten. Doch in der Nähe des Busbahnhofs in der Kleinstadt Iguala hielten Polizisten sie an. Und ohne Vorwarnung, ohne Streit, eröffneten sie das Feuer. So berichteten es Überlebende und so beschreibt es eine internationale Expertengruppe, die den Fall später untersuchte. "Wir schrien die Polizisten an, dass wir unbewaffnet waren", sagt Edgar Yair, der damals 18 Jahre alt war und im ersten Semester studierte. "Sie fühlten nicht das geringste Mitleid." Drei Studenten starben.

Was noch in dieser Nacht geschah, ist bis heute Gegenstand internationaler Untersuchungen und politisch aufgeheizter Diskussionen. Fest steht, dass die Polizisten 43 der jungen Männer abführten. Bis heute sind sie verschwunden. Auch Benjamín.

Der Fall der Studenten veränderte etwas in der Art und Weise, wie über die vielen Verschwundenen im Land gesprochen wurde. Am nächsten Tag strömten die Eltern in die Hochschule ihrer Kinder. "Wir, die Eltern, fingen an, uns zu vernetzen", sagt Cristina Bautista. "Einige kamen aus Oaxaca, andere aus Tlaxcala, andere aus Morelos." In der Uni hätten sie sich in der Masse daran erkannt, dass sie alle geweint hätten. Von da an verwandelten sie die Uni in eine Art Hauptquartier. Alle schliefen in einem Raum auf Matratzen auf dem Betonboden, warteten auf Nachrichten über ihre Söhne. Und immer wieder fuhren sie in die Hauptstadt. Dort führten sie Prozessionen von 15.000 Menschen an. Cristina Bautista trug ein Plakat mit einem Bild Benjamíns in weißem Hemd. "Lebendig habt ihr ihn mitgenommen! LEBENDIG wollen wir ihn zurück!", stand darauf.


Warum schossen die Polizisten? Was geschah mit Benjamín? Immer wieder erfand die Regierung in den Monaten und Jahren danach neue Ausreden auf diese Fragen. Doch die Eltern gaben nicht auf, wiesen immer wieder auf Widersprüche in den offiziellen Erklärungen hin. Sie beschuldigten den Chef der Kriminalpolizei, Beweise manipuliert zu haben. Sein Name: Tomás Zerón. Er war ein Vertrauter des Präsidenten. Ausgerechnet er hatte auch einen Vertrag über den Kauf der Spionagesoftware Pegasus unterschrieben – nur einen Monat nach dem Verschwinden der Studenten. Zerón trat zurück. Doch der Präsident stellte ihn bald wieder ein, als Sicherheitsberater.

Längst vermuteten Cristina Bautista und die anderen Eltern da bereits, dass sie überwacht wurden. "Es war sehr schwierig für uns", sagt Bautista. Ständig hätten damals Hubschrauber über ihrem Haus gebrummt. Auf öffentlichen Druck hin durfte eine internationale Expertengruppe das Verschwinden der 43 Menschen untersuchen. Doch sie wurden mit Pegasus überwacht. Die Auswertung des Citizen Labs der Universität Toronto fand 2017 auf einem des von den Experten genutzten Handys Spuren des Spionageprogramms Pegasus.


Die Recherchen des Journalistenkonsortiums zeigen nun, dass die Möglichkeit einer Überwachung weiterer Menschen aus dem Umfeld der 43 offenbar mindestens geprüft wurde. In den Daten finden sich Cristina Bautistas Nummer ebenso wie die Nummern von mindestens zwei weiteren Angehörigen der verschwundenen Studenten. Da ist zudem Abel Barrera, ein bekannter Anthropologe, der die Angehörigen in einem Zentrum für Menschenrechte juristisch unterstützte. Und Vidulfo Rosales, ein Anwalt der Angehörigen.

"Die Regierung fühlte sich unter Druck und begann eine Schmierenkampagne", sagt Rosales. Viele mündliche Konversationen, die er führte, wurden öffentlich gemacht – offenbar, nachdem sie abgefangen wurden. Seine Worte seien dann aus dem Zusammenhang gerissen worden, um ihre Arbeit zu diskreditieren, sagt Rosales. Schon im April 2016, bevor Rosales' Nummer laut Datensatz für eine mögliche Überwachung ausgewählt wurde, gelangte ein Privatgespräch des Anwalts mit seiner Frau an die Öffentlichkeit: Rosales bezeichnete seine Mandanten darin mit einem Ausdruck, den man auf Deutsch etwa mit "verlauste Indianer" übersetzen könnte. In einem Moment großer Frustration hatte er offenbar harte Worte benutzt. Die Erfahrung, sagt er heute, sei schmerzhaft gewesen.

Ihr Sohn wurde nie gefunden

Welche Behörde Cristina Bautista, die Anwälte und Menschenrechtler als mögliche Ziele ausgewählt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Der ehemalige Geheimdienstchef Guillermo Valdés Castellanos sieht jedoch den damaligen Präsidenten Peña Nieto persönlich in der Verantwortung: "Unter Peña geriet der Einsatz von Pegasus außer Kontrolle", sagte Valdés Castellanos der Washington Post im Rahmen dieser Recherche. Er leitete den Geheimdienst von 2006 bis 2011. Technologien wie Pegasus, sagt er, seien sehr nützlich, um gegen das organisierte Verbrechen zu kämpfen. Aber das völlige Fehlen staatlicher Kontrollmechanismen bedeute, dass solche Technologien leicht in den Händen von Einzelpersonen landeten. Und Einzelpersonen könnten sie dann "für politische und persönliche Zwecke verwenden, ohne Rechenschaft darüber abzulegen". Ein Sprecher Peña Nietos äußerte sich bis zur Veröffentlichung dieses Artikels nicht zu dem Vorwurf, dass Pegasus in dessen Amtszeit unkontrolliert eingesetzt worden sei. 

Der Präsident machte jedenfalls keinen Hehl aus seiner Meinung über die Proteste für die verschwundenen 43. Als es zwei Monate nach der Tatnacht bei Demonstrationen auch zu Plünderungen und Brandstiftungen kam, verkündete Peña Nieto vor Reportern, damit solle das Land destabilisiert werden. Die Demonstranten wollten "das nationale Projekt angreifen, welches wir gefördert haben".

Etwa zur gleichen Zeit machte sich ein anderer Gegner des Präsidenten bereit, um ihn abzulösen. Im Februar 2015 gab der Politiker Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO, bekannt, dass er abermals für das Präsidentenamt kandidieren wolle. AMLO galt damals in Mexiko vielen Menschen als Mann der kleinen Leute. Mit seiner neuen Mitte-links-Bewegung Morena wollte er die Macht der Partei Peña Nietos brechen, die insgesamt 77 Jahre in Mexiko regiert hatte. Viele der Angehörigen der verschwundenen Studenten sahen AMLO als Hoffnungsträger. "Wenn der Fall der 43 nicht gelöst werden kann, kann das Land nicht zur Ruhe kommen", verkündete López Obrador 2015 bei einem Besuch in Iguala, wo die Studenten entführt worden waren. Er versprach, die Korruption im Land zu bekämpfen und für die Einhaltung der Menschenrechte zu sorgen.


Dann aber verbreiteten sich auf einmal seltsame Nachrichten über den Hoffnungsträger und sein Umfeld: Tonaufnahmen, in denen es schien, als sei seine Familie korrupt. Private Unterhaltungen mit seiner Frau. Und kurz vor einer Präsidentschaftsdebatte behaupteten Journalisten: Ein Neurologe besuche ihn alle 15 Tage. Seine Gesundheit sei schlecht.

Heute lässt sich ahnen, woher diese Leaks stammen könnten: Aus Handys von Familienmitgliedern und Mitarbeitern. Denn in der Datenbank, die den Recherchepartnern vorliegt, finden sich neben der Telefonnummer seiner Frau und denen seiner drei Brüder und drei ältesten Söhne auch die Nummern mehrerer seiner engen Mitarbeiter, die seines Fahrers, die des Managers seiner Amateurbasketballmannschaft und sogar die seines Kardiologen. Das deutet darauf hin, dass geprüft wurde, ihre Handys mit Pegasus zu überwachen. Insgesamt gerieten mindestens 50 Personen aus seinem Umfeld auf diese Weise ins Blickfeld. Offenbar wollten Konkurrenten belastendes Material über den aufstrebenden Kandidaten sammeln. Der damalige Präsident Peña Nieto durfte zwar nicht wieder kandidieren, weil in Mexiko nur eine einzige, sechsjährige Amtszeit erlaubt ist. Dafür stellte sich aber dessen Finanzminister zur Wahl auf.

López Obrador gewann trotz allem die Präsidentschaftswahl, mit 53,2 Prozent der Stimmen. Seit 1. Dezember 2018 regiert er Mexiko.

Tomás Zerón, der Vertraute des Ex-Präsidenten, der die Pegasus-Verträge unterschrieb und der mutmaßlich Beweise zu den 43 Studenten vernichtete, wird jetzt per Haftbefehl gesucht. Im Dezember wurde bekannt, dass er nach Israel geflohen ist, um Asyl zu beantragen.

Die Familien der verschwundenen 43 Studenten sagen, der neue Präsident Obrador gehe stärker auf ihre Anliegen ein. Zufrieden ist Cristina Bautista aber nicht. Ihr Sohn wurde nie gefunden. Noch immer spricht sie von ihm in der Gegenwartsform: "Mein Sohn ist sehr herzlich und respektvoll", sagte sie Ende Juni mit brüchiger Stimme zu Recherchepartnern der ZEIT. "Wir suchen nach ihm."  


Änderungshinweis: In einer früheren Version hieß es, neben Cristina Bautistas Nummer stünden auch drei weitere Nummern von Familienmitgliedern der verschwundenen 43 Studenten auf der Liste möglicher Überwachungsziele. Tatsächlich konnten aber nur insgesamt drei Familienmitglieder identifiziert werden. Die Stelle wurde geändert.

Dieser Artikel basiert auf Recherchen von Carmen Aristegui und Sebastián Barragán (Aristegui Noticias), Paloma Dupont de Dinechin (Forbidden Stories), Nina Lakhani (Guardian), Lilia Saúl (OCCPR), Mary Beth Sheridan (Washington Post) und Mathieu Tourliere (Proceso).





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