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Ego in der Arbeitswelt: Ein starkes Ich in einem noch stärkeren Wir


Klassische Organisationen sind ein Nährboden für große Egos. Das ist weder für die Menschen gut noch für die Organisation als Ganzes - und am allerwenigsten für die Umwelt. Dabei können wir Menschen eigentlich ganz anders.


In diesem Text geht es um UNS. Rollt den roten Teppich aus! Denn wer etwas darüber lernen will, wie die Zusammenarbeit der Zukunft aussieht, der*die sollte auf unser Team schauen. Wir arbeiten selbstorganisiert und sind dabei extrem effizient. Unser Unternehmen gehört seinen Mitarbeiterinnen und Neue Narrative ist nach nur zwei Jahren ein fester Bestandteil der New-Work-Szene. Kurzum: Wir finden uns richtig gut! So gut, dass sich dieser Artikel nur um uns drehen könnte.

Warum wir das nicht machen? Wir machen Neue Narrative, um mit inspirierenden Geschichten zu zeigen, wie die Wirtschaft lebensdienlicher werden kann. Gerade werden aber oft diejenigen belohnt, die am lautesten ICH schreien, sich selbst am besten darstellen und die Ellenbogen am weitesten ausfahren. Da wollen wir nicht mitmachen. Stattdessen gehen wir der Rolle des Ich in unserer Wirtschaft auf die Spur und überlegen, wie eine Arbeitswelt jenseits großer Egos und spitzer Ellenbogen aussehen kann.

Der Begriff Ego hat seinen Ursprung im Lateinischen und bedeutet übersetzt Ich. Das Ich beschreibt den Menschen mit seiner Fähigkeit, eine Vorstellung von sich selbst zu haben. Die Beschäftigung mit dem Ich-Bewusstsein ist alt: Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben Philosoph*innen und Psycholog*innen und in den letzten Jahren auch Evolutionsbiolog*innen und Hirnforscher*innen versucht, Antworten auf die Fragen „Was ist das Ich?" und „Wo kommt es her?" zu finden. Sie alle kommen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Der rote Faden, welcher sich jedoch durch diverse Forschungen zieht, ist die Wichtigkeit der anderen für das Selbst.

Unser komplexes Selbst existiert nie alleine. Das Ich kann sich nur als solches wahrnehmen, weil es ein Gegenüber gibt, von dem es sich unterscheidet. Erst durch Anrufung und Anerkennung durch andere können wir existieren, wie die US-amerikanische Philosophin Judith Butler schreibt, und sind damit immer aufs Engste mit den anderen verbunden, die wir nicht sind. Durch andere entsteht bei uns ein Verständnis für unser Selbst und wir werden uns unserer Existenz bewusst.

Das Ich war nicht immer so wichtig wie heute. Sprachhistorische Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass das Ich-Bewusstsein sich über Jahrtausende entwickelt hat. Der Mensch und die Art seiner Selbstwahrnehmung haben sich von der Antike über das christliche Mittelalter bis zur Renaissance immer wieder verändert. Mit der Industrialisierung und Demokratisierung wird das Ich zunehmend als autonomes Individuum betrachtet. Durch die ökonomischen und sozialen Veränderungen geriet aber das Bild eines kohärenten und stabilen Ich im 19. Jahrhundert immer mehr ins Wanken: Das Individuum musste sich im Zusammenhang mit der Industrialisierung mehr mit der Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz beschäftigen.

Der daraus folgende Individualismus der spätbürgerlichen Kultur wurde seit den 1970er Jahren abgelöst von einem Singularismus: Der Sozialwissenschaftler Andreas Reckwitz schreibt in seinen Beobachtungen unserer spätmodernen Gesellschaft, dass es aktuell eine starke Singularisierungstendenz gibt. Damit meint er, dass wir nach dem Besonderen streben, was uns von anderen abhebt und dabei trotzdem authentisch wirkt. Heißt: Wir wollen alle einzigartig sein. Das scheint zwar auf den ersten Blick unvereinbar mit der Gemeinschaft, jedoch zeigen Studien, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Ihnen zufolge schreiben vor allem Menschen im Alter von 20 bis Mitte 30 einem selbstbestimmten Leben zwar eine hohe Bedeutung zu, jedoch ist diese dicht gefolgt von dem Wunsch, eine Familie zu gründen und viele Freund*innen zu haben. Individualistische Werte stehen also nicht im Widerspruch zur Gemeinschaft. Im Gegenteil: Sie machen diese notwendiger, da wir Bestätigung und Anerkennung durch andere brauchen, um uns unseres Selbst sicher zu sein.

Dass der Mensch andere für sein Leben braucht, scheint eine klare Sache zu sein. Dennoch funktioniert unsere Wirtschaft mehr und mehr so, als wären wir rein Gewinn maximierende, rational handelnde, egoistische Wesen. Was ist da los? Klassische pyramidale Organisationen sind oft nur Spielfelder für die wenig erfüllenden Bestrebungen unserer Egos. Die eigene Arbeit wird dann anerkannt, wenn sie dem Unternehmen nützt und Profit einbringt. Diese Organisation von Arbeit haben uns Konzerne vorgemacht, die sich schon lange auf dem Markt etabliert haben. In denen sind Mitarbeiter*innen angestellt, um eine spezifische Tätigkeit auszuführen. Das machen sie in der Regel 40 Stunden pro Woche. Alles, was über das eigene Fachgebiet hinausgeht, ist nicht Teil des Jobs. Wer das große Ganze in den Blick nimmt, nicht mehr nur nach Plan arbeitet oder gar die Form der Organisation kritisiert, stört nur den Betrieb.

In solchen Unternehmen verteilen sich viel Entscheidungsmacht und viel Geld auf wenige Köpfe. Damit diese Pyramide fortbestehen kann, müssen in der oberen Etage die Ellenbogen ausgefahren werden, denn: Es gibt nur den Weg nach oben, nach unten - oder raus aus der Organisation. Nach unten ist in der Regel keine Option, in unserer Gesellschaft will niemand absteigen. Weiter oben wird die Luft dünner, eine Pyramide läuft nun mal spitz zu, die Möglichkeiten verknappen sich. Um die eigene Position abzusichern oder aufzusteigen, werden deshalb strategische Allianzen für den Machterhalt und -ausbau geschmiedet - und es wird tunlichst vermieden, sich die Konkurrenz im eigenen Haus großzuziehen. In vielen Unternehmen wird das gespielt, was Lars Vollmer in seinem Buch Zurück an die Arbeit! Business-Theater nennt. Es erzeugt keine Wertschöpfung und hat zum primären Ziel, große Egos zu befriedigen. Menschen werden in der Pyramide zu Einzelkämpfer*innen.

Es lohnt sich, jede*n Einzelne*n und sein*ihr Verhalten unter die Lupe zu nehmen. Aber mindestens genauso erhellend ist es, das System und dessen Regeln zu prüfen, anstatt nur die, die nach ihnen spielen. Seit den Anfängen der Privatisierung, Deregulierung und Entstaatlichung in den 1980er-Jahren bewegen wir uns in Deutschland immer weiter weg von einer sozialen zu einer liberal, neo-amerikanisch geprägten Marktwirtschaft. Der Erfolg dieser Form des Kapitalismus basiert unter anderem auf einem Egoismus, der anderen zum Nachteil ist. Im Zentrum des Gebildes stehen nach wie vor Leistung und Effizienz, um Profit und Wachstum zu generieren - und so schlussendlich die Konkurrenz zu schlagen; sowohl innerhalb als auch außerhalb der Organisation. Es ist ein Wettbewerb auf verschiedenen Ebenen: im Kleinen im Team oder der Abteilung, genauso wie im Großen, auf dem Markt. Dieses System belohnt ein Ich, das auf den individuellen Erfolg fokussiert ist. Es ist damit untrennbar mit dem Egoismus von Individuen verbunden.

Otto Scharmer, Professor am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, nennt das ein Ego-System, das seine Aktionäre befriedigen will und nur auf individuelles Wohlergehen aus ist. Doch wir merken immer mehr: Innerhalb dieses Systems gibt es Probleme, die mit den vorherrschenden Denkmustern nicht gelöst werden können. Scharmer stellt dem Ego-System das Eco-System entgegen, in dem jede*r sich für das Wohlbefinden der Gesellschaft verantwortlich fühlt und Menschen füreinander und die Umwelt sorgen. Notwendig sei laut Scharmer für diese Veränderung eine Öffnung des Denkens, des Fühlens und des Willens. Er fordert Strukturen, die das Gemeinsame in den Vordergrund stellen. Die Welt brauche ein neues Bewusstsein, um von einem Ego-System zu einem Eco-System zu gelangen.

Der Mensch ist von Natur aus weder nur egoistisch veranlagt noch per se konkurrenzorientiert. Doch er bewegt sich in Organisationen, in denen der Einsatz von Ellenbogen belohnt wird.

Doch wer sich heute in der eigenen, pyramidalen Organisation für den Abbau starrer Hierarchien stark macht - auch oder gerade wenn sie zum eigenen Machtverlust führen -, ist in diesem System ein Fremdkörper. Vielleicht fragen sich Kolleg*innen: Warum tut sie*er das? Welche Strategie steckt dahinter? Wir gehen davon aus, dass das Gegenüber kalkuliert zum eigenen Vorteil handelt. Doch Menschen streben nach mehr als der Verbesserung ihrer eigenen Position. Sie haben Gefühle und Werte, sind empathisch mit anderen und auf der Suche nach Sinn und Anerkennung. Der Homo oeconomicus ist längst von der Neurobiologie und der Hirnforschung als Mythos entlarvt worden. Der Mensch ist von Natur aus weder nur egoistisch veranlagt noch per se konkurrenzorientiert. Doch er bewegt sich in Organisationen, in denen der Einsatz von Ellenbogen belohnt wird.

Selbst wenn wir versuchen, uns anders zu verhalten, leben wir immer noch in einer Gesellschaft, in der pyramidale Organisationen nun mal das dominante Ordnungsprinzip sind. Viele sind dementsprechend abhängig davon, in solchen Strukturen zu funktionieren. Vor allem Privilegierte, also die weiter oben in der Pyramide, könnten es sich leisten, diese Organisationsprinzipien zu hinterfragen und die Organisation grundlegend zu verändern; das tun sie aber oft nicht, eben weil es für sie im aktuellen System auch recht gut läuft.

Das hier ist kein Plädoyer dafür, das Ich aufzugeben. Auch in der Organisation der Zukunft spielt das Ich eine zentrale Rolle. Denn Ich und Wir stehen nicht per se im Widerspruch zueinander, sondern bedingen sich. Ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein sind sogar die Voraussetzung für unsere eigene Handlungsfähigkeit. Eine Zugewandtheit zu sich selbst muss nicht mit der Aufmerksamkeit für andere konkurrieren. Vielmehr ist sie die Grundlage dafür, die Gemeinschaft in den Blick zu nehmen und andere Menschen wertschätzen zu können. Wer sich und anderen nichts beweisen muss, weil er*sie zufrieden mit sich selbst ist, kann auch besser mal den Ball abgeben und einen Vertrauensvorschuss gewähren. Denn: Egoismus steckt an, Vertrauen aber auch.

Wir müssen also dafür sorgen, dass große Ellenbogen-Egos in unseren Büros schief angeschaut werden und keine Anerkennung für ihr Machtstreben bekommen. Dazu gehört auch, genau hinzuschauen, wenn irgendwo von einer grandiosen Einzelleistung die Rede ist - steht doch hinter jedem beruflich erfolgreichen Mann eine fleißige Frau und hinter jedem Firmenchef ein starkes Team -, und dem Ellenbogen-Ego gemeinsam zu begegnen, in uns selbst genauso wie im Team oder der Abteilung. Die, die in der Pyramide ganz oben thronen, müssen auch mal am eigenen Stuhl sägen. Erst dadurch können Strukturen entstehen, die das lange gelernte Ellenbogen-Ego ausbremsen. Zum Beispiel kann in Meetings darauf geachtet werden, ob gerade jemand mit seinem aufgeplusterten Ego andere in den Schatten zu stellen versucht und ob alle wirklich in etwa gleich viel zu Wort kommen und die Unterschiede vor allem mit fachlicher Expertise zu tun haben. Dafür braucht es Moderationsformate, durch welche auch die leisen Ichs ihre Ideen einbringen können. Es braucht ein Miteinander, durch das Menschen sich sicher fühlen, die Ecken, Kanten und Brüche ihres Ichs nicht verstecken zu müssen und sich verletzlich zeigen zu können.

Dafür müssen wir auch am System selbst ansetzen: an der Organisation, am Rahmen, in dem sich Menschen, die miteinander arbeiten, bewegen. Wir brauchen Strukturen, die die Entwicklung des Selbst ermöglichen und fördern, aber auch eine klare wertebasierte Kollektivität herstellen. Wir müssen nicht das Ego abschaffen, sondern eine reflektierte Bedeutung des Begriffs kultivieren: ein neues Narrativ für das Ego. Selbstverantwortlich handeln zu können, ist eine zentrale Eigenschaft, damit Selbstorganisation überhaupt funktionieren kann, und setzt voraus, sich über sich selbst im Klaren zu sein. Sich selbst immer besser verstehen zu lernen, ist eine lebenslange Aufgabe. In einer zukunftsfähigen Organisation ist diese fortwährende Selbstreflexion notwendig, um miteinander zu arbeiten. Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Es ist wichtig, diese Unterschiede wahrzunehmen, sie zu respektieren und auf sie einzugehen. Denn das beste Wir besteht aus Ichs, die mit dem nötigen Abstand auf sich selbst blicken, über ihre eigenen Bedürfnisse sprechen und auch die der anderen zulassen können. Nur wer sich selbst kennt und annimmt, kann sich gut in Beziehung zu anderen setzen. Dafür ist das Ich zentral, ein Ich, das sich weder negiert noch überhöht, sondern gut bei sich ist und genau deswegen auch gut für andere sein kann.

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