Leidy Bacallao ist am Abend des 3. Februar 2023, ein Freitag, mit einigen Freund*innen in der kubanischen Stadt Camalote auf einer Party. Dort taucht der viel ältere Ex-Freund der 17-Jährigen auf und bedroht sie lautstark. Leidy flieht zur nächsten Polizeistation. Ihr Peiniger läuft ihr mit einer Machete in der Hand hinterher. Sie bittet die Beamten um Hilfe. Er zerrt sie aus der Polizeistation auf die Straße. Vor den Augen der Polizist*innen verletzt er Leidy Bacallao mit mehreren Hieben so schwer, dass sie noch in der Nacht an den Folgen der Verletzung stirbt. Niemand hat rechtzeitig eingegriffen.
Einen Tag später und 500 Kilometer östlich, in Havanna, erfahre ich von dem schrecklichen Vorfall. Die sozialen Medien überschlagen sich, zumindest soweit das in einem Land möglich ist, in dem es erst seit ein paar Jahren mobile Daten und somit einen leichteren Zugang zum Internet gibt. Unter dem Text ist das Bild eines jungen Mädchens mit feinen Gesichtszügen und blond gefärbtem Haar gepostet. Sie lächelt fast ein bisschen schüchtern in die Kamera. Der Femizid an Leidy Bacallao löst Empörung in aus.
Später stellt sich heraus, dass ihre Eltern den 50-Jährigen schon wegen Pädophilie angezeigt hatten und er vorbestraft war.
In den ersten elf Wochen dieses Jahres soll es in Kuba laut der Organisation Cubalex zu 19 Femiziden gekommen sein.
Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Aktivistinnen können ihre Statistiken lediglich mithilfe von Angehörigen und unabhängigen Journalistinnen erheben, die selbst recherchierte Fakten abseits von regierungsnahen Medien publizieren, während die kubanische Regierung versucht, die offiziellen Gewaltzahlen im eigenen Land durch Vertuschung zu minimieren. Doch seit der Zugang zum Internet einfacher geworden ist, gelingt das immer schlechter.
Linda Peikert
hat Allgemeine Rhetorik, Spanisch und Kulturjournalismus studiert. Sie arbeitet als freie Text- und Radioautorin aus dem In- und Ausland. Vor allem beschäftigt sie sich mit Feminismus, sozialer Gerechtigkeit und internationalen Krisen und Konflikten.
"In Kuba wird erst seit letztem Jahr über die Femizide gesprochen, allein die sozialen Medien haben das möglich gemacht", sagt Beatriz. Ich treffe sie am Montag nach Leidys Tod. Eigentlich heißt Beatriz anders, aber sie möchte aus Angst vor staatlichen Repressionen nicht mit Klarnamen genannt werden. "Glaubt man unserer Regierung, ist hier alles perfekt. In Kuba passiere nichts Schlimmes, doch das ist gelogen", sagt Alejandra, eine Freundin von Beatriz. Auch ihren Namen habe ich geändert. Die beiden etwa dreißigjährigen Frauen sitzen mir gegenüber auf einem buntgemusterten Sofa in einer Erdgeschosswohnung abseits der touristischen Hotspots der kubanischen Hauptstadt. Lange sei ihnen nicht bewusst gewesen, wie viel Gewalt es gegen Frauen in Kuba gebe. Wie auch? Die offiziellen Medien sind in staatlicher Hand. "Das Internet und Smartphones sind für uns eine Art Tor zur Welt", sagt Alejandra. "Früher hatten wir weniger Angst. Aber nur, weil wir nicht mitbekommen haben, was Frauen alles Schlimmes passieren kann. Das war von der Politik bestimmt so gewollt."
Auch Beatriz und Alejandra haben den Femizid an Leidy über die sozialen Medien mitbekommen. "Ich verstehe einfach nicht, wie so was direkt vor einer Polizeistation passieren kann", Beatriz' Stimmlage klingt energisch und resigniert zugleich. Mit der kubanischen Revolution habe sich die Situation der Frauen etwas verbessert, sagt sie. 1960 wurde die Federación de Mujeres Cubanas gegründet. Eine staatliche Organisation zur Gleichstellung und Emanzipierung der Kubanerinnen. "Aber ich sehe da keine Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung." Während der Pandemie sei sie allerdings auf die feministische Gruppe Yo Sí Te Creo gestoßen. Auf Deutsch übersetzt heißt das: Ja, ich glaube dir. Die Aktivistinnen setzen sich gegen psychische, sexuelle und physische Gewalt gegen Frauen ein. Auch diese Art der feministischen Arbeit konnte erst durch den leichteren Zugang zum Internet die breite Masse erreichen.
Infobox 10 nach 8
Abends um 10 nach 8 wird Abseitiges relevant, Etabliertes hinterfragt und Unsichtbares offenbart.
Wir sind ein vielseitiges Autorinnenkollektiv. Wir schreiben selbst und suchen nach Texten, die neue Welten erschließen oder altbekannte in neuem Licht erscheinen lassen. Wir laden Schriftstellerinnen, Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen, aber auch Expertinnen spezieller Fachgebiete ein, mit und für uns zu schreiben; bei uns kommen Gastautorinnen zu Wort, die in ihren Ländern nicht mehr publizieren dürfen oder aus deren Ländern gerade kaum berichtet wird. Wir sind neugierig auf neue Sichtweisen, neue Erzählungen, Text für Text, bei uns, zweimal pro Woche, immer um 10 nach 8.
Hier finden Sie alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen.
Die Redaktion von 10 nach 8 besteht aus:
Marion Detjen, Zeithistorikerin Hella Dietz, Soziologin, Familien- und Organisationsberaterin Heike-Melba Fendel, Autorin und Agenturchefin Annett Gröschner, freie Autorin Mascha Jacobs, Journalistin, Mitherausgeberin der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik Caroline Kraft, freie Autorin Stefanie Lohaus, Leiterin Kommunikation EAF Berlin und Herausgeberin des Missy Magazines Lina Muzur, Verlagsleiterin des Hanser Berlin Verlags Catherine Newmark, Kulturjournalistin Annika Reich, Schriftstellerin und Aktivistin Elisabeth Wellershaus, Journalistin
Seit dem Femizid an Leidy gibt es verstärkt unabhängigere Recherchen: Das oppositionelle Onlinemagazin El Estornudo hat zahlreiche Zeuginnenaussagen gegen den Sänger Fernando Bécquer gesammelt. Der Vorwurf: sexueller Missbrauch. Wegen seiner Parteinähe galt für viele eine Anzeige gegen Bécquer als aussichtslos. "Ich war eine der Frauen, die ihn angezeigt haben", sagt Beatriz. "Dieser Mann hat versucht, sich unter dem Mantel der Revolution und des Patriarchats zu verstecken, aber nicht mit uns." Den Schmerz dessen, was er ihr angetan hat, lindert das nicht. Aber es gebe ihr Hoffnung, dass sich Vergewaltiger in Zukunft nicht mehr in Sicherheit wiegen könnten. Bécquer wurde inzwischen zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Aber auch wenn das Internet zu mehr Transparenz führt und es durch bessere Vernetzung sogar zu einer Verurteilung kommen konnte, sind die beiden Freundinnen wegen der Gesamtsituation in Kuba resigniert. "Ich habe keine Motivation mehr, in diesem Land etwas zu verändern und die Kraft aufzubringen, mich in einer feministischen Gruppe zu organisieren", sagt Alejandra. "Ich konzentriere mich darauf, schnellstmöglich das Land zu verlassen."
Während meines Aufenthalts in Kuba habe ich diesen Satz oft gehört. In allen Regionen, in denen ich unterwegs war, erzählten mir vor allem die Unter-Vierzigjährigen, dass sie aus dem Land weggehen möchten. Ihre Großeltern hätten die Revolution bejaht, von ihr profitiert, während ihre Eltern von einer Krise in die nächste gerutscht seien, immer in dem Glauben, dass sich die Lage stabilisieren werde. Ihre Generation habe nun keine Hoffnung mehr.